1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:89–98.

HERWIG WOLFRAM

Die Ungarn und das fränkisch-bayerische Ostland

 

1. Die Terminologie

Das fränkisch-bayerische Ostland des 9. Jahrhunderts unterschied sich von der bayerischen Donaumark, dem Ostarrichi des 10. und der folgenden Jahrhunderte, allein schon durch seine enorme Ausdehnung. Von der Traunmündung im heutigen Oberösterreich bis zur Draumündung an der heute ungarisch-serbischen Grenze, von der Save östlich von Sisak bis an die slowenisch-italienische Grenze, aber auch die Drau aufwärts bis Osttirol, bis in den Salzburger Lungau und in die ober- und niederösterreichisch-steirischen Kalkalpen erstreckte sich die Präfektur des fränkisch-bayerischen Grenzgrafen, der auch eine theoretische Oberaufsicht über Mähren und die Slowakei ausübte.1 Dieser riesige Bereich zerfiel um 900, als sich die Magyaren in Pannonien niederließen, und wurde in der Zeit der Sachsenkaiser nur in seinen westlichen Teilen, im Herzogtum Karantanien und in der Babenbergermark wiederhergestellt.2

Der Begriff „Ungarische Landnahme in Pannonien” ist zwar in der deutschen Sprache eingebürgert, weckt aber falsche Assoziationen. Das Wort „Landnahme” leitet sich aus dem Altnordischen her und meint zu Recht den Siedlungsvorgang der Norweger und anderer Skandinavier in Island. Diese nahmen ein so gut wie menschenleeres Land in Besitz, während es sich bei allen anderen Landnahmen tatsächlich um Landwegnahmen handelte; siehe das schaurig-schöne Panorama-Bild von Árpád Feszty.3 Es wäre daher besser, von der ungarischen Niederlassung in Pannonien zu sprechen. Dieser Begriff würde auch die Tatsache abdecken, dass Ungarn (und nicht die Ungarn) das Land ursprünglich nicht durch Eroberung gewannen, sondern hier – wie die meisten anderen Neuankömmlinge in Europa – zunächst einmal als Hilfstruppen eingesetzt und auch angesiedelt wurden. Ja, es ist sicher nicht falsch zu sagen, die Ungarn sind erst in Ungarn Ungarn geworden.

Was aber bedeutete Pannonien zu der Zeit, da hier die Ungarn entstanden? Die frühmittelalterliche Geographie verarbeitete mehrfache, einander sogar widersprechende Traditionen, die aus verschiedenen Zeithorizonten stammten und unterschiedliche Wirklichkeiten festhielten. Für die Geographen mit gotisch-langobardisch-mediterranem Hintergrund ist Pannonien nur das Land zwischen Drau und Save. Die Franken und insbesondere die Bayern des 9. Jahrhunderts lokalisieren dagegen die alte(n) Römerprovinz(en) überwiegend zwischen Drau und Donau, wobei sie das Donauknie nördlich von Budapest vernachlässigen, die Drau von Süden nach Norden fließen lassen und daher die Donau nur als Nordgrenze ihres Pannoniens kennen.4 Mitunter bewahrte dieses System auch die Vorstellung von einer tota Pannonia, in der die Drau die Achse und nicht Grenze gegen Norden oder Süden bildete.5

 

2. Die Ereignisse. Ein Überblick

Wie auch in anderen Fällen, zeigte sich Erzbischof Hinkmar von Reims im Falle der Ungarn besser informiert als ostfränkische Quellen. Während diese schweigen, berichten seine Annales Bertiniani zu 862, in diesem Jahr hätten „bisher jenen (ostfränkischen) Völkern unbekannte Feinde, Ungarn genannt, (Ludwigs des Deutschen) Reich verheert”. Ein Jahr später vermerken die alemannischen Annalen, „ein Volk der Hunnen habe die Christenheit angegriffen”.

