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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:59–76.

FERENC GLATZ

Fragezeichen der europäischen Geschichte

„Rückkehr oder Fortsetzung der Geschichte?”

 

„Die Europäische Union verfügt über kein sicheres Zukunftsbild. – Sie hat ihre Strategie für das 21. Jahrhundert zu formulieren. – Die Europäische Union muss sich vor allem emanzipieren, sie muss sich befreien von den Merkmalen ihrer Entstehung in der Zeit des kalten Krieges, d. h. sie muss ihr Verhältnis gegenüber den außereuropäischen Arbeitszentren (Amerika, Ferner Osten) formulieren. Die Grenzen der Erweiterung der Union müssen festgelegt werden. Es gilt die Frage zu beantworten, ob es ohne eine europäische Identität eine Europäische Union gibt? – Bisher haben wir über die Erweiterung der Union ausschließlich von sicherheitspolitischen und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten aus gesprochen. Es ist an der Zeit, dass in einer neuen Strategie auch die kulturellen-menschlichen Gesichtspunkte einen Platz erhalten. Zu all dem ist das Neudenken der Geschichte Europas erforderlich. Gibt es überhaupt eine gemeinsame Tradition der Kultur und Bräuche der auf dem Kontinent lebenden Völker? Und wenn ja, was muss unternommen werden, damit diese Grundlagen der Identität sichtbar werden? Die Notwendigkeit des Neudenkens der europäischen Geschichte stellt auch vor die Geschichtsschreibung neue Fragezeichen.”

Dies waren jene Thesen, die wir im Januar dieses Jahres auf einer internationalen Konferenz über die europäische Strategie dem Expertengremium der Europäischen Union vorgelegt haben, das die Osterweiterung untersuchte. Jetzt, während ich mich auf eine neuere Konferenz über ein ähnliches Thema vorbereite, war ich bemüht, meine Gesichtspunkte zu einer Diskussion über die Neubewertung der europäischen Geschichte zusammenzufassen.

I.
Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten

Im Jahre 1990 ist in Europa der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Endlich. Die Sowjetunion hat ihre Truppen aus der 1945 besetzten mitteleuropäischen Zone abgezogen. Deutschland wurde vereinigt, die kleinen mittelosteuropäischen Staaten dürfen frei wählen: in der Innenpolitik und in der Außenpolitik. Ein großer Teil ihrer Bürger genießt zum ersten Mal die Freude der freien Meinungsäußerung. All das geschieht zu einer Zeit, in der sich in Westeuropa die europäische Integration und parallel hierzu die globale Integration beschleunigt. Zu einer Zeit, in der die global werdende Produktionsorganisation einem grausamen Wettbewerb im Weltmaßstab nachkommt. Und es gilt, in diesem globalen Wettbewerb die Wettbewerbsfähigkeit der auf dem Territorium der Europäischen Union lebenden Bürger zu sichern. Doch mit welchen Mitteln?

Neue Herausforderungen treten auf. Erstens: Die EU will sich auf das Grenzgebiet im Osten ausdehnen. Zweitens: Westeuropa muss sein Verhältnis zu den anderen Staatsgebilden des christlich-jüdischen Kulturkreises auf anderen Kontinenten formulieren und herausgestalten: zu den USA, zu Russland, zu Afrika, zu Südamerika und Australien. Und drittens: jetzt muss es seine Strategie des 21. Jahrhunderts zu den Völkern und Staaten anderer Kulturkreise, zum Nahen Osten und zum nicht-christlichen Afrika, zu China, Indien, Japan, zum Fernen Osten herausgestalten.

Die neuen Herausforderungen bringen auch Konflikte neuen Typs mit sich, gegenwärtig muss – unbedingt – über drei derartige Konflikte gesprochen werden. Erstens: über die auf dem Territorium der Beitrittskandidaten ausgebrochenen Konflikte. Zweitens: über die an der gegenwärtigen Grenze der Europäischen Union auftretende soziale und ethnische Krisensituation. Drittens: über den zwischen der Europäischen Union und den USA entstandenen verborgenen Konflikt.

Über diese Konflikte wird mit einer mehr oder weniger großen Offenheit gesprochen. Eine der großen Unterlassungen der europäischen Intelligenz der 90er Jahre ist, dass sie die europäische politische Elite nicht dazu angeregt hat, durch ein gemeinsames Nachdenken die Grundfragen der Zukunft der Europäischen Union heraus zu formulieren. Weder die Ziele, noch die auftretenden Konflikte sind systematisiert worden. Es wurde nicht formuliert, dass die Union als Einheit der territorialen Verwaltung ein einziges wahres Ziel haben kann: die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der auf ihrem Territorium lebenden Bürger. Und zugleich muss untersucht werden, was diese Wettbewerbsfähigkeit in den vergangenen hundert Jahren behindert hat? Warum Europa seine in den früheren Jahrhunderten erkämpfte initiierende Rolle in der Welt verloren hat?

Unsere Vermutung lautet, dass wir uns der Geschichte zuwenden müssen. Wir müssen nicht nur mit administrativen politischen Mitteln gegen die für uns hinderlichen europäischen politischen Erscheinungen kämpfen, sondern wir haben auch die historischen Gründe der Konflikte aufzudecken. Wir müssen nicht nur Brände löschen, sondern wir müssen auch vorbeugen, damit sich keine Krisenherde herausbilden.

