1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 4:39–54.

ALOIS RIKLIN

Die Schweiz im Alleingang?

Eine europa- und innenpolitische Lagebeurteilung

 

Die Zukunft des Kleinstaates Schweiz ist sowohl von den Entwicklungen des internationalen Umfeldes als auch von den eigenen Anstrengungen abhängig. Europapolitisch und sicherheitspolitisch ist die Schweiz aber stärker von der Außenwelt abhängig als vom eigenen Gestaltungsvermögen. Deshalb beginne ich mit einer Zustandsbeschreibung Europas, fahre fort mit einer Zustandsbeschreibung der Schweiz und nehme schließlich Stellung zum Handlungsbedarf der Schweiz. Eine Lagebeurteilung ist nie wertfrei. Meine Perspektive ist die eines schweizerischen Möchtegern-Europäers. Sie ist einstweilen noch ein Minderheitsstandpunkt, aber immerhin ein Standpunkt, der von einem Teil jener Stimmbürger geteilt werden könnte, die im EWR-Referendum vom 6.12.1992 das Volksmehr hauchdünn mit 49,7 Prozent der Stimmen verpasst haben.

 

Zwischenstand Europa

1667, neunzehn Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, veröffentlichte der deutsche Naturrechtslehrer Samuel Freiherr von Pufendorf in Genf ein kritisches Buch über die Verfassung des unheiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Darin kam er zum Schluss, dass das Römisch-deutsche Reich weder ein Staat noch ein Staatenbund, weder eine Republik noch eine Monarchie sei, ja dass es überhaupt in keine Kategorie der politischen Theorie passe und deshalb „monstro simile”, einem Monstrum ähnlich sei.

1996, sieben Jahre nach dem Fünfundvierzigjährigen Kalten Krieg, scheint auch die Gesamtverfassung Europas einem Monstrum ähnlich. Auch sie passt zu keinem Schema des Staats- und Völkerrechts. Dieses Monstrum ist weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat, sondern ein verschlungenes Netzwerk von internationalen und supranationalen Organisationen mit offenen Grenzen weit über das geographische Europa hinaus.

Es gibt ein Europa der 55 Staaten: die Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Es reicht von Vancouver bis Wladiwostok und von Zypern bis Spitzbergen. Die OSZE ist das umfassendste politische Forum Europas, in dem alle europäischen Staaten, ungeachtet ob groß oder klein, dazu die beiden nordamerikanischen und einige zentralasiatische Staaten, gleichberechtigt vertreten sind. Frage: Wie viele neue Staaten sind in Europa seit 1989 entstanden? 18! Während die Zahl souveräner Staaten am Ende des Dreißigjährigen Krieges um mehr als die Hälfte verringert worden ist, stieg sie im Rahmen der OSZE seit dem Ende des Kalten Krieges um gut die Hälfte. Die Sowjetunion ist in 15 Staaten, Jugoslawien in 5, die Tschechoslowakei in 2 zerfallen; nur ein Land, die DDR, wurde in einen andern Staat integriert. Frage: Wie viele der 55 OSZE-Staaten sind, gemessen an der Bevölkerungszahl, kleiner als die Schweiz? 28! Wie viele der 55 OSZE-Staaten sind bündnisfrei oder neutral? Über die Hälfte! Wie viele der OSZE-Staaten, die bevölkerungsmäßig kleiner sind als die Schweiz, sind bündnisfrei? Rund zwei Drittel! Also ist der bündnisfreie Kleinstaat vom europäischen Sonderfall zum europäischen Normalfall geworden. Die OSZE ist ein sicherheitspolitisches Forum unterhalb der Schwelle einer kollektiven Sicherheitsorganisation und erst recht unterhalb der Schwelle eines militärischen Bündnisses. Sie hat entgegen den Unkenrufen der Entspannungskritiker wesentlich zur Vorbereitung der antikommunistischen Revolutionen im Osten Europas beigetragen. Seither hat sie ihre Tätigkeit durch regelmäßige Treffen auf Minister-, Beamten- und Parlamentarierebene intensiviert. Durch die neu geschaffenen Institutionen der Troika-Führung, des Generalsekretariats in Wien, des Konfliktverhütungszentrums in Wien, des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau, des Forums für Sicherheitskooperation in Wien, des Hochkommisars für nationale Minderheiten in Den Haag, des Vergleichs- und Schiedsgerichtshofs in Genf, des Sekretariats für den Hohen Rat in Prag sowie einer Parlamentarischen Versammlung hat sich die „Konferenz” zur „Organisation” gewandelt. Endlich hat die Schweiz auch den Vorschlag für Verfahren friedlicher Streitschlichtung, obwohl mit Abstrichen, durchsetzen können. Trotz dieser Neuerungen ist die Handlungsfähigkeit der OSZE äußerst begrenzt. Der Grund liegt im Konsensprinzip, d.h. im Vetorecht oder mindestens im Opting-out jedes Mitgliedstaates, also jenem ineffizienten Prinzip, das der Schweizer Außenminister Max Petitpierre 1948 als „Schweizer Klausel” in das OEEC-Abkommen eingebracht hat und das die offizielle Schweizer Außenpolitik seither unentwegt hochhält.

