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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:289–299.

VINCE PAÁL

Gustav Gratz und die Geschichtsschreibung

Publizist und Geschichtsschreiber

 

Gustav Gratz gehörte nicht zur „Historikerzunft”. Ab und zu machte er nur Ausflüge vom Bereich der Publizistik, der Wirtschaft und der Politik auf das Gebiet der Geschichtsschreibung. Der in erster Linie Publizist und Wirtschaftsfachautor untersuchte in seinen Geschichtswerken die Ereignisse der nahen Zukunft, in denen auch er Zeitgenosse, manchmal aktiver Teilnehmer war. Er absolvierte Jura, ein Historikerdiplom erwarb er nie. Man weiß nichts davon, ob er an der Universität Seminare und Vorlesungen in Geschichte besucht hatte. Seinen Memoiren zufolge las er auch Geschichtswerke. Er bezeichnet aber keines davon, im Gegensatz zu den Klassikern der Weltliteratur, die ihm dank seiner Sprachkenntnisse von Jugend an in drei Weltsprachen zugänglich waren. Da er von einer Diplomatenlaufbahn träumte, richtete sich sein Interesse vor allem auf die Geschichte, Politik und Wirtschaft. Seine Neigungen lenkten ihn in Richtung Politik. Ihn interessierte die Politik, also die Gestaltung der Geschichte mehr als die Beschäftigung mit der Geschichte. Eine Diplomatenlaufbahn war aber für den Bürgersohn vorläufig keine Realität. Deshalb ergriff er mit Freude die Gelegenheit, als er im Beruf eines Berichterstatters in ständigen Kontakt zur Politik kommen konnte.

In den Spalten der Zeitschrift Huszadik Század [Zwanzigstes Jahrhundert] erschienen seine ersten politischen analysierenden Schriften, die von bleibendem Wert sind. In diesen nahm er die Hauptprobleme des Dualismus unter die Lupe: das Verhältnis zwischen der Freigesinnten Partei und den nationalen Ideen, die kroatische Frage, die politische Krise im Jahre 1905. In der Aufsatzreihe Modern Államférfiak [Moderne Staatsmänner] wurde in der Zeitschrift als erster Kálmán Tisza und seine Politik aus der Feder von Gratz vorgestellt.1 Der bald nach dem Tode Tiszas in drei Teilen erschienene Aufsatz ist eine der ersten wissenschaftlichen Bearbeitungen der Epoche im Mittelpunkt mit der Person des am längsten amtierenden Ministerpräsidenten des Dualismus. Gratz verwendete später seine Studien über den Dualismus in der Monographie A dualizmus kora [Die Zeit des Dualismus]. Er konnte es umso leichter tun, da sich seine Auffassungen über die politischen Richtungen und Versäumnisse Ungarns in der Ära des Dualismus eigentlich nicht änderten. In seinen Artikeln wies der bis ins Mark 67er Gratz Anfang des Jahrhunderts auch inmitten der damals populären nationalen Parolen immer wieder darauf hin, dass die Kräfteverhältnisse Ungarns in der gegebenen internationalen Situation nicht möglich machten, alle ungarischen nationalen Bestrebungen zu erfüllen. Die Aufrechterhaltung der Politik von 1867 könne aber gegenüber der Politik der nationalen Selbstgefälligkeit nur durch ein progressives Programm gesichert werden. Das setzt aber die Einführung des allgemeinen Wahlrechts voraus, damit der Parlamentarismus auf einer breiteren Basis beruht. In seinem Aufsatz Az általános választójog és gróf Tisza István [Das allgemeine Wahlrecht und Graf István Tisza]2 versuchte er zu beweisen, dass das bisherige Parlament nur die Interessen der darin vertretenen Klassen vor Augen gehalten habe, das aufgrund des allgemeinen Wahlrechts zusammengetretene Parlament sei aber geeigneter, die Interessen des Volkes zu bewahren, und er brachte Daten, um zu untermauern, dass beim allgemeinen Wahlrecht die Anzahl der Minderheitenabgeordneten nicht in größerem Maße zunehmen werde als beim Beibehalten des alten Systems.

Zwischen 1906 und 1920 nahm die Anzahl von Gratzens Publikationen in größerem Umfang ab. Das kann damit erklärt werden, dass er mit dem Kreis um Huszadik Század brach, so hatte er weniger Publikationsmöglichkeiten, sowie damit, dass er sich inzwischen ein Parlamentsmandat erwarb, weiterhin bei mehreren Zeitungen als Korrespondent tätig war, und im Landesverein der Industriellen [Gyáriparosok Országos Szövetsége] den Posten des geschäftsführenden Direktors bekleidete, und dann während des Weltkrieges als Leiter von mehreren Kriegszentralen weniger Zeit hatte zu schreiben.