Die Konflikte der Osterweiterung

Der jetzt befreite Raum, dieser sich von der Ostsee bis zur Adria erstreckende Raum, ist bemüht, sich in den Prozess der westeuropäischen Integration einzufügen. Die historische Betrachtungsweise des Prozesses der Integration verweist nämlich darauf, dass die östlichen Randgebiete zwischen 1000 und 1945 mehr oder weniger lockerer Bestandteil des sog. Westens waren. Diese Integration war dann rascher (im 11., im 14. und 15. sowie im 19. Jahrhundert), wenn das Randgebiet und das westeuropäische Zentrum wirtschaftlich aufeinander angewiesen waren und in einem politischen Bündnissystem lebten. Das Neuanpassen ist mit Erschütterungen verbunden, weil der Raum von der westlichen Welt ein halbes Jahrhundert hindurch abgeschnitten und aus der Revolution der Informatik und Produktion nach 1945 herausgeblieben war. Dies ist auch aus dem Grund mit Erschütterungen verbunden, weil die hiesigen Lebensprinzipien und die gesamte Arbeitsorganisation sich seit 1000 Jahren in vielem anders organisieren als in Westeuropa.

Die Politiker dieses Raumes sprechen über die vollständige Identität mit dem Westen und nur darüber, dass ihre Völker immer schon Bestandteile der westeuropäischen Kultur waren. Die Historiker aber wissen es, dass dies nur zum Teil zutrifft. Die Gesellschaftsstruktur der Randgebiete stellte – seit 1000 Jahren schon – immer ein „gemischtes Modell” dar.

Von den Phrasen der Politiker geführt, dachte die westliche Welt es sich so, dass die Erweiterung der EU nichts anderes als die Einführung des Mehrparteiensystems, der Marktwirtschaft und der Ausbau des europäischen Sicherheitssystems im mittelosteuropäischen Raum ist. Dann waren sie aber sehr verwundert, als in den neuen Demokratien die ersten gesellschaftlich-politischen Konflikte auftraten. Und zur gleichen Zeit auch den gesamten europäischen Integrationsprozeß gefährdeten.

Sie waren erstaunt, als es in diesem Raum zu ethnisch-religiösen Zusammenstößen kam: zuerst zwischen den in der Minderheit lebenden Ungarn und den in der Mehrheit befindlichen Rumänen und Slowaken (1991–92), dann auf dem Balkan zwischen den Kroaten, Serben, Bosniern und Albanern (1992–99). Damals begannen die Westeuropäer zur Kenntnis zu nehmen, eine Besonderheit dieses Raumes ist, dass hier die Grenzen der Siedlungsgebiete der Nationen und die Verwaltungsgrenzen nie übereinstimmten. (Im Westen begann man deshalb von der „Rückkehr der Geschichte” zu sprechen. Das hatte einen negativen, verurteilenden Gehalt. Dies bedeutete: in der östlichen Hälfte kommt eine ganz veraltete, altmodische Ideologie, der Nationalismus auf, den man mit militärischen, internationalen und politischen Sanktionen verdrängen kann.)

Der Kosovo-Krieg (1999) ließ dann die europäische (und vielleicht die amerikanische) politische Elite bewusst werden, dass man die seit Jahrhunderten ungelösten gesellschaftlich-politischen Spannungen mit Raketen und internationalen Sanktionen nicht lösen kann. Nicht der aus den amerikanischen Westernfilmen und aus den europäischen romantischen Jungmädchenromanen bekannte „Gute „ und „Böse” trägt den Kampf aus. Nicht „gute Albaner” und „böse Serben”, oder „böse Ungarn” und „gute Rumänen” stehen einander gegenüber. Wie es auch sinnlos ist, die Attribute gegen andere auszutauschen. Und auch die westeuropäischen Verwaltungsprinzipien, die politischen Ideologien können nicht angewendet werden, wie dies von den Großmächten im Jahre 1920 und im Jahre 1947 getan wurde. Eine Lösung könnte ausschließlich nur das Finden der örtlich entsprechenden politischen Mittel bedeuten.

Seit einem Jahrzehnt wird immer wieder gesagt, dass in diesem Raum das Verhältnis zwischen Nation und Staat neu durchdacht werden muss. Nicht durch das Hin- und Herschieben der Grenzen, sondern durch das Aufgeben des auf dem Heiligtum der Nationalstaaten beruhenden veralteten Prinzips der Gebietsregelung können die jahrhundertealten Probleme überwunden werden. Die in diesem Raum lebenden Völker müssen sich einigen in Bezug auf die identischen Prinzipien im Verhältnis zwischen der nationalen Mehrheit und der Minderheit innerhalb der Staatsgrenzen.

Konflikt auf dem Territorium der Grenzstaaten

Die andere schockierende Wirkung in den 90er Jahren löste das Auftreten der Fremdenfeindlichkeit aus. Zum ersten Mal auf dem Territorium des auf seinen Beitritt wartenden, dann die gegenwärtige Grenze der EU bildenden Österreich. Und in einem Europa „der offenen Grenzen” kann diese Fremdenfeindlichkeit für Westeuropa mit katastrophalen Folgen verbunden sein. Das Ergebnis der österreichischen Wahlen (Oktober 1999) hat plötzlich den „Kurs” der in diesem ganzen Raum vorhandenen Fremdenfeindlichkeit angehoben. (Wiederum wurde von der „Rückkehr der Geschichte”, von dem Auftreten der faschistischen Ideologien von vor 1945 gesprochen. Obzwar die Geschichte sich auch auf diesem Gebiet nur fortsetzt.)

