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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:147–155.

ANDREAS SCHMIDT-SCHWEIZER

Zwölf Thesen zum politischen Systemwechsel in Ungarn

 

Der politische und ökonomische Transformationsprozess in Ungarn Ende der achtziger Jahre, d.h. der Übergang von der paternalistischen Einparteienherrschaft und dirigistischen Planwirtschaft des Kádárismus zu einer auf den Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Marktwirtschaft begründeten Demokratie, ist zweifellos als das zentrale, auch europaweit folgenreiche Ereignis der jüngsten ungarischen Zeitgeschichte zu bewerten. Seine epochale Bedeutung kann mit den Geschehnissen der Jahre von 1945 bis 1949 verglichen werden, als im Zuge der „Volksdemokratisierung” Ungarns ein Systemwechsel mit „umgekehrten Vorzeichen” erfolgt war. Während die „ungarische Revolution” von 1988/1989 bereits in zahllosen journalistischen Darstellungen, politischen Broschüren und populärwissenschaftlichen Werken „aufgearbeitet” worden ist, steckt die geschichts- und geisteswissenschaftliche Forschung zum Systemwechsel gegenwärtig noch in den Anfängen. Die folgenden zwölf Thesen, die die Ergebnisse meiner historischen Untersuchung zur politischen Wende in Ungarn in den Jahren von 1986 bis 1989 zusammenfassen (Andreas Schmidt-Schweizer, Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation in Ungarn. Politische Veränderungsbestrebungen innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) von 1986 bis 1989, Frankfurt a.M./ Bern/ Wien 2000.), setzen sich deutlich von den gegenwärtig vertretenen „Gemeinplätzen” über den ungarischen Systemwechsel ab und stehen insbesondere seiner Charakterisierung als „verhandelte Revolution” (z.B. bei László Bruszt, Rudolf Tőkés und Mihály Bihari) gegenüber. Sie sind nicht zuletzt dazu gedacht, eine konstruktive, internationale und empirisch fundierte wissenschaftliche Diskussion über die Wende in Ungarn und Ostmitteleuropa anzuregen.

 

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Während die ideologische und sozioökonomische Krise als Hintergrund für den Zusammenbruch des Kádárismus in der Literatur bereits häufig thematisiert wurde, blieb die Frage nach den unmittelbaren Auslösern der politischen Wandlungsprozesse in Ungarn sowie nach dem konkreten Zusammenhang von wirtschaftlichen und politischen Veränderungen bisher unbeantwortet. Meinen Erkenntnissen gemäß ist der Beginn des politischen Veränderungsprozesses auf das engste mit den Notwendigkeiten der ökonomischen Krisenbekämpfung und des Übergangs vom Plan- zum Marktmechanismus verknüpft. Die unter der Federführung von Miklós Németh 1986/1987 eingeleitete Wende in der Wirtschaftspolitik zielte nämlich nicht nur darauf ab, die Wirtschaft – mit ökonomischen Instrumentarien – zu sanieren und eine „regulierte Marktwirtschaft” zu etablieren, sondern sah überdies auch vor, die – unter János Kádár erfolgreich und nachhaltig entpolitisierte – Bevölkerung politisch zu remobilisieren. Hinter diesem Ziel verbarg sich die Erkenntnis, dass die wirtschaftspolitische Wende nur unter aktiver Beteiligung der mit erweiterten ökonomischen und politischen Rechten ausgestatteten Bevölkerung sowie unter offener Artikulation der verschiedenen sozialen Interessen zu verwirklichen war. Daneben strebte die Führung politische Reformen auch deshalb an, weil sie damit die Bevölkerung für die materiellen Einschränkungen, die bei der Implementierung der neuen Wirtschaftspolitik unvermeidbar waren, zu „entschädigen” suchte.