Mit der Geschichtsschreibung kam er in der Zeit der Machtergreifung der Konterrevolution wieder in Kontakt, als er den Band A bolsevizmus Magyarországon3 [Der Bolschewismus in Ungarn] redigierte. Im Vorwort hob er die Wichtigkeit des Ausbaus der demokratischen Institutionen heraus, um die in Form von Revolutionen ans Tageslicht kommenden Störungen zu beseitigen. Das demokratische Wahlrecht als die dauerhafte Wirkung der Revolution hielt er weiterhin für wichtig. Auf die Organisiertheit der Arbeiterschaft Bezug nehmend befürwortete er gleichzeitig die Organisierung der anderen Klassen. Dieses sein Werk läßt sich wegen der gründlichen Mitteilung der Tatsachen auch heute mit Gewinn lesen.

Eine Wirtschaftsgeschichte stellen die zwei dicken deutschsprachigen Bände über die Wirtschaftspolitik und den wirtschaftlichen Zusammenbruch Österreich-Ungarns dar, die Gratz mit Richard Schüller gemeinsam im Auftrag der Carnegie-Stiftung verfasst hat. Die Tatsache, dass die Carnegie-Stiftung an ihn dachte, kann als Anerkennung seines Ansehens gedeutet werden. Das Werk, das in der die wirschaftlichen Folgen des Krieges behandelnden Reihe der Stiftung erschienen war, erregte großes Interesse. Die Redaktion ersuchte solche Fachleute, die aufgrund ihrer Position während des Weltkrieges einen Überblick über die Zusammenhänge des Krieges und der Wirtschaft besaßen. So versuchte man, die den Historikern damals noch nicht zugänglichen Quellen zu ersetzen. Diese Bearbeitungen sollten etwa einen Übergang zwischen den Memoiren und den durch die Regierungen veröffentlichten sog. Weißbüchern darstellen. Gratz und seine Mitverfasser überboten die Aufgabe, das Werk bringt reichlich Angaben über die Kriegswirtschaft der Monarchie, legt die Friedensverhandlungen in Brest und in Bukarest dar, und befasst sich mit der Problematik der polnischen Frage, deshalb ist es für die Forscher der Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkrieges von großem Wert.

1927 wurde die Magyar Szemle Társaság [Die Ungarische Rundschau Gesellschaft] gegründet. Die Gesellschaft verfügte über eine eigene Buchreihe und unter dem Titel Magyar Szemle auch über eine eigene Zeitschrift. All das sollte im Rahmen der Kulturpolitik Klebelsbergs dazu dienen, sich mit der Vergangenheit anhand der Gesichtspunkte der Gegenwart auseinanderzusetzen. Gratz war Mitglied des Redaktionsausschusses der Zeitschrift Magyar Szemle [Ungarische Rundschau]. Die Gesellschaft beauftragte ihn 1933, die Geschichte Ungarns nach 1867 zu schreiben. Die Aufgabe erweckte sein Interesse umso mehr, als er sich bereits früher mit dem Gedanken getragen hatte, ein solches Geschichtswerk zu schreiben. Noch im Jahre 1906 schloss er mit einem deutschen Verlag einen Vertrag über die Veröffentlichung einer Geschichte Ungarns im Dualismus ab. Er verfertigte dann ein ziemlich umfangreiches Manuskript, das die Ereignisse vom Ausgleich bis in die 80er Jahre darlegte. Dem Verfasser kamen aber immer mehr Besorgnisse auf. Seinen Erinnerungen zufolge bekam er Angst, er werde sich allgemeinen Angriffen aussetzen, wenn er seine Meinung offen zum Ausdruck bringe, die ungarische Politik hätte mit der ausschließlichen Behandlung der öffentlich-rechtlichen Frage nach dem Ausgleich im Grunde eine falsche Bahn eingeschlagen, statt die Gesellschaft zu modernisieren, die Nationalitätenfrage zu lösen und die Wehrkraft der Monarchie zu steigern. Obwohl er in seinen um die Jahrhundertwende publizierten Aufsätzen an der Gestaltung der ungarischen Parteienpolitk scharfe Kritik übte, konnte es sich der junge Mann aus einer deutschstämmigen bürgerlichen Familie am Anfang seiner Laufbahn nicht leisten, von der für die nationalen Ideen schwärmenden öffentlichen Meinung des Unpatriotismus bezichtigt zu werden. Wenn man die Aufnahme von Szekfűs A száműzött Rákóczi4 [Der im Exil lebende Rákóczi] in Betracht zieht, dann kann behauptet werden, dass die Ängste von Gratz nicht unbegründet waren. Szekfű, in dessen Werk die Parallele zwischen der Rákóczi- und der Kossuth-Emigration nicht zu übersehen ist, wollte die zur Versöhnung neigenden, den Aufbau in Angriff nehmenden Labanzen-Ungarn gegenüber der sich in Abenteuer einlassenden, von der Realität abkommenden Emigration rehabilitieren. Mit seinem Buch entfesselte Szekfű einen der heftigsten Streite der ungarischen Geschichtsschreibung. Er bedarf auch noch in den 20er Jahren gegenüber seinen im Bann des Unabhängigkeitsgedankens lebenden Berufsgenossen der Unterstützung seiner angesehenen Befürworter, in erster Linie der von Bálint Hóman und Kunó Klebelsberg. Der souverän denkende Gratz, der aber die Spielregeln des Vorwärtskommens vor Augen hielt, trat schließlich in der nationalen „Kuruzen”-Atmosphäre Anfang des Jahrhunderts von der Herausgabe des geplanten Bandes zurück.