Eine andere Besonderheit dieses Raumes ist nämlich gerade der Charakter der Pufferzone. Das Aufeinanderstoßen der westeuropäischen, durch die Entwicklung von mehreren Jahrtausenden einheitlich gewordenen Arbeitsorganisation (des Arbeitsmarktes, der Arbeitsmoral, der Lebensprinzipien) mit den östlichen Gesellschaften. (Viele behaupten, dass das Wesen im Zusammenstoßen des „entwickelten urbanen Westeuropas” mit „dem ruralen Osten” besteht.) Aus dem Charakter der Pufferzone gehen seit Jahrhunderten kontinuierlich soziale Konflikte hervor: mit der Arbeitskräfteabwanderung, mit der Migration sind Serien von sozialen, massenpsychischen und ethnischen Gegensätzen verbunden. (Was heutzutage die an der österreichischen Grenze lebenden Wähler der Freiheitlichen Partei formulieren, das wurde im Grunde bereits im 16. und 17. Jahrhundert zum Ausdruck gebracht. Die Bürger in den ungarischen Städten – übrigens deutschen Ethnikums – wollten die ungarischen, slowakischen und tschechischen und schlechter ausgebildeten und ärmeren Elemente nicht in die Städte hereinlassen. Mit einem Gesetz mussten sie zum Gehorsam gezwungen werden /Gesetzartikel Nr. 13 des Jahres 1608./ Wie das Österreich der Habsburger sein Territorium in einzelnen Perioden des 18. Jahrhunderts vor den Einwanderern aus dem Osten genauso verteidigte, /nun, nicht das Königreich Ungarn, sondern die Erbländer/ genauso wollen dies jetzt die Wähler der Freiheitlichen Partei erreichen. Und so könnte man noch hunderte von Beispielen aufzählen.) Auch hier ist nicht vom Kampf zwischen „Gut” und „Böse”, sondern von der ständigen Präsenz der historischen Spannung aus mehreren Jahrhunderten die Rede. Die lokale Arbeitsorganisation ist nicht imstande, eine Konsolidierung zu schaffen: sie wird immer wieder zugrunde gerichtet von der Reihe der Migrationen aus verschiedenen Richtungen, von den häufigen Veränderungen der internationalen Machtverhältnisse und von den aus diesen resultierenden gesellschaftlichen Bewegungen.

Diese ethnischen und sozialen Spannungen brachen im vergangenen Jahrhundert immer wieder auf. Weil sie keine Auflösung fanden. Sie waren die Ursachen für den Ausbruch von zwei Weltkriegen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden diese zum Teil vom sowjetischen System, zum Teil von den Siegermächten des Weltkrieges mit administrativen Mitteln zurückgedrängt. Wie die Sanktionen aber auch nach dem ersten Weltkrieg nicht lange anhielten, so konnte das Unterdrücken der historischen Konflikte unter die Oberfläche nicht ewig dauern. Nur dauerte jetzt die Inkubationszeit länger als zwischen 1920 und 1938. 45 Jahre hindurch (1945–1990) war die Besatzungspolitik „erfolgreich”. Jetzt brechen diese im System der neuen Demokratien und durch die Freimütigkeit im Ausdruck einer neuen Generation wiederum an die Oberfläche durch.

Das bedeutet: tatsächlich Jahrhunderte alte europäische gesellschaftlich-ethnische Konflikte wurden von den europäischen Friedensschlüssen im Jahre 1947 nicht gelöst. Die Konflikte wurden mit administrativen politischen Mitteln unterdrückt. Wir, die wir an die edlen europäischen Freiheitsideen glaubten und glauben, und andere, die in den beiden europäischen Kriegen, im Faschismus, im Kommunismus einfach nur eine militärische-politische Frage erblickten, wir haben uns geirrt, sie haben sich geirrt.

(Und jetzt kommt noch die Möglichkeit einer Serie von historischen Katastrophen eines anderen Typs, auf dem Gebiet des Naturschutzes nämlich hinzu. Im östlichen Randgebiet Europas – wie auch in Russland – wurden die industriellen-technischen Revolutionen in der Gesellschaft nicht organisch und systematisch verarbeitet. Dies kann aber schon das Thema einer neueren Diskussion sein...)

 

Neue Wettbewerbssituation zwischen Europa und den USA

Doch schauen wir uns die dritte Konfliktzone an. Von der weniger gesprochen wird, die aber für die Zukunft Europas determinierender sein kann.