Woher die Ungarn kamen und wer sie waren, ist wie jede Herkunftsgeschichte nicht mit einem Satz zu beantworten. Wer solches fordert, überfordert formal das Genus der Origo gentis und stellt inhaltlich falsche Fragen. Im Rahmen des gestellten Themas genügt es, mit der Lebedia des Konstantin Porphyrogennetos zu beginnen. Hier passten sie sich an ihre nomadische Umwelt an, wurden aber durch die Petschenegen vertrieben. Die Flüchtlinge fanden Aufnahme im Etelköz (Atelkuzu) zwischen Dnepr, Karpaten und Donaudelta, wo sie unter die Oberhoheit der Chazaren gerieten und viel von deren Herrschafts- und Lebensformen annahmen: Bis kurz nach 900 gab es einen ungarischen Sakralfürsten, der Kende (Kündü) hieß und damit den Namen des dritthöchsten chazarischen Würdenträgers besaß. Damit stimmt die Nachricht überein, wonach Arpad von den Chazaren als Herrscher der Ungarn eingesetzt worden sei. Auf dem Weg von der Krim zu den Chazaren wurde der spätere Slawenapostel Konstantin-Cyrill von einer Schar von Ugri überfallen, die wie die Wölfe heulten. Unterwerfungen und Überschichtungen sind ethnogenetische Vorgänge, die stets Reaktionen hervorrufen; es kommt zu Aufständen und Spaltungen. Der chazarische Teilstamm der Kabaren fällt vom chazarischen Khagan ab und schließt sich den Magyaren an. Dann treten abermals die Petschenegen auf und vertreiben beide Gruppen in den Westen.

Die Zusammengehörigkeit von Magyaren und Kabaren zeigt sich bereits im Jahre 881, als die Bayern im Raum von Wien mit den Ungarn und danach bei Pöchlarn mit den Kabaren kämpfen mussten. Diese Nachricht der Salzburger Annalen enthält nicht bloß die älteste Nennung Wiens, sondern auch die früheste Erwähnung der Ungarn durch einen bayerischen Beobachter, mag auch die Quelle selbst erst aus der Zeit um 950 stammen. Wien und die Ungarn traten also gemeinsam in die Geschichte des Westens ein; eine Verbindung, die trotz des stürmischen Beginns bis heute anhält.

Die strategischen Planungen der Mächte in Ost und West machten sehr bald von dem „skythisch-hunnischen” Volk der „Awaren, die nun Ungarn heißen”, Gebrauch oder meinten zumindest, sie gegen unbotmässige Nachbarn kontrolliert einsetzen zu können. Im Jahre 892 führte König Arnulf Krieg gegen den Mährerfürsten Zwentibald. Am allgemeinen Sengen und Brennen während des Erntemonats 892 beteiligten sich zum ersten Mal ungarische Reiter. Ihr Ziel war wohl das mährisch besetzte Pannonien am Südufer der Donau. Dabei dürften die Ungarn auf den Geschmack gekommen sein, weil sie 894 „ganz Pannonien” verheerten und daher auch das Gebiet ihrer Verbündeten von 892 heimsuchten. Im Jahre 896 erhielt der Sisak-Fürst Brazlavo die Moosburg wegen der Ungarngefahr und nicht wegen einer Bedrohung aus Mähren.6

Der Ungarnsturm und seine verheerenden Folgen wurden sehr bald König Arnulf und seinen Großen zum Vorwurf gemacht. Man hatte nämlich in Bayern wenig Grund, sich über die Verwüstungen in der Nachbarschaft zu freuen. Als die Ungarn 899/900 in Italien einfielen und im großen Stil die Poebene plünderten, führte sie ihr Rückweg durch Pannonien, und zwar zuerst südlich, dann nördlich der Drau. Von hier aus griffen sie noch im Herbst 900 über die Enns an und verwüsteten „fünfzig Meilen weit” den Traungau. Am 20. November 900 vernichtete Luitpold eine versprengte ungarische Abteilung bei Linz, worauf die Ennsburg errichtet wurde. Im Jahre 901 erlitten die Ungarn eine Niederlage, als sie einen Plünderungszug nach Karantanien unternahmen. Frühestens 902, spätestens aber zwei Jahre später, luden die Bayern den obersten Herrscher der Ungarn, den Kende Kurszán-Cussal, zu einem Gastmahl an die Fischa. Als man sich zu Tische setzte, wurden die Ungarn heimtückisch umgebracht. Alle Mittel schienen gegen sie erlaubt und nötig. Selbst der mährisch-bayerische Gegensatz wurde begraben, und 902 kämpften die alten Feinde miteinander gegen die wilden Heiden, die nach dem auf Herodot zurückgehenden Skythentopos wahrgenommen wurden.