 

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Hinsichtlich der MSZMP-Landeskonferenz vom Mai 1988 begnügt sich die Forschung zumeist damit, dieses Ereignis als Endpunkt der Ära Kádár und als Geburtsstunde des sogenannten „sozialistischen Pluralismus” zu charakterisieren. Die Vorgeschichte der Konferenz wurde bisher lediglich unter dem Aspekt der parteiinternen Machtkämpfe beleuchtet, die bedeutsamen politisch-ideologischen Entwicklungen innerhalb der MSZMP blieben aber im Dunkeln. Wie ich aufzeigen kann, ist die Konzeption des sozialistischen Pluralismus, mit der die Repolitisierung der ungarischen Bevölkerung eingeleitet werden sollte, im Zuge eines harten parteiinternen Ringens – ohne maßgebliche äußere Einwirkungen – bereits in den ersten Monaten des Jahres 1988 entstanden. Den „Jungtürken” in der Parteiführung, d.h. Károly Grósz, Miklós Németh, Imre Pozsgay und Rezső Nyers, gelang es dabei, unterstützt von der seit 1956 erstmals wieder „rebellierenden” Parteibasis und den Massenorganisationen, weitestgehende politische Veränderungen im Rahmen des Einparteiensystems – gegen den Widerstand János Kádárs und seiner „Alten Garde” – durchzusetzen. Im Sinne einer begrenzten Machtteilung, die letztlich der Stabilisierung der Parteiherrschaft dienen sollte, zielte der sozialistische Pluralismus darauf ab, mittels der Liberalisierung des Wahlrechts, der Gewährung des Versammlungs- und Vereinigungsrechts, der Regelung der Kompetenzen der Partei und der Institutionalisierung der Volksabstimmung die Möglichkeiten der Bürger zur politischen Partizipation auszuweiten. Auf Druck „von innen”, also aus der Partei heraus, wurden so politische Reformen auf die Tagesordnung gesetzt, die allerdings – entgegen dem Ziel ihrer Initiatoren – bereits die „Keime” für den späteren Systemwechsel beinhalteten.

 

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Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte des sozialistischen Pluralismus gilt es ebenfalls, Forschungslücken zu schließen. In der Literatur wird zwar allgemein auf den Pluralisierungsprozess in den Jahren 1988 und 1989 hingewiesen, der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Politik der MSZMP-Führung und dem gesellschaftlichen Wandel wird aber nicht näher untersucht. Wie ich herausgearbeitet habe, setzte der Pluralisierungsprozess in Ungarn erst ein, nachdem innerhalb der MSZMP der Beschluss gefasst worden war, den ökonomischen Wandel durch politische Reformen zu unterstützen. Insbesondere die MSZMP-internen Bestrebungen, die Parteiherrschaft mittels eines sogenannten Parteigesetzes zu lockern und ein Vereinigungs- und Versammlungsgesetz zu erlassen, führte im Frühjahr 1988 zu einer ersten Pluralisierungswelle. Eine zweite Welle setzte im Sommer 1988 ein, nach der Entmachtung des Kádár-Zirkels und der offiziellen Verabschiedung des sozialistischen Pluralismus. Die dritte und heftigste Welle, die durch die Gründung bzw. Reaktivierung von Parteien mit bürgerlichen Zielsetzungen (Stichwort Mehrparteiensystem) seit Herbst 1988 gekennzeichnet ist, erhielt ihren entscheidenden Impuls durch die passive und widersprüchliche Haltung der Machthaber. Diese ließen nämlich einerseits nicht von der Idee des sozialistischen Pluralismus ab, andererseits konnten sie sich aber auch zu keinem massiven polizeistaatlichen Vorgehen gegen die Oppositionsbewegungen durchringen. Letzteres kann zum einen auf die (damalige) zahlenmäßige, organisatorische und programmatische Schwäche der Opposition sowie zum anderen auf die Befürchtung der Machthaber zurückgeführt werden, dass eine Gewaltanwendung in größerem Maßstab die unverzichtbare Wirtschaftskooperation mit dem Westen empfindlich stören und eine Gewaltanwendung – aufgrund der nicht mehr gewährleisteten militärischen „Rückendeckung” aus Moskau – langfristig mit unabsehbaren Folgen einhergehen würde.

 