1933 dachte er schon, dass die Lage nach dem Zerfall des historischen Ungarns und nach der Aufhebung der öffentlich-rechtlichen Beziehung zwischen Ungarn und Österreich reif genug sei, um die Politik des Ungarns in der Dualismus-Zeit in Bezug auf das Herrscherhaus, Kroatien und die Nationalitäten auch vor dem breiten Publikum kritisch zu beurteilen. Die ersten zwei Bände des wichtigsten Geschichtswerkes von Gratz A dualizmus kora I–II. erschienen 1934, der dritte Band A forradalmak kora [Die Zeit der Revolutionen] ein Jahr später ebenfalls beim Verlag Magyar Szemle. Das 3bändige Werk fand eine günstige Aufnahme, obwohl das Lob mindestens so sehr der angesehenen Person des Verfassers galt als den im Werk dargelegten Ansichten.5 Die Ungarische Akademie der Wissenschaften zeichnete die Synthese mit dem Akademiepreis aus, was als die Anerkennung des Historikerberufs betrachtet werden kann. A dualizmus kora ist die erste groß angelegte Zusammenfassung der Epoche. Auch Gyula Szekfû6 benutzte sie zur verbesserten Auflage seiner Magyar történet7 [Ungarische Geschichte]. A dualizmus kora und A forradalmak kora sind typische politische Geschichten, in dieser Hinsicht aber vielleicht bis zum heutigen Tage die ausführlichsten. Die Gesellschaftsgeschichte fehlt hingegen gänzlich, Gratz unterläßt es, die Lage der Gesellschaftsschichten zu untersuchen, er beschäftigt sich nicht mit dem kulturellen Leben, und widmet der Präsentation der Wirtschaft zwei Kapitel, in denen die Geschichte des Banksektors und der Industrieunternehmen überwog. Es ist kein Zufall, der Verfasser konnte sich in erster Linie infolge seiner Beziehungen zu diesen Kreisen darüber einen Überblick verschaffen. Die Einseitigkeit kompensieren die gut gelungenen Porträts der wichtigsten Bankiers und Industriellen. Gratz, der als Teilnehmer des Wiener ABC im Lager der Konterrevolutionäre war, berichtet sowohl über den „weißen” als auch über den „roten” Terror und steigert damit die Glaubwürdigkeit von A forradalmak kora. Dieses Buch war übrigens ganz bis zur Aufhebung der gesperrten Bibliothekbestände nur mit Genehmigung zugänglich. (Alle drei Bände wurden beim Verlag Akadémiai 1992 als Reprint herausgegeben.)

Die Universitätsdruckerei gab gegen 1940 unter dem Titel A mai világ képe [Das Bild der heutigen Welt] ein 4bändiges Werk heraus, dessen zweiten Band unter dem Titel Politikai élet [Politisches Leben] Gratz redigierte. Daneben schrieb er die Kapitel über die Universalgeschichte nach dem ersten Weltkrieg, sowie gemeinsam mit András Frey die Geschichte der internationalen Beziehungen. Dabei konnte Gratz seine in den 20er und 30er Jahren über zahlreiche Ereignisse des internationalen politischen Lebens geschriebenen Aufsätze benutzen. Unter ihnen ist der umfangreichste unter dem Titel Európai külpolitika [Europäische Außenpolitik] 1929 erschienen.