Im Lichte der zeitgenössischen und späteren Quellen waren nämlich diese Ungarn blutrünstige, schreckliche Skythen, die rohes Fleisch fraßen, Blut tranken und „die in Stücke zerteilten Herzen ihrer Gefangenen” als Medizin einnahmen. Sie brachten alle Männer und alten Frauen um, trieben die jungen Frauen wie das Vieh zusammen und schleppten sie mit sich fort. Sie waren hervorragende Pfeilschützen und handhabten mit großer Kunst ihre Hornbogen. Kahl geschoren, saßen sie zu allen Zeiten auf ihren Pferden; ihre Weiber waren ebenso wild wie sie selbst. Wer zu ihnen gehören wollte, musste ihre Haartracht annehmen, was angeblich die Mährer taten. Die Ungarn heulten wie die Wölfe und verwendeten Wolf oder Hund als Totem, über dem sie Eide schworen. Sie waren die wiederauferstandenen Awaren oder Hunnen. Wenn sie aber Hunnen waren, dann wusste man um ihre Herkunft Bescheid. Widukind von Corvey hatte bei Jordanes gelesen, dass die Mütter der Hunnen gotische Hexen, ihre Väter aber die Geister der Steppe seien. Das Fremde hatte einen Namen, eben den der Skythen oder Hunnen und war damit in die ethnographisch-geographische Typologie eingeordnet.

Bereits im Jahre 900 bemerkte ein bayerischer Beobachter, die Ungarn seien von ihrem Traungauer Plünderungszug „beutebeladen nach Pannonien (wohl südlich der Drau), woher sie gekommen waren, heimgekehrt”. Die Niederlassung in Pannonien, das die Ungarn bis heute – gegen die europäische Tradition, aber als logisches Gegenstück zum Gebiet jenseits der Theiß – Transdanubien nennen, muss demnach noch der Kende Kurszán-Cussal begonnen haben. Seine Ermordung verschaffte den Bayern eine kurzfristige Atempause. Die Ausschaltung des Kende ebnete aber den Weg für Arpad und dessen Nachfolger, die ihr Heerkönigtum in den großen Siegen des 10. Jahrhunderts festigten und – trotz der Niederlage von 955 – glänzend behaupteten.7

 

3. Die Überlieferung neu interpretiert

Im Folgenden wird versucht, die karolingischen Annalen mit der Epistola Theotmari gemeinsam zu interpretieren, das heißt Quellen, die sich zeitgenössisch mit dem Auftreten der Ungarn beschäftigen.8 Schon die erste Jahreszahl bereitet anscheinend Schwierigkeiten. Die Annales Bertiniani, die westfränkischen Reichsannalen, erwähnen zum Jahre 862 als erste europäische Quelle die Ungarn, und zwar als Angreifer auf das Reich Ludwigs des Deutschen.9 Erst dreißig Jahre später nehmen die Annales Fuldenses die Ungarn wahr, und auch dann sind sie den ostfränkischen Reichsannalen nichts anderes als Awaren, die man jetzt Ungarn nennt.10 Was soll diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung durch die Betroffenen und der der Fernerstehenden? Die Schwierigkeiten werden dadurch verstärkt, dass die in der Mitte des 10. Jahrhunderts niedergeschriebenen Salzburger Annalen schon zum Jahre 881 die Ungarn und die mit ihnen verbündeten Kabaren bei Wien und Pöchlarn erwähnen.11

Immer dann, wenn die historische Interpretation auf Schwierigkeiten stößt, ist sie nur zu gerne bereit, diese der Überlieferung anzulasten und dafür die Autoren der Vergangenheit verantwortlich zu machen. Dies ist auch im Falle der Annales Bertiniani geschehen; man hat ihre scheinbar isolierte Ungarnnennung als Verwechslung mit den Bulgaren gesehen. Dass ein solcher Ausweg sehr rasch in eine Sackgasse mündet, ist leicht zu zeigen: Erstens bezeichnen die Annales Bertiniani die Ungarn als einen neuen Feind des Ostfränkischen Reiches, und als der konnten die Bulgaren nahezu vier Jahrzehnte nach ihrer ersten Auseinandersetzung mit den karolingischen Franken wahrlich nicht mehr gelten. Außerdem waren die Bulgaren im Jahre 862 Verbündete Ludwigs des Deutschen sowohl gegen seinen Sohn Karlmann wie gegen dessen mährische Helfer. Zweitens ist die Meldung zu 862 keineswegs isoliert, berichten doch die Annales Alamannici zum darauf folgenden Jahr 863, „ein Volk der Hunnen habe die Christenheit angegriffen”. Drittens ist die gute Unterrichtung der Annales Bertiniani kein Wunder, wurden sie doch in diesen Abschnitten von keinem Geringeren als Hinkmar von Reims verfasst. Dieser Mann war bestens informiert; er wusste noch aus der hochkarolingischen Zeit, dass die Mark- und Grenzgrafen verpflichtet waren, jährlich in der Zentrale zu erscheinen, um dort Bericht zu erstatten und ihre Entscheidungen absegnen zu lassen.12