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Nicht angemessen aufgearbeitet wurde auch die Frage, wann und aus welchen Gründen sich eine Gruppe von MSZMP-Politikern um Imre Pozsgay, Miklós Németh und Rezső Nyers dazu entschied, vom sozialistischen Pluralismus abzulassen und gegen den Widerstand der konservativen Kräfte innerhalb der Partei die Transformation des politischen Systems aktiv zu betreiben. Entgegen Behauptungen, dass die Perspektive des Systemwechsels innerparteilich bereits Mitte der achtziger Jahre aufgetaucht sei, lässt sich eine derartige Absicht aus den Quellen nicht belegen. Vielmehr bekräftigten Pozsgay, Németh, Nyers und ihre Anhänger von Frühjahr bis Herbst 1988 ihre Verpflichtung gegenüber der Idee des sozialistischen Pluralismus. Erst im November 1988 begann sich diese Gruppe, die ich ab diesem Zeitpunkt Transformer nenne, nachweislich für den politischen Systemwechsel einzusetzen. Den Anstoß hierzu gab zweifellos die Erkenntnis, dass das Einparteiensystem nicht mittels Reformen zu stabilisieren war, die „Zeichen der Zeit” langfristig in Richtung einer demokratischen Ordnung wiesen und eine Gewaltanwendung zur Durchsetzung der „sozialistischen Schranken” nicht mehr zu vertreten war, sowie die Überzeugung, dass eine – zumindest teilweise – Wahrung der politischen und ökonomischen Macht und des gesellschaftlichen Status in der neuen Ordnung – nicht zuletzt auch wegen der Schwäche der Opposition – auch langfristig eine gute Chance auf Erfolg haben würde.

 

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Von jenen (genannten) Politikwissenschaftlern, die den Systemwechsel als „verhandelte Revolution” bezeichnen, wird die Tatsache völlig übergangen, dass die Transformer innerhalb der MSZMP – trotz parteiinterner Widerstände der Kräfte um Generalsekretär Károly Grósz – bereits in den ersten drei Monaten des Jahres 1989 mehrere politische Grundsatzentscheidungen zur Transformation „von innen” auf Partei- und Staatsebene erwirken konnten. So setzten sie vor allem die Annahme der – demokratischen Maßstäben entsprechenden – Gesetze zum Vereinigungs- und Versammlungsrecht durch und führten die grundsätzliche Entscheidung zugunsten eines kompetitiven Mehrparteiensystems herbei. Überdies erkämpften die parteiinternen Transformer – mit der Verabschiedung der Prinzipien für eine neue Verfassung im März 1989 – einen radikalen Bruch mit den Grundprinzipien des Realsozialismus und vollzogen den entscheidenden Schritt in Richtung einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsordnung. Die Grundsatzentscheidungen zur Transformation des politischen Systems waren also zwischen November 1988 und März 1989 auf der Partei- und Staatsebene, ohne unmittelbaren Druck „von außen”, gefallen. Somit kann bereits hier von der ersten Phase der politischen Systemtransformation gesprochen werden.

 

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Ebenso wenig wie diese Grundsatzentscheidungen wurden bisher auch die politischen Maßnahmen auf der Partei- und Staatsebene in der zweiten Phase des Systemwechsels (März 1989 bis September 1989) in ihrer Bedeutung gewürdigt. Hinsichtlich dieses Zeitabschnitts konzentrieren sich insbesondere die Vertreter der Verhandlungsthese auf die Ereignisse am Nationalen Runden Tisch. Die bedeutenden politischen Schritte, die damals insbesondere von der Németh-Regierung unternommen bzw. vorbereitet wurden, finden keine Beachtung. Tatsache ist aber, dass die Transformer den Parteistaat weiter abbauten und Maßnahmen zur praktischen Verwirklichung einer parlamentarischen Demokratie ergriffen. So schafften sie die Kaderkompetenzen ab und unternahmen damit den entscheidenden Schritt zur Trennung von Partei und Staat bzw. zur Liquidierung des Parteistaates. Außerdem führten sie mittels der Institutionalisierung des Misstrauensvotums die – für ein parlamentarisches Regierungssystem grundlegende – Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament herbei. Parallel dazu betrieben sie in der Wirtschaftspolitik den konsequenten Übergang zur Marktwirtschaft und unternahmen auch in der Sozial-, Außen-, Kultur- und Bildungspolitik Schritte, ohne die die Verwirklichung eines demokratischen Rechtsstaates nicht vorstellbar gewesen wäre (Neuorientierung der Außenpolitik, Entideologisierung der Kultur- und Bildungspolitik). Überdies bereitete die Regierung Gesetzentwürfe (Parteiengesetz, Wahlgesetz, Gesetz zum Verfassungsgericht usw.) vor, die – auch wenn sie vorteilhafte „technische” Regelungen für den Machterhalt der Transformer enthielten – ganz den Ansprüchen eines demokratischen Rechtsstaates genügten.