Es gibt ein Europa der 39: den Europarat. Vor der osteuropäischen Revolution gehörten ihm alle nichtkommunistischen Staaten Europas an. Seither sind unter anderen Ungarn, Polen, Bulgarien, Slowenien, Litauen, Estland, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Rumänien, Andorra, Lettland, Albanien, Moldawien, die Ukraine und Russland dazu gestoßen. Im Gegensatz zu früher, beispielsweise der Schweiz, müssen sich die Neumitglieder verpflichten, dem Glanzstück des Europarats, der Europäischen Menschenrechtekonvention (EMRK), innert ein bis zwei Jahren beizutreten und zwar einschließlich Individualbeschwerde und Anerkennung des Straßburger Gerichtshofs. Mit dem Instrument der Konventionen – zurzeit, abzüglich der Totgeburten, über 120 – erfüllt der Europarat eine wichtige Funktion in der Harmonisierung des zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Rechts. Das ist äußerst effizient. Denn unter Anwendung der Formel für die arithmetische Reihe ergibt sich, dass bei 39 Mitgliedstaaten eine einzige multilaterale Konvention an die Stelle von 730 bilateralen Verträgen treten kann. Die wichtigsten Konventionen sind die EMRK und die Europäische Sozialcharta. Die EMRK ist 1951 aus der Erfahrung systematischer Menschenrechteverletzungen in totalitären Staaten geschaffen worden. Analog einer kollektiven Sicherheitsorganisation ist sie gleichsam ein Bündnis zum internationalen Schutz der Menschenrechte. Sie schafft im Bereich der Menschenrechte das Nichteinmischungsprinzip in die inneren Angelegenheiten ab und ersetzt es durch das Einmischungsprinzip. Zu diesem Zweck unterwirft sich jeder Mitgliedstaat „fremden Richtern”. So wie der Hauptzweck einer kollektiven Sicherheitsorganisation in der Kriegsverhinderung besteht, ist der Hauptzweck der EMRK die Verhinderung des Rückfalls in den Unrechtsstaat. Die Fälle, die vor die Straßburger Menschenrechtsorgane gelangen, sind nur der sichtbare Teil des Eisberges. Entscheidend ist die Prävention, nicht die nachträgliche Korrektur und Wiedergutmachung. Diese präventiven Leistungen der EMRK sind empirisch nicht belegbar. Fast die Hälfte der anwesenden Schweizer Ständeräte hat 1988 diesen Sinn und Zweck der EMRK nicht kapiert (15 von 31). Mit der Unterstützung des Aufbaus demokratischer Rechtsstaaten in Mittel- und Osteuropa hat sich der Europarat eine neue, anspruchsvolle Aufgabe zugelegt. Dadurch werden aber seine Organe zunehmend überlastet. Eine Strukturreform vor allem der EMRK drängt sich gebieterisch auf. Hier leistet die Schweiz ausnahmsweise Führungsarbeit.

Es gibt ein Europa der 16: das Nordatlantische Bündnis. Seine Funktion ist in einem tiefgreifenden Wandel begriffen. Um den Beitrittswünschen osteuropäischer Staaten auszuweichen, wurde in Konkurrenz zur OSZE der Nordatlantische Kooperationsrat (NAKR) ins Leben gerufen, dem alle Nachfolgestaaten des aufgelösten Warschauer Pakts beigetreten sind. Zurzeit gehören dem NAKR 40 Staaten an: die 16 NATO-Staaten plus 24 mitteleuropäische, osteuropäische und zentralasiatische. Den in die NATO drängenden Ländern Ost- und Mitteleuropas genügte dieses Trostpflaster nicht. Also erfand man ein zweites Verzögerungsinstrument: Die Partnerschaft für den Frieden (PFF), der auch neutrale Staaten beitreten können. Estlands Präsident, der Dichter Lennart Meri, verglich die PFF mit einem leeren Fläschchen Parfüm – hübsch anzuschauen, aber ohne Inhalt. NAKR und PFF waren anfänglich vorläufige Palliativmittel, um den Entscheid über die Osterweiterung der NATO hinauszuschieben und um ja die Entwicklung in Russland nicht negativ zu beeinflussen. Inzwischen ist aus der PFF doch mehr geworden (zurzeit 27 Mitglieder). Als Bündnis im Bündnis wurde in jüngster Zeit die Westeuropäische Union (WEU) aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Ihr gehören nur Mitgliedstaaten der Europäischen Union an, aber nicht alle; nicht dabei sind Irland und Dänemark. Um die WEU herum ist in jüngster Zeit ein Gewirr verschiedener Kategorien von „zugewandten Orten” entstanden Permanente Beobachter (4), assoziierte Mitglieder (3) und assoziierte Partner (9). Gemäß Maastrichter Vertrag soll die WEU als europäischer Pfeiler der NATO verstärkt und zur Verteidigungskomponente der Europäischen Union entwickelt werden.