Dem breiteren Publikum war es gar nicht, aber auch der Historikergesellschaft kaum bekannt, dass Gratz auch den vierten Band mit dem Titel Magyarország a két világháború között [Ungarn zwischen den Weltkriegen] geschrieben hatte. Das Manuskript behandelt – in erster Linie wiederum – die politische Geschichte von Ende 1920 bis zum Scheitern des Absprungversuchs am 16. Oktober 1944.8 Aus den Erinnerungen von Gratz geht hervor, dass er bis März 1943 den vierten Band verfertigt hat, der sich mit den Geschehnissen bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges befasst. Von der Veröffentlichung der Handschrift hielt ihn aber seinen Memoiren zufolge „ein gewisses Taktgefühl„ zurück, wie einst bei seinem deutschsprachigen Geschichtswerk um die Jahrhundertwende. Ursprünglich wollte er im dritten Band auch die Ereignisse der 20er Jahre behandeln, die Magyar Szemle Társaság befürchtete aber, dass „eben in Bezug auf die Darlegung der Restaurationsversuche„9 nach dem Erscheinen des Buches Angriffe beginnen könnten. Gratz, der von den 20er Jahren an die einseitige deutsche und italienische Orientierung der ungarischen auswärtigen Politik kritisierte, der im ganzen Leben die politischen Extreme ablehnte, sah der Tatsache fremd entgegen, wie die faschistischen und nationalsozialistischen Ideen in der zweiten Hälfte der 30er Jahre auch in Ungarn an Kraft zunehmen. Um diese Zeit war das Pesti Napló [Pester Journal], das Gratz als Chefredakteur zeichnete, schon eingestellt. Die ungarische öffentliche Meinung, die die Richtigkeit der bisherigen deutschfreundlichen Außenpolitik als bewiesen betrachtete, begeisterte sich für die territoriale Revision. Gratz wurde ebenso als Parlamentarier immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Man wählte ihn auch nicht in den auswärtigen Ausschuss. Er wurde außerdem wegen seiner Rolle an der Spitze des Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins (UDV) scharf angegriffen. Ihm schwebte auch das Beispiel seines ehemaligen Untergeordneten, legitimistischen Mitkämpfers und Freundes, Aladár Boroviczény10 vor. Boroviczény wurde selbst 1938 noch wegen seines im Jahre 1924 erschienenen Buches, welches das tadellose Benehmen des Reichsverwesers Horthy bezweifelt hatte, schikaniert. Er musste schließlich von seinem früheren Standpunkt Abstand nehmen und sich vor Horthy in einem Brief erniedrigen.

Unter solchen Umständen wagte Gratz nicht, die Ereignisse der nahen Vergangenheit vor der großen Öffentlichkeit kritisch zu behandeln, da er die unfreundlichen Reaktionen befürchtete, und so ließ er die Handschrift nicht erscheinen. Nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager setzte er die Arbeit bis Oktober 1944 fort. Das Werk blieb aber dann wegen des Todes des Verfassers im Jahre 1946 unveröffentlicht.

Seit dem Niederschreiben des Manuskriptes ist also mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Die Veröffentlichung hat aber trotzdem mehrere Gründe. Gratz war ein aktives Mitglied der in seinem Werk behandelten Zeit, so kann es einerseits als Memoire betrachtet werden, das gilt besonders für die Kapitel über die Restaurationsversuche König Karls und über die Minderheitenpolitik der Ära Horthy. Andererseits untersucht der Verfasser die Epoche mit gründlicher Sachkenntnis, als scharfsichtiger Analytiker, oft kritisch, aber die Objektivität immer vor Augen haltend, so dass für den heutigen Forscher und Leser gleichermaßen Neues enthalten ist. Es ist darüber hinaus in erster Linie eine politische Geschichte, die Darstellung der Kultur bzw. der Wirtschaft wird vernachlässigt.

Gratz begann als Ergänzung seines Werkes, das sich nur auf die politischen Ereignisse beschränkt hatte, auch ein Buch über die Entwicklung der politischen Ideen von 1867 zu schreiben. Nach der Fertigstellung der ersten Kapitel bat er Szekfû um seine Meinung – wie auch im Falle seines 3bändigen Geschichtswerkes11 –, ob es sich lohne, die Arbeit fortzusetzen.12 Man kennt Szekfűs Meinung nicht. Es ist aber sicher, dass Gratz das Buch bis 1943 nicht vollendet hat. Er selbst war damit nicht zufrieden und setzte es nicht fort. Es ist unbekannt, ob das Werk später doch vollendet worden ist.13 Gratz hielt jedenfalls seinen Antrittsvortrag als korrespondierendes Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften über dieses Thema.14

Im Auftrage eines Londoner Verlags schrieb er eine kurze ungarische Geschichte der Neuzeit auch in englischer Sprache. Der Weltkrieg verhinderte aber das Erscheinen des Buches.