 

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Aufgrund dieser Entscheidungen und Maßnahmen zur Transformation „von innen” konnte den Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch von Juni bis September 1989 nicht mehr die – wie es die Bezeichnung als „verhandelte Revolution” suggeriert – zentrale Bedeutung für den Systemwechsel zukommen. Bei den Ausgleichsgesprächen ging es lediglich um die Klärung einzelner Fragen des politischen Übergangs sowie um Vereinbarungen über Detailaspekte der konkreten Ausgestaltung der parlamentarischen Ordnung. Diese beschränkte Rolle der Ausgleichsgespräche rechtfertigt es nicht, den politischen Transformationsprozess als „verhandelt” oder „ausgehandelt” zu bezeichnen. Die Verhandlungsthese hinkt überdies auch deswegen, weil in mehreren Fragen, so z.B. bezüglich des Vermögens der Staatspartei, der Lokalität der Parteiverbände oder des Wahlmodus für den Staatspräsidenten, keine allgemein akzeptierten Regelungen vereinbart werden konnten.

 

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Kaum beachtet wurde bisher auch die Bedeutung derjenigen Maßnahmen, die auf der Partei- und Staatsebene zur institutionellen Absicherung des Transformationsprozesses getroffen wurden. So vollzogen die MSZMP-Transformer mit der Auflösung ihrer Partei und mit der Gründung der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) im Oktober 1989 einen radikalen organisatorischen Bruch. Die neue Sozialistische Partei fügte sich sowohl im Hinblick auf ihre Organisation als auch auf ihre – wenn auch teils noch unausgegorenen – Zielsetzungen problemlos in die neuen politischen Rahmenbedingungen ein und konnte so zu einem wesentlichen Bestandteil der transformierten politischen Ordnung werden. Auf der staatlichen Ebene legten die Németh-Regierung und das Parlament mit der Übergangsverfassung und den begleitenden Eckgesetzen – im Sinne der Ergebnisse der Ausgleichsgespräche – die staatsrechtlichen Grundlagen der parlamentarischen Demokratie und der Marktwirtschaft. Die Tatsache, dass es zwischen den von der MSZMP-Führung, der Regierung und dem Parlament bereits im Februar/März 1989 angenommenen Verfassungsprinzipien und der Übergangsverfassung vom Oktober 1989 keine wesentlichen, den Charakter der politischen und wirtschaftlichen Ordnung betreffenden Unterschiede gibt, belegt nochmals, welche zweitrangige Rolle die Verhandlungen am Nationalen Runden Tisch im Prozess des politischen Systemwechsels spielten.

 

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Aufgrund der Vernachlässigung der Rolle der MSZMP im Systemwechsel ist es nicht verwunderlich, dass bisher auch die spezifische Rolle, die die einzelnen Gruppen von parteiinternen Transformern gespielt haben, nicht aufgearbeitet wurde. Unter den Akteuren im sogenannten „Reformlager” der MSZMP kam – wie gezeigt – den „Reformpolitikern” in der Parteiführung die Hauptrolle zu. Nicht vernachlässigt werden dürfen aber auch die sogenannten „Reformintellektuellen” in den Budapester Universitäten und Forschungsinstitutionen sowie die „Reformzirkel” an der Parteibasis. Während die MSZMP-„Reformpolitiker” aus ihrer Machtposition heraus die Grundsatzentscheidungen zugunsten des Systemwechsels initiierten und durchsetzten, entwickelten die MSZMP- „Reformintellektuellen” Konzeptionen für den politischen Übergang. In diesem Zusammenhang sei auf das Modell der Präsidiallösung verwiesen, das István Schlett für Imre Pozsgay „maßschneiderte”, oder auf das von Mihály Bihari zusammengestellte Demokratiepaket. Politische Bedeutung erlangten die „Reformintellektuellen” außerdem, als sie von Frühjahr bis Herbst 1989 offen die innenpolitischen Zielsetzungen der „Reformpolitiker” in der Öffentlichkeit „untermauerten” und damit deren parteiinternen Durchbruch ideell förderten. Überdies waren sie maßgeblich an den politisch-konzeptionellen Arbeiten im Vorfeld des MSZP-Gründungskongresses im Oktober 1989 beteiligt bzw. an der Bildung der neuen, demokratiekonformen Sozialistischen Partei. Die dritte Gruppe, die „Reformzirkel” entzogen den konservativen Kräften in der MSZMP durch ihre Aktivitäten zwischen Frühjahr und Herbst 1989 allmählich den politischen Rückhalt an der Parteibasis. Damit trugen sie in entscheidender Weise zur Durchsetzung der Transformer an der Parteispitze bei. Darüber hinaus betrieben sie die innere Demontage der Staatspartei und machten so die Gründung der MSZP möglich.