Der Abschluss des Zweiten Weltkriegs, die Aufhebung der Teilung Europas und die Beseitigung der Sowjetunion bedeutet auch, dass die Weltordnung mit zwei Polen aufgehört hat zu bestehen, dass die selbständigen Interessen Westeuropas zwischen andere Kraftzentralen geraten sind. Einerseits ist mit dem Ende des kalten Krieges die Europäische Union keine Gegenorganisation (kein Frontstaat) mehr. Die sowjetische ideologisch-militärische Macht als Gegner ist nicht mehr präsent. Andererseits hat sich die Konkurrenz auf dem Gebiet der Produktion und der Kultur mit den amerikanischen und den fernöstlichen Arbeitsmärkten zugespitzt. Vor allem mit den amerikanischen. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand ein Gegner oder ein Konkurrent, ein Wettbewerber ist. Und das ist gut. Damit aber die Europäische Union ihre Möglichkeiten im 21. Jahrhundert real erkennt, muss sie ihre Geschichte innerhalb des christlich-jüdischen Kulturkreis und auf dem wirtschaftlichen und kulturellen Weltmarkt neu werten. (Aber! Auch in diesem Wettbewerbsverhältnis ist die Geschichte aufgetreten, wenn auch wieder in einer verzerrten Form. Die europäische politische Elite spricht – wenn auch leise, hat sie doch wegen der beiden Kriege ein berechtigtes Verantwortungsgefühl – über die „Rückkehr der Geschichte”, wenn die amerikanischen Konkurrenten das Instrument des psychischen Drucks anwenden und plötzlich „darauf kommen”, dass die Vorläufer der europäischen Unternehmen vor einem halben Jahrhundert mit den faschistischen Regimes kollaboriert haben. Diese Firmen verwenden auf zynische Art und Weise den Fakt der Verbrechen, die nicht verjähren können, in einem heutigen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf.)

Die Westeuropäer sprechen also wieder von der „Rückkehr der Geschichte”, obzwar in diesem Falle – so wie im Falle Ostmitteleuropas – hier von der Fortsetzung die Rede ist. Von einer Rückkehr zu sprechen und die Fortsetzung zu leugnen, bedeutet die Relativierung der Geschichte. Als ob dies wirklich nur ein „Bei-den-Haaren-Herbeiziehen”, ein „Hervorkramen” wäre. Und als ob nicht wirklich die Gefahr der Kontinuität bestehen würde. Die Gefahr der rechtsextremistischen Lösungen. Wir haben Angst, die wirkliche Gefahr zu bagatellisieren.

*

Wir müssen uns an die Geschichte wenden, wir müssen wiederum die Geschichte des europäischen Kontinents studieren. Die Ursachen der wahren Konflikte, das Fortleben der wahren Konflikte, ihr Fortleben bis zur Gegenwart. Die Ursachen der Konflikte gilt es zu suchen und aufzulösen. Und nicht nur einen ideologisch-politischen Krieg gilt es gegen die Wähler oder gegen ihre Leiter zu führen. Wenn in Europa neue soziale-nationale Konfliktserien beginnen, dann werden die hier auf dem europäischen Kontinent Lebenden keine konkurrenzfähigen Menschen sein im Wettbewerb der Produktion und der Kultur des 21. Jahrhunderts. Und eben deshalb werden unsere Kinder mit Recht uns dies vorwerfen, und nicht jenen, die an die Spitze dieser sozialen und nationalen Unzufriedenheiten getreten sind. Und wirklich sind wir die Verantwortlichen, wir untätige europäische Intellektuellen, die von der gebauten Umgebung verzaubert sind, die sich aber nicht um die Gesellschaft kümmern. Weder in der Europäischen Union, noch bei uns zu Hause.

Schauen wir uns also einige historische Lehren an. Beginnen wir mit dem Neudenken der europäischen Geschichte.

 

II. Über die Fortsetzung, über die Kontinuität

Was heute in Europa geschieht, ist nicht einfach eine Rückkehr zur Geschichte sondern die Fortsetzung der bereits schon 2500jährigen Geschichte der europäischen Gesellschaft.

Die EU: Eine 2500 Jahre alte Bautätigkeit

Sprechen wir jetzt im Jahre 2000 von den Etappen in der Entwicklung der Europäischen Union. Ziehen wir die chronologischen Grenzen. Die erste Etappe dieser Entwicklung dauerte unserer Auffassung nach von 1951 bis 1999. In dieser Etappe bildete sich die Struktur der einheitlichen territorialen und politischen Verwaltung der Union (Maastricht 1992), die der Verteidigungsorganisation (NATO 1949–1999) und schließlich ihre wirtschaftliche Struktur (Euro 1999) heraus. Vergessen wir aber nicht, alle diese Schritte waren deshalb möglich, weil sie auf einer 2500 Jahre alten kulturellen und moralischen Gemeinschaft, auf der Tradition der griechisch-römischen Gebietsorganisation und auf den Grundlagen der christlich-jüdischen Gemeinschaftsorganisation und Moral beruhen.

Die Geschichte der europäischen Gesellschaften rechnen wir von der sich ab 800 v. Chr. entfaltenden, sogenannten Hallstatt-Kultur an. Damals überwand der auf dem europäischen Kontinent siedelnde Mensch die Lebensform als Sammler und Jäger und begann mit der Anlegung von ständigen Siedlungen, mit der Haltung von Haustieren und mit der Bestellung von Grund und Boden. All das wurde durch den Erzbergbau, die Metallbearbeitung (die Bronze, und dann vor allem durch das Eisen) ermöglicht. Und damals bildete sich auf der Appenninischen Halbinsel, in Italien, der erste Stadtstaat (Rom, 753 v. Chr.) heraus, aus dem das große Römische Imperium entstehen wird. Es fällt auf, dass sich vom 8. Jahrhundert v. Chr. ganz bis zur Gegenwart der politische und wirtschaftliche Wirkungsbereich dieser Kultur auf ein sehr determiniertes geographisches Gebiet erstreckt: vom heutigen Karpatenbecken (genauer gesagt vom östlichen Steppengebiet) bis zu der heutigen Britischen Inselwelt, bzw. bis zum Mittelmeer und bis zur Küste Nordafrikas und im Norden bis zur Skandinavischen Halbinsel. In diesem Raum haben sich die verschiedenen Kulturen und deren Organisationen der Gebietsverwaltung entfaltet.