Mit dem vierten Band ist nun die Reihe vollständig, in der Gratz die zwei Epochen, die Zeit des Dualismus und die Ära Horthy bearbeitete, in welchen auch sein Leben verlief. In allen vier Bänden dominiert die politische Geschichte, er setzt sich besonders ausführlich mit den Ereignissen im Parlament, mit der Entwicklung der politischen Parteien und mit der Zusammensetzung der Regierungen auseinander. Und er bewertet und charakterisiert fast alle bedeutenden Politiker. Gratz war kein Historiker im eigentlichen Sinne des Wortes. Er ging an die Aufgabe auch als Publizist heran, mit der Anforderung eines Publizisten, um seine Auffassungen über die Vorgänge der nahen Vergangenheit und der Gegenwart mit der breiten Öffentlichkeit zu teilen.

In der 4bändigen Synthese ist die Chronologie das Leitprinzip. Die Darlegung der nacheinander folgenden Ereignisse wird aber naturgemäß durch thematische Kapitel unterbrochen. Außerdem wiederholt sich Gratz selbst mehrmals. An verschiedenen Stellen kehrt er erneut zu den in Bezug auf einzelne Geschehnisse, politische Vorgänge und Politiker einmal bereits erörterten Gedanken zurück. Diese Wiederholungen unterbrechen zwar ab und zu die Kette der kausalen Zusammenhänge, sie sind aber doch nicht langweilig, denn Gratz kommt zu ihnen immer aus einer neuen Perspektive. Er ist nicht unbedingt darum bestrebt, auch die Gründe der Ereignisse aufzudecken. Im Laufe der narrativen Erzählung brachte er manchmal seine Meinung über die Gründe zum Ausdruck. Man kann es z. B. daran sehen, wie er als die Gründe für die Revolutionen nach dem ersten Weltkrieg zunächst nur die verfehlte Politik der ungarischen Regierung während des Krieges bezüglich der südslawischen Frage und der nationalen Minderheiten, sowie das unentschlossene Auftreten gegen die um Mihály Károlyi gescharten aufwieglerischen Elemente bezeichnet. Später führt er auch die demoralisierenden Folgen des Krieges unter den Gründen auf, dann an einer anderen Stelle stellt er fest, dass zur vollständigen Ohnmacht des Bürgertums ebenso die verbannte Parteistruktur aufgrund der öffentlich-rechtlichen Frage beigetragen habe, denn mit der Trennung Ungarns und Österreichs verlor sie an Daseinsberechtigung, während die anhand einer Weltanschauung herausgebildeten Parteien trotz der Erschütterungen Werte vertreten hätten, die auch nach dem Weltkrieg von Wichtigkeit gewesen wären. Es ist charakteristisch für Gratzens Auffassung, dass er – obwohl sich seine politische Stellungnahme klar abzeichnet – bereit ist, in allen Richtungen das Positive zu erblicken, selbst wenn er der anderen Seite näher steht. So wirft er z. B. der linken Mitte vor, dass große Verantwortung auf ihr wegen der Verhinderung der Herausbildung einer richtigen Parteienstruktur laste, er gab aber zu, sie habe auch eine historische Sendung erfüllt, da sie für viele den Übergang vom 48er Lager zur Annahme des Ausgleichs erleichtert habe. Die Parteienbildung aufgrund der öffentlich-rechtlichen Frage hielt er für schädlich, doch hätte dies seiner Meinung nach eine positive Seite gehabt, indem es das ungarische nationale Gefühl in besonderem Maße verstärkt habe, was beim Überleben des Trianonschocks von Wichtigkeit gewesen sei.

 