 

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Aufgrund der zentralen Rolle, die das „Reformlager” der MSZMP im Prozess des Systemwechsels spielte, konnte den Akteuren außerhalb der Partei, also der Öffentlichkeit und der Opposition, während der Umbruchphase – bestenfalls – eine zweitrangige politische Bedeutung zukommen. Im Gegensatz zu Polen, wo es unter der Führung der illegalen Gewerkschaft „Solidarität” bereits im Sommer 1987 zu machtvollen Massenmobilisierungen in Form von Streiks und Demonstrationen kam, nahm die passive ungarische Bevölkerung und die – folglich – schwache, im wesentlichen auf Budapester Intellektuelle beschränkte Opposition in den Jahren 1986 bis 1988 keinen nachweisbaren Einfluss auf den politischen Wandlungsprozess. Die Bildung oppositioneller Gruppierungen signalisierte zwar einen dynamischen Pluralisierungsprozess in Ungarn sowie das Verlangen nach bürgerlichen politischen Alternativen. Diese innenpolitische Entwicklung führte aber nicht zur Bildung einer geeinten, über eine Massenbasis in der Bevölkerung verfügenden Oppositionsbewegung, die – wie die polnische „Solidarität” – unmittelbar Druck auf die Entscheidungsträger hätte ausüben können. Die ungarischen oppositionellen Organisationen, die nur selten über mehrere tausend Mitglieder verfügten, begannen erst Mitte März 1989, nachdem die parteiinternen Transformer die grundsätzlichen Entscheidungen zugunsten des Systemwechsels getroffen hatten, sich politisch zusammenzuschließen und mit gemeinsamen Positionen gegenüber den Machthabern aufzutreten (Oppositioneller Runder Tisch). Diese oppositionsinterne Entwicklung, die wachsenden Sympathien der Bevölkerung für die Opposition sowie der – mit der Politik der Transformation „von innen” – verbundene Zwang für die MSZMP-Transformer, die Opposition – früher oder später – in die politischen Entscheidungen einzubeziehen, ließen die oppositionellen Organisationen Mitte 1989 erstmals zu einem innenpolitischen Faktor werden. Bei den Ausgleichsgesprächen am Nationalen Runden Tisch konnte die vereinigte Opposition so von Juni bis September 1989 ihre politischen Vorstellungen – neben den Machthabern – in den politischen Entscheidungsprozess einbringen.

 

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In der Literatur zum Systemwechsel finden sich zwar einzelne Hinweise auf internationale Faktoren und insbesondere auf die Bedeutung des von Gorbatschow geschaffenen Freiraumes für den radikalen Wandel in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, eine eingehendere Analyse unterblieb aber. Wie ich aufzeigen kann, gaben die wirtschaftliche Wende und die politischen Reformen der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow bis zum Frühjahr 1988 beschleunigende Impulse auf den Veränderungsprozess in Ungarn. So folgte die ungarische Führung unter Kádár dem Moskauer Kurs – wenn auch zögerlich – beim Übergang von der Plan- zur Marktkoordination der Wirtschaft und bei der Demokratisierung des Einparteiensystems. Nach der Ablösung Kádárs durch Károly Grósz kann im Zeichen des „sozialistischen Pluralismus” und der „sozialistischen Marktwirtschaft” ein weitgehender „Gleichschritt” mit Moskau festgestellt werden. Ende 1988/Anfang 1989 trat dann eine grundlegende Änderung in der ungarischen Politik ein. Im Gegensatz zur sowjetischen Führung, die auch 1989 an der Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums sowie am Einparteiensystem festhielt, gingen die Maßnahmen der ungarischen Politiker hinsichtlich des politischen Systems und der Eigentumsordnung in den ersten drei Monaten des Jahres 1989 bereits wesentlich darüber hinaus. Wie sehr die politische Initiative nun an die ungarische Führung gegangen war, zeigte sich insbesondere auch an ihrer Entscheidung zum Abbau des „Eisernen Vorhangs” im Frühjahr 1989, bei der Öffnung der Westgrenze für die DDR-Bürger (September 1989), bei der Verabschiedung der Übergangsverfassung sowie bei der Proklamation der „Republik Ungarn” (Oktober 1989).