Jenes Westeuropa, das die wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Grundlage der gegenwärtigen europäischen kontinentalen Integration geworden ist, hat sich allmählich, auf dem Wege einer organischen Entwicklung herausgebildet: es ist auf dem Boden des Römischen Reiches (3. Jahrtausend v. Chr. – 5. Jh. n. Chr.), dann des Fränkischen Reiches (vom 7. bis zum 9. Jh.) und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (10. Jahrhundert bis zum Jahre 1806) entstanden. Mit dieser organischen Entwicklung verband sich außer den „das Reich Schaffenden” das materielle und intellektuelle Erbe von vielen Völkern. Die heutige Europäische Union ist die Fortsetzung eines einheitlichen Staatsaufbaus von griechisch-römischem Typ und dessen gesellschaftlicher Organisation.

Die heutige Europäische Union verfügt aber nicht nur über eine gemeinsame Tradition der Gebietsorganisation, sondern auch über eine gemeinsame Überlieferung der Moral und der Verhaltensweisen sowie der Bräuche. Von dieser gemeinsamen Tradition der Moral und der Bräuche wird noch weniger gesprochen als von den gemeinsamen Traditionen der Verwaltung. Dies ist nichts anderes als der christlich-jüdische Kulturkreis. Und von diesem christlich-jüdischen Kulturkreis werden sehr entschiedene Normen nicht nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mensch und Universum (Mensch und Gott) formuliert, sondern er regelt nach strengen einheitlichen Prinzipien das Gemeinschafts- und Privatleben der Individuen der Gesellschaft. (Denken wir nur an die Bestimmungen der Zehn Gebote in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse, die Familie, die Ehe, auf die Verhaltensweisen /das Erben/.)

Dieser Kulturkreis unterscheidet sich sehr entschieden von den parallel dazu entstandenen anderen großen Kulturkreisen der Welt, vom mohammedanischen, vom buddhistischen Kulturkreis und von den sonstigen Kulturkreisen.

Wenn es so beliebt, war der Aufbau der Europäischen Union bisher leicht, war sie doch die organische Fortsetzung der Erbauung eines 2500 Jahre alten Kulturkreises. Das Schwere an der Arbeit beginnt jetzt.

 

III. Über die Wanderung des christlich-jüdischen Kulturschwerpunktes

Es sei wiederholt: Damit die Europäische Union ihre Möglichkeiten im 21. Jahrhundert realistisch abschätzen kann, muss sie ihre Geschichte neubewerten. Sie muss die Ursachen des Erfolgs und des Untergangs von Westeuropa studieren.

Der Erfolg ist: das heutige Gebiet der Europäischen Union war 1000 Jahre hindurch Mittelpunkt des vorstehend erwähnten christlich-jüdischen Kulturkreises. Der andere Erfolg: dieses Westeuropa stand beinahe 400 Jahre hindurch – vom 16. bis zum 19. Jahrhundert – zweifelsohne auch an der Spitze der technischen und kulturellen Entwicklung der ganzen Welt.

Der Untergang: bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hat Westeuropa diese führende Stellung verloren. Heute steht es – zumindest, was die Leistungen anbelangt, – hinter den USA zurück. Wir müssen uns an die Geschichte, an die Geschichtswissenschaft wenden, damit wir eine Erklärung für die Wanderung dieser Kulturzentren finden. Und noch mehr müssen wir uns an die Geschichte wenden, um aus den Lehren die für unsere Zukunft des 21. Jahrhunderts möglichen Alternativen zu formulieren.

Der Aufstieg Europas

Wenn wir nach den Grundlagen der Blütezeit der in Westeuropa lebenden Völker suchen, müssen wir – prinzipiell formuliert – sofort drei Faktoren aufzählen: Der erste Faktor ist die europäische christliche Tradition von der Wechselseitigkeit, der Solidarität und der Toleranz, die die Bewegung zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten sicherstellte und auch die endgültige Gliederung in Kasten verhinderte. Eine Folge hiervon ist, dass in Europa die Vielsprachigkeit und die kulturelle Diversität auf einem relativ kleinen geographischen Gebiet blieben. Und ihre Folge ist auch, dass diese Kulturen mit unterschiedlicher Muttersprache im 19. Jahrhundert von den entstehenden Verwaltungseinheiten, von den Nationalstaaten mit ihrem Verwaltungs- und Unterrichtssystem in der Muttersprache auf ein hohes literarisches Niveau angehoben wurden. Die westeuropäischen Gesellschaften konnten ihre einzigartige Eliteintelligenz und die unmittelbar hinter dieser stehenden, von ihnen nicht losgerissenen Schichten der Fachleute aufweisen. Deren Grundlage war eine Revolution der Kultur: die Verbreitung der auf dem europäischen lateinischen Abc beruhenden Schreibschrift, dann des Buchdrucks, durch die die Berührungskultur, die Organisation der Produktion und des Publikums der europäischen Völker auf eine neue Grundlage gelegt wurde (14. bis 16. Jahrhundert). (Dies war der zweite Faktor). Auf diese konnte sich der dritte Faktor aufbauen: die industrielle-technische Revolution (im 18. und 19. Jahrhundert), die die Blüte des Maschinenzeitalters, des Eisenhandwerks mit sich brachte.