Seine Geschichtsauffassung

Der Ausgangspunkt seiner Geschichtsauffassung ist, dass sich die Völker Mitteleuropas nur dann friedlich entwickeln können, wenn sie durch einen wirtschaftlichen und/oder politischen Rahmen verbunden sind. Andernfalls wenden sie sich gegeneinander und werden zum Opfer der Großmächte um den Donauraum herum. Die dualistische ungarisch-österreichische Monarchie habe diese Bindefunktion erfüllt. Ungarn, das im Laufe der Geschichte immer von drei äußeren Gefahren bedroht wurde, habe keine andere Wahl gehabt, als sich mit einem dieser drei Faktoren, also entweder mit den Nachbarvölkern oder mit einer der vom Osten bzw. vom Westen drohenden Großmächte zu versöhnen. Im Ausgleich habe das Ungarntum mit dem seiner Kultur am nächsten stehenden Deutschtun einen Kompromiss geschlossen. Die Entwicklung der ungarischen Politik habe eine falsche Richtung eingeschlagen, als sich die politischen Parteien anhand ihrer öffentlich-rechtlichen Stellungnahme zum Ausgleich bekundeten. Das habe einerseits dazu geführt, dass in Ungarn keine politische Wechselwirtschaft zu Stande kommen konnte, die ein notwendiges Element des gesunden Parlamentarismus sei, denn die Übernahme der Regierung durch die den Ausgleich bekämpfende öffentlich-rechtliche Opposition hätte nicht einfach einen Regierungswechsel bedeutet, sondern einen die anderen zwei Machtfaktoren (nämlich den Herrscher und Österreich) betreffenden Systemwechsel. Daraus folgte, dass die 67er Regierungspartei alle Mittel für gerecht hielt, die die Opposition verhinderte, an die Regierung zu kommen. Dass die öffentlich-rechtliche Frage während der ganzen Zeit des Dualismus im Mittelpunkt des Interesses stand, verurteilte das ungarische Parlament zu unseligen Debatten, anstatt sich mit den Reformen der Verwaltung, der Lösung der sozialen Probleme und mit der Minderheitenfrage zu beschäftigen.

Es sei nicht zuletzt den Vorteilen der Großmachtstellung zu verdanken, dass Ungarn um die Jahrhundertwende innerhalb der Monarchie die größte materielle Zunahme verzeichnen konnte, wodurch aber das Land immer übermütiger wurde. Das habe sich auch in der zunehmenden Ungeduld gegenüber den Minderheiten gezeigt. Das Ungartum vergaß, dass der Angriff auf die auswärtige Politik der Monarchie und die Hintansetzung der Entwicklung des gemeinsamen Heeres durch die parlamentarische Obstruktion diejenige Basis zerstört habe, ohne welche die territoriale Integrität des Vielvölkerstaates Ungarn schon vor dem ersten Weltkrieg in Gefahr geraten wäre. Gratz behauptet mehrmals in seinen Werken, der ungarischen Nation habe die Fähigkeit der Wahrnehmung ihrer wirklichen Lage immer gefehlt, und sie habe ihre Wünsche oft mit der Wirklichkeit gleichgesetzt.

Bei seinem Standpunkt zur Minderheitenfrage stellt sich heraus, dass er bei der Gegenüberstellung von Staatsnation und Kulturnation der ersten den Vorrang einräumt. Seiner Ansicht nach sind Staatsnation und Kulturnation nicht miteinander zu verwechseln, deshalb ist verständlich, dass er Anfang der 30er Jahre als Amtsträger des Volksbildungsvereins des einheimischen Deutschtums den das Volkstum in den Vordergrund stellenden Bewegungen feindlich gegenüberstand. Für das gespannte Verhältnis zwischen dem Ungartum und den Nationalitäten machte er in erster Linie die Nationalitäten verantwortlich, die im Endeffekt über das Nationalitätengesetz von 1868 hinaus die Integrität des ungarischen Staates bedrohende Forderungen stellten, was eine selbstbewusste Nation nicht zulassen konnte. Obwohl Gratz nicht glaubt, dass eine Versöhnung unter den gegebenen Umständen hätte erfolgreich sein können, hielt er den Generationen des Dualismus vor, dass sie dafür keinen ernsten Versuch machten. Er erkennt, dass die föderalistische Umgestaltung der Monarchie infolge der Entwicklung der nationalen Idee unabhängig vom Ausgang des ersten Weltkrieges früher oder später notwendig geworden wäre. Das hätte aber von ungarischer Seite die „Ausklügelung” von neuen Lebensformen verlangt, wozu aber Ungarn nicht den entsprechenden Staatsmann besaß. Darin meint er im Vergleich zur Zeit der Verwirklichung des Ausgleichs den Verfall des ungarischen Geistes zu sehen.

Die Staatengemeinschaft der dualistischen Monarchie hielt er also für richtig, auch wenn er meinte, dass die politischen Konstruktionen nicht für immer seien, und sie den Erfordernissen der Zeit hin und wieder angepasst werden sollten. In der Zeit des Dualismus übt er nur an gewissen politischen Vorgängen Kritik. Er ist viel kritischer gegenüber dem politischen System im Ungarn der Zwischenkriegszeit, das mit dem Namen von Miklós Horthy verbunden ist. Gratz stimmt hier nicht eimal mit dem Ausgangspunkt überein. Nach den Revolutionen kehrten die Verhältnisse zu sehr dorthin zurück, wo sie auch vor dem Weltkrieg waren. Das Ungartum ließ die Führung in deren Hand, aus deren Reihe die Leiter der Politik auch früher gekommen waren, denn man fühlte sich in den revolutionären Verhältnissen unwohl. Die Revolutionen brachten nämlich allzu radikale Veränderungen mit sich. Mit der Erweiterung des Wahlrechts wurden neue Wähler an der Politik beteiligt, von denen aber, da sie größtenteils die Unabhängigkeitsgesinnung verstärkten, nicht erwartet werden konnte, dass sie der neuen Situation gemäß die richtigen Schlüsse ziehen. Dazu waren aber leider auch die Spitzenpolitiker nicht fähig, und sie führten die nötigen Änderungen nicht durch. Welche es hätten sein sollen, ließ Gratz unerwähnt. Das Ergebnis war, dass das Ungartum nach kurzer Zeit wieder in Extreme geriet.