Die Annales Alamannici lehren auch die Tatsache zu verstehen, warum die Ungarn den Bayern so spät als ethnische Novität auffielen: Es war eben nichts Neues, wenn ein hunnisches Volk, wie man auch die Awaren als solches bezeichnete, im bayerischen Ostland, vor allem in Pannonien auftrat.13 Daher brauchten die Bayern ein ganzes Menschenalter, bis sie den Sondernamen dieser „neuen” Awaren eigens registrierten. Noch 870 berichtete man von Salzburg dem König nach Regensburg, dass awarische Tributpflichtige in Pannonien lebten.14 Daher auch kein Wort über die unbotmäßigen Hunnen oder Awaren der Jahre 862/63 in den Annales Fuldenses. Wenn diese Annalen vom bayerischen Ostland berichten, und der ungarische Vorstoß hat bis 899 nur diesen Teil des Karolingerreichs betroffen, beschäftigen sie sich fast ausschließlich mit Nachfolgestreitigkeiten und nicht mit den damit verbundenen Auseinandersetzungen zwischen Bayern und Mährern.

Sehr gut bekannt ist die Verwendung ungarischer Reiter in König Arnulfs mährischem Sommerfeldzug von 892, zugleich die Erstnennung der Ungarn in den Annales Fuldenses, jedoch noch unter der Oberbezeichnung Awaren. Erzbischof Theotmar von Salzburg erwähnt das Bündnis mit den Ungarn in seinem Brief an den Papst, in der Epistola Theotmari, von 900. Dieser Brief wurde von der Forschung bisher nur zögerlich verwendet, weil gegen die Quelle immer wieder der Vorwurf der Fälschung erhoben wurde. Tatsächlich ist der Verdacht unbegründet.15 Theotmar räumt nicht nur Arnulfs Bündnis mit den Ungarn als Fehler ein, sondern greift seinerseits die Mährer an, sie hätten schon „seit vielen Jahren” sich der Ungarn als Verbündete bedient, ja sogar „eine gar nicht so kleine Anzahl von Ungarn bei sich aufgenommen und nach deren Gewohnheit ihre Häupter als falsche Christen ganz geschoren und sie (die Ungarn) auf unsere Christen losgelassen”.16 Nimmt man diese multi anni ernst, und es besteht kein Grund, es nicht zu tun, passen die ungarischen Angriffe auf Bayern und damit auf das Ostfrankenreich sowohl zum Jahre 862 wie 881. Man kann nun mit größerer Sicherheit einen Gedanken aufgreifen und ausbauen, der in Ansätzen über Szabolcs de Vajay auf Ernst Dümmler zurückgeht.17

In den Jahren 861 bis 865 und daher auch 862/63 versuchte der Königssohn Karlmann, mit Hilfe seiner mährischen (und ungarischen) Verbündeten das bayerische Ostland und Bayern östlich des Inns seinem Vater Ludwig dem Deutschen abzutrotzen und hier ein selbständiges Herrschaftsgebiet zu errichten.18 Des Weiteren kann 881 als Vorspiel des großen Krieges der Jahre 882–884 gelten, in dem Zwentibald I. dem Ostfrankenreich beinahe ganz Pannonien entrissen hätte, wobei das Land schwer verwüstet wurde. Bezeichnenderweise lassen die Annales Fuldenses die Kämpfe durch Aufklärer oder Pfeilschützen eröffnen, die Zwentibald über die Donau ins karolingische Pannonien schickte. Diese speculatores (einmalig erwähnt bei den Mährern, später der Fachausdruck für die ethnisch differenzierten ungarischen Grenzwächter) waren offenkundig die Magyaren und Kabaren der Salzburger Annalen.19