Wie die Veränderungen in der Sowjetunion, so blieben auch die Ereignisse in Polen nicht ohne Wirkung auf die Politik in der Spätphase des Kádárismus. Die in Polen unter dem unmittelbaren Druck der Opposition und der Bevölkerung Ende 1987/Anfang 1988 eingeleiteten politischen Reformen („sozialistische parlamentarische Demokratie”) erleichterten zweifellos die Bemühungen MSZMP-”Reformpolitiker”, umfassende politische Reformen einzuleiten. Ebenso – mittelbar – wirkte sich auch die Tatsache aus, dass sich die Herrschenden in Polen aufgrund einer anhaltenden Welle von Streiks und Demonstrationen seit Sommer 1988 gezwungen sahen, in Verhandlungen mit der Führung der „Solidarität” zu treten und schließlich, bei Verhandlungen am Runden Tisch im Frühjahr 1989, eine Machtteilung mit der Opposition zu vereinbaren. Diese Ereignisse veranlassten einerseits die schwache ungarische Opposition zu einem selbstbewussteren Auftreten gegenüber den Machthabern. Andererseits förderten sie die de facto Anerkennung der Existenz der ungarischen Opposition, den Gedanken der MSZMP-Führung an eine Machtteilung und die Akzeptanz der vereinigten Opposition als gleichberechtigter Verhandlungspartner. Auf eine unmittelbare Einwirkung der polnischen Ereignisse auf den ungarischen Systemwechsel, z. B. als Ergebnis intensiver Konsultationen der Budapester Führung mit Warschau, kann aus den Quellen nicht geschlossen werden. Im Frühjahr 1989 „überflügelte” die Budapester Führung schließlich sogar die polnischen Politiker mit den prinzipiellen Entscheidungen zugunsten eines kompetitiven Mehrparteiensystem, einer parlamentarischen Demokratie und freier Parlamentswahlen für das Frühjahr 1990.

Bezüglich des Einflusses der westlichen Welt, insbesondere derjenigen Institutionen, die Gläubiger des hochverschuldeten Ungarn bildeten (Weltbank, Internationaler Währungsfond), auf die innenpolitischen Entwicklungen können keine Versuche belegt werden, direkt in die ungarische Politik einzugreifen. Der Westen spielte allerdings insofern eine bedeutende mittelbare Rolle, als die auf Finanzhilfe und Wirtschaftskooperation angewiesene ungarische Führung sich keine massive Gewaltanwendung gegenüber der Opposition mehr „leisten” konnte. Hinsichtlich der ungarischen Entscheidung, prinzipiell ein Mehrparteiensystem zu akzeptieren, kann eine mittelbare Einflussnahme in einem konkreten Fall nachgewiesen werden. So wartete der Internationale Währungsfond die ZK-Entscheidung zum Mehrparteiensystem ab, bevor er über die Gewährung eines neuen Kredits abstimmte und strebte damit zweifellos eine Beschleunigung des Transformationsprozesses an.

 

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Zusammenfassend stelle ich fest, dass es sich beim politischen Transformationsprozesses in Ungarn nicht um das Ergebnis von Ausgleichsverhandlungen zwischen den Machthabern und der Opposition gehandelt hat und dementsprechend seine Charakterisierung als etwas „Verhandeltes” oder „Ausgehandeltes” nicht haltbar ist. An die Stelle der Verhandlungsthese setze ich aufgrund meiner Forschungsergebnisse die Bezeichnung als politische Systemtransformation „von innen”. Diese Charakterisierung halte ich insofern für gerechtfertigt als – neben der Entscheidung zum wirtschaftlichen Systemwechsel, zur außenpolitischen Westorientierung, zur Neugestaltung der Sozialpolitik und zur Wende in der Kultur- und Bildungspolitik – die maßgeblichen Impulse und grundlegenden Schritte hinsichtlich der Demontage des Parteistaates und der Transformation der politischen Ordnung auf Initiative des sogenannten „Reformlagers” innerhalb der MSZMP und ohne unmittelbaren Druck der Öffentlichkeit bzw. der Opposition fielen. „Von außen” wurde der politische Transformationsprozess lediglich später, als die Grundsatzentscheidungen bereits gefallen waren, am Nationalen Runden Tisch beeinflusst. Internationale Faktoren haben zwar – insbesondere während des Spätkádárismus – die ungarischen Entwicklungen beschleunigt, wesentliche Impulse „von außen” zur Transformation der politischen Ordnung konnte es aber aufgrund der politischen Vorreiterrolle Ungarns seit Anfang 1989 nicht mehr geben.