Die Diskussionen über die Faktoren des Aufstieges gilt es fortzusetzen. Wir sind der Meinung, auch diesem Umstand ist es zu verdanken, dass der christlich- jüdische Kulturschwerpunkt sich in den vergangenen 1000 Jahren nach Westeuropa verlagert hat. Vom östlichen, griechisch-phönikischen Becken des Mittelmeeres zuerst nach Italien (ich denke an das Römische Reich), dann in den Rahmen der fränkischen, deutschen und englischen Staatsorganisationen. Diese Kultur hatte es den westeuropäischen Gesellschaften zu verdanken, dass sie sich weiter ausbreitete in den Osten (in die Steppengebiete mit slawischer Kultur), dann nach Südamerika und schließlich nach Afrika und Australien. Und diesen Faktoren ist es zu verdanken, dass Westeuropa im 16. bis 20. Jahrhundert auch im Wettbewerb mit den anderen Kulturen an die Spitze der Welt gelangt ist.

Der Untergang Europas

Warum ist der Untergang Europas erfolgt, und warum ist Amerika und sind die USA aufgestiegen? Warum hat sich der Mittelpunkt des christlich-jüdischen Kulturkreises auf den amerikanischen Kontinent verlagert? Ist die Verschiebung des Kräfteverhältnisses eine vorübergehende, oder wird der Gap (der Unterschied), der Rückstand im 21. Jahrhundert weiter zunehmen?

Es gibt Debatten und wird auch in der Zukunft Debatten über diese Frage geben wie auch über den Aufstieg Europas. Die Antwort werden wir meiner Meinung nach aus der Neubewertung der Geschichte des 20. Jahrhunderts erhalten.

Dennoch möchte ich einige Hypothesen, einige Überlegungen über den europäischen Untergang und den amerikanischen Aufstieg vortragen.

Meine erste Hypothese lautet: Die neueren industriellen-technischen Revolutionen haben sich im 20. Jahrhundert nicht in Europa, sondern in den USA (und zum Teil in Russland) entfaltet. Wie dort auch die hohe staatliche (aus Steuermitteln stammende) Investitionen erfordernden physikalisch-chemisch-biologischen und später Informatikbasen ausgebaut wurden, mit denen die USA innerhalb eines Jahrhunderts auch die Heimstätte der wissenschaftlich-kulturellen Revolution wurden. Und genauso auch die Sowjetunion. (Jetzt spreche ich nicht über das außerhalb dieses Kulturkreises liegende Japan).

Warum? Die Antwort besteht in meiner zweiten Hypothese: Die neue Produktionsorganisation (die Serienfabrikation, die Massenproduktion und deren Bedarf an großen Märkten) verlangt große territoriale und Verwaltungseinheiten. Diese Produktionsorganisation kann keine Heimat auf einem Kontinent finden, wo die territoriale und Verwaltungsorganisation nationalstaatliche Dämme (Zölle, Beschränkung der Bewegung der Arbeitskräfte) schafft. Auf dieses System von Hindernissen merkten schon zu Beginn des Jahrhunderts einige führende Denker Europas auf. So formulierten sie das Programm der „Vereinigten Staaten von Europa”. Doch blieben sie in der Minderheit. Das Prinzip des Nationalstaates, das zu zwei Weltkriegen führen sollte, blieb im Vordergrund, und die beiden Weltkriege richteten nicht nur die Produktion, einen Großteil der Bevölkerung, sondern auch die europäische politische und intellektuelle Elite zugrunde. Und diese kriegerischen Zerstörungen steigerten dann den Rückstand Europas hinter dem nordamerikanischen Kontinent noch weiter, der die friedliche Entwicklung erlebte und sich im großen Raum organisierte. Die Sieger stellten sowohl 1920 als auch 1945 jenes Verwaltungssystem wieder her, das in Wirklichkeit doch schon zu Beginn des Jahrhunderts versagt hatte. Hatte das nationalstaatliche Verwaltungs- und Kultursystem im 19. Jahrhundert doch den Höhepunkt des Aufstieges von Europa, den Anstieg des kulturellen Niveaus der Bevölkerung mit sich gebracht, wie es bereits erwähnt wurde. Doch wurde dieses System jetzt schon zum Hindernis der Produktions-, Wissenschafts- und Kulturrevolution des 20. Jahrhunderts.

Meine dritte Schlussfolgerung lautet: Die Besiegelung des Untergangs Europas war die politische Zweiteilung nach dem zweiten Weltkrieg. Es begann zwar endlich der Ausbau des einzigen Weges, der zur Konkurrenzfähigkeit des Kontinents führen konnte, die kontinentale Integration der Verwaltung und der Kultur. Doch gelang die Realisierung dieses Weges zu kurvenreich und zu schwerfällig. Diese politische Zweiteilung des Kontinents bedeutete nämlich auch, dass der Raum Westeuropas zu einer Pufferzone im Wettbewerb zwischen den USA und der Sowjetunion geworden war. Der gesamte europäische Integrationsprozess war notwendigerweise einem antisowjetischen militärisch-strategischen Denken ausgesetzt. (Das erklärt, dass er auch seine integrierende Verwaltungs- und Wirtschaftsorganisation auf das sich von Westeuropa abweichend organisierende Griechenland, ja sogar (nota bene!) auf die Türkei ausgedehnt hat, die in den mohammedanischen Kulturkreis gehört.) Und so sind notwendigerweise im Integrationsprozess nicht die eigenen Interessen Europas, sondern einseitig die produktionsmäßigen und geopolitischen Gesichtspunkte des neuen Zentrums, der USA zur Geltung gekommen. Diesen entsprechend baute es sich auf.