Im Juli 892 hatte Arnulf in bewährter Weise Mähren mit drei Heeren verwüstet, denen sich ungarische Reiter anschlossen. Vermittler zu den ungarischen Hilfstruppen war offenkundig Brazlavo, der 884 der Vasall Kaiser Karls III. geworden war und das vom Frankenreich abhängige Fürstentum zwischen Save und Drau beherrschte. Den vier Wochen dauernden Feldzug von 892 hatten König Arnulf und der Sisak-Fürst vorerst auf dem Hengstfeld, dem heutigen steirischen Wildon, ausführlich beraten. Brazlavos Lebensgeschichte läßt das Vordringen einer ungarischen Abteilung im pannonischen Save-Drau-Zwischenstromland erkennen. Diese Abteilung war nicht mit den mährischen Ungarn identisch.20 Nicht unmöglich, dass 892 jene fränkischen Ungarn aus Slawonien, die Arpad-Gruppe (?), gegen mährische Ungarn kämpften. Im September 892 war jedenfalls der Save-Weg zum Unterschied von der Donaustraße offen. Damals fertigte König Arnulf eine Gesandtschaft zu den Bulgaren ab, um den Frieden zu erneuern sowie ein gemeinsames Salz-Embargo gegen die Mährer durchzusetzen. Die Gesandtschaft konnte „wegen Zwentibalds Widerstand nicht den Weg durch Pannonien (nördlich der Drau und an der Donau)” nehmen, sondern wich über Slawonien, Pannonien südlich der Drau, aus.21

Zwei Jahre später waren Ungarn wieder über die Donau vorgestoßen und verheerten im Jahre 894 „ganz Pannonien”. Zwentibald I. war gestorben; „seine” Ungarn werden daher die ersten gewesen sein, die ins fränkische Pannonien eindrangen. Die Annales Fuldenses nennen als Angreifer jenseits der Donau nomadisierende, peragrantes, Ungarn.22 Diese Nachricht würde mit der Behauptung des Theotmar-Briefs übereinstimmen. Ist der Kende Kurszán-Cussal den mährischen Ungarn zuzuordnen, die erstmals 881 gemeinsam mit den Kabaren an der heute österreichischen Donau auftraten? Schwere, höchst verlustreiche Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Bulgaren verschafften den Bayern eine Atempause. Diese Auseinandersetzungen könnten durchaus im bulgarischen Ostslawonien erfolgt sein. Die Maßnahme Arnulfs, 896 Brazlavo die Moosburg zu übertragen, wird damit begründet, dass sich „die Kämpfe in diesen Gebieten häuften”. Dieser Satz der Annales Fuldenses folgt unmittelbar einer längeren Darstellung des ungarisch-bulgarischen Konfliktes von 896, in dessen Verlauf die Bulgaren abermals, wenn auch wieder unter schwersten eigenen Verlusten, die Oberhand behielten. Auslösend für diese Auseinandersetzung war ein griechisch-ungarischer Vertrag, der gegen die Bulgaren gerichtet war. Letztere griffen darauf Konstantinopel an, wurden aber in ihrem Rücken bedroht, da griechische Schiffe ungarische Reiter über die Donau setzten. Diese Vorgänge dürften daher zwischen dem Eisernen Tor23 und der Savemündung zu lokalisieren sein, beunruhigten aber auch die fränkisch-bayerische Südostgrenze. Ungarn waren auch die Hilfstruppen von Byzanz, des Kaisers, der als einziger ihre Niederlassung an der Donau in den Formen des traditionellen Rechts absegnen konnte.