Nach dem Friedensvertrag von Trianon baute Ungarn seine Außenpolitik auf der traditionellen Deutschfreundlichkeit auf, um die territoriale Revision zu verwirklichen. Gratzens Meinung nach war dies ein Fehler.15 Die Zusammenarbeit der Nachfolgestaaten der Monarchie war für ihn weiterhin eine Grundlage, ohne welche den einander feindlich gesinnten Völkern des Raumes die Balkanisierung drohe. Neben den außenpolitischen Erwägungen spielte bei seinem Standpunkt auch eine Rolle, dass er als Befürworter des wirtschaftlichen Liberalismus die neuen autarken Wirtschaften ablehnte, die anstelle der Wirtschaftseinheit der Monarchie zustande kamen.

Indem er die drei repräsentativsten ungarischen Politiker in der Zwischenkriegszeit einschätzt, bezeichnet er eigentlich auch seine Stelle. Er beurteilt alle drei kritisch, er kann die Politik von keinem vorbehaltlos akzeptieren, obwohl er zwischen der Politik von Bethlen und der von Gömbös einen qualitativen Unterschied sah. Die ungarische Politik habe bereits während der Bethlenschen Konsolidation einen falschen Weg betreten. Die politische Konzeption Bethlens, den er als einen konservativen Politiker qualifiziert und dem er gewisse staatsmännische Eigenschaften zuerkannte, aber nicht alle, habe sich als falsch erwiesen. Gratz gibt zu, dass sich Bethlen große Verdienste beim Neuaufbau erwarb, aber er fand ebenso seine Politik für die „Verzerrungen” in den 30er Jahren verantwortlich. Wenn er sich selbst damit auch nicht identifizierte, ging er mit Gyula Gömbös und seinem Kreis und mit dem, wovon jene ausgegangen waren, zu nachsichtig um. Bethlen habe auf die Verbreitung seiner Ideen keinen Wert gelegt, so haben sie keine dauernde Wirkung auf die Massen gehabt. Bethlen habe „den Durst des Ungartums nach Ideen” nicht gestillt. Seine innenpolitischen Reformen waren deshalb sehr vorsichtig, denn er wollte den Einfluss der herrschenden Klasse nicht vermindern. Bei seiner auswärtigen Politik bevorzugte er die Unterstützung von der Seite der Großmächte, anstatt mit den Nachbarländern zusammenzuarbeiten. Aus der Tatsache, dass Ungarn in der Mitte des Donauraumes liegt, folgerte Bethlen, dass die Probleme des Raumes trotz des Willens Ungarns nicht endgültig gelöst werden können. Im Gegensatz dazu vertrat Gratz den pessimistischen Standpunkt, wonach die exponierte Lage des Landes sogar durch die Aufgabe eines Teiles der ungarischen Bestrebungen die Entspannung der Gegensätze zwischen den Donauvölkern verlange. In den beiden gegensätzlichen Konzeptionen sah Gratz das Weiterleben des alten unabhängigen und des 67er Denkens. Als sich Bethlen die optimistische Auffassung zu eigen machte, „verfiel er selbst vielleicht in den alten Fehler des Ungartums, dass es seine Wünsche und Hoffnungen zu leicht als Wirklichkeit betrachtet.”

In Gratzens Denken ist also das Zusammentun der Völker Ostmitteleuropas das Alpha und das Omega. Eben deshalb missbilligt er die ungarische Außenpolitik, die die Revisionsbestrebungen durch die Unterstützung der Großmächte, vor allem durch die von Deutschland, erhoffte. Gratz musste aber in Erfahrung bringen, dass die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auch auf der Seite der Nachbarn fehlte. Der Widerspruch zwischen der Realität und seiner Vorstellung bleibt ungelöst.