 

IV. Historische Lehren

Wir kehren also nicht zur Geschichte zurück, sondern die Geschichte setzt sich fort. Die ungelösten Probleme brechen immer wieder auf. Nicht jene sind schuld daran, die die ungelösten Probleme formulieren und sie sogar mit Hilfe der Demokratie zur Regierungskraft heben, sondern jene sind schuld, wir, die wir die Probleme nicht lösen können. Wir Historiker, Soziologen und Politologen sind verantwortlich dafür, dass wir die in der Geschichte verborgenen Alternativen nicht aufdecken und sie für die Gegenwart und die Zukunft nicht klar und deutlich formulieren. Ich hoffe, dass jetzt eine anhaltende, energische und harte Diskussion beginnen kann über die Notwendigkeit, die Möglichkeit der europäischen Emanzipierung. (Oder gerade darüber, wie falsch es war, darüber zu sprechen, und dass alles, was existiert, gut ist, und nur seinen alten Weg gehen soll.)

Jetzt seien aber dennoch als Provokation der Diskussion einige Sätze, einige historische Lehren vorausgeschickt, die sich auf die Zukunft Europas als Kontinent nach dem Jahre 2000 und auf die Zukunft der Europäischen Union als Verwaltungseinheit beziehen.

1. Die Emanzipierung Europas. Seit Jahrzehnten sprechen wir, wenn auch nur wenige an der Zahl, von der Notwendigkeit der Emanzipierung Europas. Wir, die wir zum Teil im östlichen Randgebiet dieses westlichen Kulturkreises, zum Teil in Westeuropa groß geworden sind. Zu der es erst jetzt, in den 90er Jahren, nach dem Ende der Zweigeteiltheit und nach dem erhofften Bewusstwerden kommen kann.

Denn auch das ist die Lehre der Geschichte: die Geschichte enthält mehrere Alternativen. Diese kann man erkennen, oder aber man erkennt sie nicht. Und man kann unter ihnen wählen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts erkannten nur wenige die vor Europa stehenden Alternativen, und jene, die die Integration vorschlugen, wurden sowohl von den konservativen als auch von den linksgerichteten politischen Bewegungen zum Schweigen gebracht. Ob nun die Anforderung der Emanzipierung gehört wird oder nicht, das ist wieder die Frage einer Entscheidung.

2. Die EU ist nicht identisch mit Europa. Die Europäische Union und das geographisch-kulturelle Europa werden nie zusammenfallen. In der Angelegenheit der möglichen Grenzen der Union als territorial-verwaltungsmäßiger Einheit muss Stellung bezogen werden. Und es gilt auch Stellung zu nehmen hinsichtlich der den zukünftigen Nachbarn der Union gegenüber zu betreibenden Politik, in Bezug auf das Bündnissystem. Bisher herrschten in der Vorgeschichte der Union die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkte vor. Es ist an der Zeit, dass nun, wenn von den Grenzen der erweiterten Union gesprochen wird, auch der dritte Faktor, der menschlich-kulturelle Faktor berücksichtigt wird.

Ich mit vielen anderen zusammen beurteile es so, dass die Grenzen der Union im Grunde genommen auf die seit Jahrtausenden vom westlichen Christentum ausgearbeiteten Gesellschaften erweitert werden müssen. D. h. neben den jetzigen Völkern auch auf die Völker der zehn auf ihre Aufnahme wartenden Staatsgebiete (eventuell auch auf Israel) ausgedehnt. Auch dann, wenn die auf ihre Aufnahme wartenden Länder, was ihr kulturelles Erbe anbelangt, das Territorium einer sehr vielfältigen und gemischten (unter ihnen auch der östlich-orthodoxen) Überlieferung sind. Wie bei der Erweiterung endlich auch die fachlichen rationellen Verwaltungsgesichtspunkte in Betracht gezogen werden müssen: auf ein Gebiet welcher Größe es sich lohnt, in der Zeit der heutigen informatischen Revolution die Grenzen der nach identischen Prinzipien sich aufbauenden Verwaltungseinheiten auszudehnen.

3. Die Osterweiterung. Diese Ausdehnung, diese Erweiterung muss so schnell wie möglich vorgenommen werden. Sowohl das wirtschaftliche Aufeinander-Angewiesensein als auch die politisch-militärische Integration sind wichtig. Das identische wirtschaftlich-gesellschaftliche Niveau ist also nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für die politische Integration. Wie es auch im Falle von Südeuropa nicht so war. Von der Geschichte wird eher die umgekehrte Reihenfolge bestätigt (zuerst die politische, dann die wirtschaftlich-soziale Gemeinschaft.)