Mit dem Zurückdrängen der Bulgaren wie der Aufgabe der fränkisch-bayerischen Präsenz südlich der Drau stand den Ungarn das slawonische Tiefland offen. Erst dann war für sie – die bayerisch-fränkische Krain wurde einfach überrannt – der Weg frei nach Italien. In den Jahren 899 und 900 erfolgte daher zunächst ein Vorstoß nach Italien, darauf auf dem Rückmarsch 900 die Verheerung Pannoniens, wobei nach einer allerdings jüngeren ungarischen Quelle Brazlavo, der wahrscheinliche Gründer von Preßburg (Bratislava), gefallen sei. Des weiteren geschah im Anschluss daran noch im selben Jahr 900 ein Vorstoß gegen Bayern westlich der Enns und schließlich die Heimkehr der Ungarn ad sua in Pannonien. Aber das heimgesuchte Pannonien und das Pannonien, in das die Ungarn heimkehrten, war offenkundig nicht dasselbe Gebiet. Unter dem Pannonien Brazlavos wird wohl das Land nördlich der Drau, unter dem frühesten pannonischen Besitz der Ungarn das Land südlich des Flusses zu verstehen sein. Und es war vom Save-Drau-Zwischenstromland aus, dass 901 Karantanien vergeblich angegriffen wurde, weil das Angriffsziel als südlichster und nicht östlichster Teil des Bayernreichs beschrieben wird, oder mit anderen Worten, weil die Ungarn von Süden und nicht von Osten angriffen.24

Die folgenden Jahre waren gekennzeichnet durch ungarische Niederlagen in Ost und West; man hat den Eindruck, als ob jeder Stamm auf eigene Faust vorgegangen wäre. Nach dem Tod des Kendes Cussal dürfte es jedoch zu einer Einigung gekommen sein. Dann erst gelang die Eroberung Pannoniens nördlich der Drau und im Anschluss daran erfolgte der vernichtende Schlag gegen das Mährerreich 905/06, wobei wohl die „mährischen” Ungarn die Vorreiterrolle spielten. Der Sieg beider Gruppen über die Bayern bei Preßburg 907 sicherte schließlich die Besitznahme ganz Pannoniens und zumindest des Ostteils des Mährerreichs, der heutigen Slowakei und Nordungarns, unter Einschluss des frühmittelalterlichen Pannoniens östlich der Enns und der Fischbacher Alpen.25

 

4. Schlussfolgerungen

Zugegeben, dem Leser wurde einiges zugemutet: Anstelle von Landnahme eine Ethnogenese der Ungarn in Ungarn analog etwa zu Angelsachsen, Alemannen und Bayern, und überdies Kämpfe innerhalb des Ungarischen Stammesbundes am Beginn dieses Prozesses als Verbündete zuerst der Mährer, dann der Franken. Dafür eine gute Nachricht: Unter den besprochenen Jahreszahlen für die Anfänge der ungarischen Niederlassung in Pannonien wirkt 896, also das übliche „Landnahmedatum”, am glaubwürdigsten. 896 hat sich aber Brazlavo sicher aus Westslawonien zurückgezogen, weil er das Land den Ungarn überließ oder, genauer, seinem Verbündeten Arpad(?) von 892 überlassen musste. Die ungarische Ethnogenese im Karpatenbecken begann daher einerseits unter dem chazarischen (?) Kende in mährischen Diensten am linken Donauufer und an der oberen Theiß (Oberungarn), andererseits unter árpádischer Führung und in fränkischen Diensten wie als Eroberer Slawoniens zwischen Save und Drau, das heißt in der Pannonia der spätantik-gotischen Tradition.

Dazu noch eine Beobachtung, ohne der mit Recht verpönten „vermischten Argumentation” zu verfallen: Archäologen meinen zu erkennen, dass Ungarn schon wenig nach 850 im nördlichen Karpatenbogen, das heißt im Mährerreich, angesiedelt wurden. Mechthilde Schulze-Dörlamm interpretiert entsprechendes Material dahingehend, dass ethnische Gruppen aus dem oberen Wolga-Kamagebiet bereits um die Mitte des 9. Jahrhunderts im nördlichen Karpatenbogen anzutreffen seien, von wo aus sie im Jahre 862 das ostfränkische Reich überfielen.26

Was ist aber zu 895 zu sagen, zu der Jahreszahl, die in den Schulbüchern den Beginn der ungarischen Geschichte in Ungarn markiert? Ihre Grundlage ist so schmal, dass sie im Grunde keine ist. Im Staatshandbuch Konstantins VII., des Purpurgeborenen, steht zu lesen, die Petschenegen hätten vor 50 oder, verbessert, vor 55 Jahren die Ungarn unter Arpad in den Westen vertrieben.27 Dazu nahm man an, De administrando imperio sei 950 geschrieben worden, weshalb man von dieser Jahreszahl auf moderne Art 55 Jahre abzog und auf 895 kam.28 Das Staatshandbuch wird jedoch heute nicht auf 950, sondern zwischen 948 und eher 952 datiert,29 was für eine auf mittelalterliche Weise (unter Einschluss der Ausgangszahl) errechnete „Landnahme” die Jahre 894 bis eher 898 ergäbe. Auch sind Annales Fuldenses anni 895 für die Datierung unbrauchbar.