Die Rolle von Horthy beurteilt Gratz noch kritischer. Er gab ihm in großem Maße die Schuld daran, dass Ungarn im Zweiten Weltkrieg wieder in eine katastrophale Lage kam. Seine Regierungen hätten nicht gegen seinen Willen Politik gemacht. Sein größter Fehler sei gewesen, dass er zuließ, dass Gömbös an die Macht kam. Für die schwere Niederlage Ungarns im Zweiten Weltkrieg trage aber vor allem Gömbös die Verantwortung, denn wenn er den Boden für die deutschen nationalsozialistischen Ideen nicht vorbereitet hätte, dann hätten sie in einigen Schichten der ungarischen Gesellschaft nicht so sehr Wurzeln schlagen können. Es ist merkwürdig, dass der Wirtschaftsfachmann Gratz, der so viele Kontakte zur ungarischen Industrie und Bankwelt hatte, keinen direkten Zusammenhang zwischen dem immer größeren deutschen Einfluss auf die ungarische Innen- und Außenpolitik und der Abhängigkeit der ungarischen Wirtschaft vom deutschen Markt sah. Für ihn sind die Entscheidungen der Spitzenpolitiker bestimmend.

Die Geschichtswerke von Gustav Gratz würden auch einem Berufshistoriker zum Ruhm gereichen, obgleich sie auf seiner weitläufigen Laufbahn nur Episoden darstellten. Ihm wurde das Schicksal zuteil, den Zusammenbruch von beiden Epochen zu erleben, den Zusammenbruch der Epoche, in der er geboren wurde, sich seine Weltanschauung herausbildete und eine erfolgreiche Laufbahn angetreten hatte, und den Zusammenbruch der Epoche, in der er immer mehr ins Abseits geriet. Ein schwacher Trost konnte für ihn sein, dass sich seine niedergeschriebenen Besorgnisse zurückblickend auf beide Katastrophen als prophetisch bewahrheiteten.

 

Anmerkungen

 1

Gratz, Gusztáv: Tisza Kálmán. In: Huszadik Század (2–3–4) 1902 S. 115–133, 196–214, 292–303.

 2

Huszadik Század, (11) 1905, S 369–398.

 3

A bolsevizmus Magyarországon. Budapest, 1921.

 4

Szekfû, Gyula: A száműzött Rákóczi. 1715–1735. Budapest 1913.

 5

Vgl. die folgenden Buchbesprechungen: Kornis, Gyula: A dualizmus kora. In: Budapesti Szemle, Sept. 1934 S. 371–379.; Dr. Eöttevényi, Olivér: A dualizmus kora. In: Külügyi Szemle, (4) 1934 S. 339–344.; Katona, Jenő: A forradalmak kora. In: Korunk Szava, (5) 1936 S. 87–88.; Török, Pál: A dualizmus kora I–II., A forradalmak kora. In: Századok, 1938 S. 381–383.

 6

Szekfű hat eigentlich Gratz zum Schreiben des A dualizmus kora überredet, das Manuskript gelesen und dem Verfasser seine gutgesinnten kritischen Bemerkungen mitgeteilt. Gratz’ Brief an Szekfű vom 3. März 1934, OSZK Handschriftensammlung, Fond 7/693 Folio 132.

 7

Hóman, Bálint – Szekfű, Gyula: Magyar Történet. Budapest, 1936, 2. erw. Aufl., S. 639.

 8

Das Buch wird voraussichtlich beim Verlag OSIRIS im April 2001 erscheinen.

 9

Szekfűs Brief an Gratz vom 14. Dezember 1934, OSZK Handschrifrensammlung, Fond 7/693 Folio 167.

10

Siehe das Nachwort (von Pál Pritz) zum Band Boroviczény Aladár: A király és kormányzója. Budapest 1993.

11

Vgl. Anmerkung 3; Gratz’ Brief an Szekfű vom 5. November 1934, OSZK Handschriftensammlung Fond 7/693 Folio 161.

12

Gratzens Brief an Szekfű vom 20. Januar 1935. ELTE Universitätsbibliothek, Handschriftensammlung MsG 628.

13

Fragmente sind vorhanden.

14

Der bisher unveröffentlichte Aufsatz wird bald erscheinen.

15

Es ist zu bemerken, dass sich auch Gratz dem Einfluss der Erfolge dieser Politik nicht entziehen konnte. „Das Ungartum hatte nach einiger Schwankung den Weg betreten, der gegenüber den Nachbarn intransigent blieb, und wartete ruhig ab, bis es unter den Großmächten Freunde fand. (...) Die Folgen scheinen übrigens zu zeigen, dass die ungarische Politik den richtigen Weg befolgt hat.„ In: A mai világ képe. Politikai Élet. Budapest, o. J. S. 251.