4. Die neue weltpolitische Konzeption. Die Europäische Gemeinschaft muss ihre weltpolitische Stellung durchdenken. Sie muss sich nicht nur gegenüber den USA emanzipieren, sondern sie muss sich auch öffnen hin zu den östlichen, russisch-ukrainischen Gebieten. Das Erbe des kalten Krieges muss auch auf diesem Gebiet beseitigt werden, und es gilt aufzumerken auf die Rohstoff- und Marktmöglichkeiten, die das Territorium der ehemaligen Sowjetunion bietet. Die USA und Japan verfügen über eine „Russlandstrategie”, die EU nicht, oder aber ist diese zumindest nicht publik gemacht worden. (Dies ist eine traurige historische Lehre des vergangenen Jahrzehnts, der Jahre zwischen 1989 und 1999.)

Die EU muss weiter ihr in den 1970er Jahren begonnenes Beziehungssystem neuen Typs innerhalb ihres eigenen Kulturkreises und darüber hinaus festigen. Von unseren Wirtschaftswissenschaftlern, Politologen und Strategen ist niedergeschrieben worden, dass im Produktionssystem der Welt und in ihrem geopolitischen System eine Umschichtung vor sich geht. Die EU hat ihre selbständige Wirtschafts- und Kulturpolitik zu festigen, wie dies die USA, Japan und China machen.

5. Der Mangel an europäischer Identität. Es gibt keine lebensfähige EU ohne eine europäische Identität. Es muss angestrebt werden, auch mit finanziellen Mitteln die vorhandenen und anwendbaren Elemente der europäischen Identität zu festigen. Es gilt, die Entstehung von Arbeiten zur europäischen Geschichte zu unterstützen. (Wir in Budapest hoffen zum Beispiel, dass wir innerhalb von zwei bis drei Jahren den Band unter dem Titel „Chronik Europas” fertigstellen werden, als neuen Band der auf der ganzen Welt bekannten Chronik-Serie – übrigens eines Bertelsmann-Unternehmens.) In die Reihe der Fächer zur Gegenwartskunde des Schulsystems (Geschichte, Geographie, Literatur, Künste) ist akzentuiert die europäische Thematik aufzunehmen. (Dies soll eine Voraussetzung für den Beitritt zur EU bilden. Dies ist mindestens so wichtig wie die wirtschaftlichen und militärpolitischen Gesichtspunkte.)

6. Zukunftsorientiertes öffentliches Denken. Mit kulturpolitischen Mitteln ist die Entstehung des selbstkritischen, aber dennoch auf die Zukunft orientierten öffentlichen Denkens zu unterstützen. Es gibt keine Überprüfung, keine Prozesswiederaufnahme in der Angelegenheit der zurückziehenden, negativen Erscheinungen unserer Geschichte. Weder in der Angelegenheit der beiden Weltkriege, noch in der der Massenmorde. Doch kann Europäer zu sein nicht nur ein „kollektives Schuldbewusstsein” bedeuten.

Erstens: Man muss die historischen Grundlagen der auch heute modernen europäischen Identität sehen. Viele können meine Kollegen aufzählen, ich würde jetzt nur drei erwähnen: die Offenheit zur Welt hin – Europa hatte keine Isolationsepochen wie China, Japan und die USA –; die Solidarität und die kulturelle Diversität, die Toleranz (von der bereits vorstehend die Rede war).

Zweitens: Wir müssen unsere Geschichte studieren, weil sie in ihrer Kontinuität in uns, unter uns lebt – doch muss das politische Denken befreit werden von den überlieferten europäischen (überwiegend deutschen) Traditionen des Historisierens. Die EU braucht ein Zukunftsbild. Seit Jahren wird immer wieder gesagt: „Wir sind zum Europa des Kulturpessimismus geworden. Neben der auf die Zukunft orientierten amerikanischen Schwesterkultur oder gegen sie.”

Die Behandlung: die Prävention

Brechen wir hier die Aufzählung der Probleme ab. Jene, die seit Jahrzehnten engagierte Anhänger der Erneuerung des europäischen Gedankens sind, könnten die Aufzählung dieser Fragenkomplexe fortsetzen. Eine für mich selbst niedergeschriebene, abschließende Schlussfolgerung kann ich aber doch nicht weglassen. Als ehrlicher Verehrer der Naturwissenschaften, als eifriger Leser ihrer wissenschaftlicher Produkte.

Von der modernen Medizin wird heute schon für ihre wichtigste Aufgabe die Verhütung der Krankheiten, die Prävention gehalten. Indem sie sich gegen jene Praxis wendet, die die Linderung der ausgebrochenen Krankheit, das Eingreifen für ihre Aufgabe gehalten hat. Die moderne Medizin sieht im Menschen nicht mehr auf technokratische Art und Weise eine biochemische, biophysikalische Einheit, sondern einen lebendigen, ein individuelles psycho- logisches und biologisches Leben lebenden Organismus. Von diesem Denken muss man lernen. Die Gesellschaftswissenschaften müssen heranwachsen. Sie müssen sich festigen. Sie müssen die wirklichen Prozesse der Gesellschaft untersuchen, müssen ständig auf die Konfliktquellen verweisen. Nicht nur hysterisch, durch das Beschwören oder durch militärpolitische Medikamente die Fieberattacken beheben, sondern mit politischen Mitteln die Herde der Entzündung beseitigen. Forscher und Politiker zusammen. Und das neue Studium der Quellen – der Geschichte – muss aufgenommen werden.