Zwischen 985 und seinem Todesjahr 995 nahm der Bayernherzog Heinrich der Zänker seine Kämpfe gegen die Ungarn wieder auf, die er schon in den siebziger Jahren begonnen hatte. Im Jahre 991 „triumphierte Herzog Heinrich über die Ungarn”. Das ungarische Herrscherhaus der Arpaden musste daher wieder zu einer Annäherung an den westlichen Nachbarn finden. Noch zu Lebzeiten seines Vaters heiratete der 994/95 getaufte Sohn Gézas, Vajk die bayerische Prinzessin Gisela, die Tochter Heinrichs des Zänkers und Schwester dessen gleichnamigen Sohnes, der soeben Herzog geworden war. Da diese Verbindung im Einvernehmen mit dem ottonischen Hof erfolgte und der Schwager Stephans der spätere Kaiser Heinrich II. wurde, waren die guten Beziehungen Ungarns zum Reich auf eine dauerhafte Grundlage gestellt. Mit der bayerischen Gisela kamen nicht nur vermehrt christliche Missionare, sondern auch ein stattliches Gefolge ins Land.

Der Einfluss dieser „Gäste” reichte von militärischen Belangen – mit bayerischer Hilfe hatte Stephan nach dem Tod des Vaters die Herrschaft behauptet und wohl auch noch 1030 Kaiser Konrad II. besiegt – bis zum Urkundenwesen und der Gesetzgebung. Gézas Sohn Vajk hatte in der Taufe den Namen des Passauer Patrons Stephan erhalten. (Allerdings dürfte der Arpade den Namen nicht auf Passauer Vermittlung, sondern deswegen angenommen haben, weil er am Stephanstag getauft wurde.)30 Die großen Hoffnungen, die man in Passau bezüglich der ständigen Einbeziehung Ungarns in die bischöfliche Jurisdiktion oder gar hinsichtlich einer Rangerhöhung als Donaumetropole hegen mochte, blieben jedenfalls unerfüllt. Im Einvernehmen zwischen Papst, Kaiser und Bayernherzog erfolgten die Anerkennung Ungarns als christliches Königreich und die so gut wie gleichzeitige Einrichtung der ungarischen Kirchenprovinz in Gran, nachdem Stephan I. vor tausend Jahren zum ersten christlichen König der Ungarn gekrönt und gesalbt worden war.31 Stephan war ein politisches, militärisches und nicht zuletzt religiöses Genie, ein Gründerkönig, den die Nachwelt zurecht als Heiligen verehrt, getreu dem Grundsatz: sanctus utilis esse debeat.

 

Anmerkungen

1

Herwig WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband, 31, Wien 1995, 49 ff., 175 ff. und bes. 298 ff.; DERS., Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung. Österreichische Geschichte 378–907, (Wien 1995), 212 ff.

2

Karl BRUNNER, Herzogtümer und Marken. Vom Ungarnsturm bis ins 12. Jahrhundert. Österreichische Geschichte 907–1156, (Wien 1994), 48 ff.

3

Herwig WOLFRAM, in: Deutsches Archiv 52, 1 (Köln 1996) S. 161–169., bes. 162 f.

4

H. WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich (wie oben Anm. 1.), S. 68–71.

5

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume [wie oben Anm. 1.), S. 326. mit Anm. 261.

6

Annales Fuldenses sive annales regni Francorum Orientalis. Ab Einhardo, Ruodolfo etc. (Ed.) Friedrich KURZE–Heinrich HAEFELE, Hannoverae 21891, (Nachdruck: 1993.) (MGH SS) oder: Ed. und übersetzt Reinhold RAU, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. VII, Darmstadt 1992, S. 1–177. (aa. 892, 894 und 896.)

7

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 325–327.

8

Herwig WOLFRAM, Wortbruch I. Nachträge zu „Salzburg, Bayern, Österreich”, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 105 (1997) S. 467–471., (bes. S. 467 ff.)

9

Annales Bertiniani (Ed.) Georg WAITZ, Hannover 1883, (MGH SS) oder (Ed.) Reinhold RAU, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. VI, Darmstadt 1969, S. 11–287. (a. 862.)

10

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.) (a. 892.)

11

Annales Iuvavenses maximi (Ed.) Harry BRESSLAU, Leipzig 1934, (Nachdruck Stuttgart 1976), S. 727 ff.) MGH SS 30, 2 ) (a. 881.)

12

H. WOLFRAM, Wortbruch I. (wie oben Anm. 8.), S. 467. mit Anm. 2.

13

Annales Alamannici (Ed.) Georg Heinrich PERTZ, Hannoverae 1826, (Nachdruck

Stuttgart 1976), S. 22–60. (MGH SS 1) oder (Ed.) Walter LENDI, Untersuchungen zur frühalemannischen Annalistik, in: Scrinium Friburgense, 1 (1971), S. 146–192. ( a. 863.)

14

Conversio Bagoariorum et Carantanorum (Ed.) Fritz LOSEK, Hannover 1997, cap. 3. (MGH Studien und Texte 15.)

15

Fritz Losek, der den Theotmar-Brief seiner MGH-Edition der Conversio beifügte, hat die wertvolle Quelle gerettet.

16

Theotmar von Salzburg, Epistola. Conversio 138–157. S. 148 ff.

17

Szabolcs de VAJAY, Der Eintritt des ungarischen Stammesbundes in die europäische Geschichte (862–933), in: Studia Hungarica, 4 (1968), S. 11 und 13 f.

18

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 162 f.

19

H. WOLFRAM, Wortbruch I. (wie oben Anm. 8.), S. 468 f.; Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), (aa. 882–884).

20

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), (aa. 884 und 892.); H. WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich (wie oben Anm. 1.), S. 91 f.

21

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), a. 892.

22

Annales Fuldenses (wie oben Anm. 6.), (a. 894.) bringen den Tod Zwentibalds und dann erst die Überquerung der Donau durch die Ungarn – irreführende Übersetzung von Rau.

23

Constantinus Porphyrogenitus, De administrando imperio (Ed.) Gyula MORAVCSIK–R. J. H. JENKINS, , Dumbarton Oaks 1967, und 19672. (Corpus fontium historiae Byzantinae 1 und 2.) c. 40., 28.: Ungarn beginnt beim Eisernen Tor.

24

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 326.; DERS., Salzburg, Bayern, Österreich (wie oben Anm. 1.) S. 316 f.

25

H. WOLFRAM, Grenzen und Räume (wie oben Anm. 1.), S. 272 f. und 327.; DERS., Wortbruch I. (wie oben Anm. 8.), 470.

26

S.: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz, 35/2 (1988) S. 373–478., bes. 441–446. – Andreas Schwarcz hat dankenswerter Weise auf diese Arbeit hingewiesen.

27

Constantinus Porphyrogenitus, De administrando imperio, c. 37, 5 ( 50 Jahre); c. 37, 13 f. (55 Jahre); vgl. c. 38, 55 ff., c. 40, 44 ff. (Árpád).

28

H. WOLFRAM, Deutsches Archiv (wie oben Anm. 3.), S. 166.

29

Constantinus Porphyrogenitus, De administrando imperio 1, S. 11; H. HUNGER, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Bd I, München 1978, S. 362. (Handbuch der Altertumswissenschaft 12, 5.)

30

János M. BAK, Stephan (István) I. d. Hl., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (München 1996) col. 112–114. col. 112.; Stefan WEINFURTER, Heinrich II. Herrscher am Ende der Zeiten (Regensburg 1999,) S. 90 mit Anm. 95. – Zum Tauftag Stephans siehe Ademar von Chabannes, Historiae (Ed.) Georg WAITZ, Hannoverae 1841 (Nachdruck Stuttgart 1981), S. 106–148) (MGH SS 4), oder DERS., Historiae (Chronicon) (Ed.) Pascale BOURGAIN u. a., Corpus Christianorum, 129, 1, Turnhout 1999, III, 31.

31

Herwig WOLFRAM, Konrad II. (990–1039) Kaiser dreier Reiche, (München 2000), S. 245 f. und 249.; DERS., Die ungarische Politik Konrads II. Festschrift János M. Bak (Budapest 1999), S. 460 ff.