Es gibt ein Europa der 15: die Europäische Union (EU). Sie umfasst über 90 Prozent der Bevölkerung Westeuropas und ist seit der osteuropäischen Revolution unverhofft zur mächtigsten Gestaltungskraft Europas geworden. Durch die Wiedervereinigung Deutschlands unter Zugzwang gesetzt, einigten sich die zwölf Regierungen auf den Maastrichter Vertrag. Dessen Kernstück ist die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion mit europäischer Währung und europäischem Zentralbankensystem, während insbesondere die Vertragsbestimmungen über die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik kaum über Absichtserklärungen hinausgehen. Der Maastrichter Vertrag wurde inner- und außerhalb der Schweiz zu einem Phantom aufgebauscht. Wenige haben ihn gelesen. Wer sich durch das 250seitige Vertragswerk durchbeißt, wird feststellen, dass sehr viel Luft drin steckt. Problematisch ist, dass termingemäß bestenfalls eine Minderheit der EG-Staaten die Bedingungen für den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion erfüllen wird und dass sich zwei Mitgliedstaaten – Großbritannien und Dänemark – nicht nur in Bezug auf die Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch in andern Vertragsbereichen die Entscheidungsfreiheit vorbehalten haben. Damit wird die bereits im Europäischen Währungssystem (EWS), im Schengener Abkommen, in der WEU sowie in der engeren militärischen Kooperation zwischen Frankreich, Deutschland und Belgien angelegte Tendenz zur differenzierten EG-Mitgliedschaft ausgeweitet. Also doch „Europe à plusieures vitesses” bzw. „géométrie variable”! Ich begreife deshalb die Aufregung um das Schäuble-Papier nicht und sehe auch keinen relevanten Unterschied zwischen dem Balladur- und dem Schäuble-Konzept. Beides ist Fortschreibung. Dennoch verlangte die EU in der laufenden Erweiterungsrunde die integrale Übernahme auch des Maastrichter Vertrages. Jacques Delors hat die Ausnahmeregeln für die alten EU-Mitglieder ironisch als Treueprämien toleriert. Die Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen haben hier Präjudizen geschaffen, um die die Schweiz bei einem allfälligen späteren EU-Beitritt nicht herumkommen wird. Das Programm zur Vertiefung und Erweiterung der EU ist atemberaubend: Ende 1993 Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages, Anfang1994 Inkraftsetzung des EWR-Vertrages, Sommer 1994 Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen, bis Ende November 1994 Volksabstimmungen in allen vier Ländern, September 1994 Beginn einer „strukturierten Zusammenarbeit” in Form regelmäßiger Ministertreffen mit östlichen Reformländern (zur Zeit Ungarn, Polen, Rumänien, Bulgarien, Tschechische und Slowakische Republik), 1995 EU-Beitritt von 3 Staaten und Nachvollzug des EWR-Beitritts Liechtensteins, 1996 Regierungskonferenz der 15 EU-Staaten über die Strukturreform, spätestens 1999 Eintritt eines Teils der EU-Staaten in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, voraussichtlich vor dem Jahr 2000 Beginn von Beitrittsverhandlungen mit mitteleuropäischen Staaten... Überraschungen sind wahrscheinlich – welche Überraschungen, darüber kann man nur mutmaßen.

Schließlich gibt es ein Europa der 4: die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA). Sie ist neuerdings aufgespalten in die gewichtige EWREFTA mit Beobachterstatus der Schweiz und in die unbedeutende ursprüngliche EFTA mit Mitgliederstatus der Schweiz. Seit 1995 ist die EFTA auf Liechtenstein, Island, Norwegen und die Schweiz geschrumpft.

Trotz der verwirrenden Vielfalt, die dem Monstrum des unheiligen Römischen Reiches deutscher Nation nicht nachsteht, trotz der verständlichen Kritik der früheren polnischen Ministerpräsidentin Hanna Suchocka, Westeuropa habe die Chance einer gesamteuropäischen Vision bisher nicht genutzt, zeichnen sich die dynamischen Konturen einer möglichen Architektur Europas ab. Alle aus der Liquidationsmasse des sowjetkommunistischen Reiches entstehenden neuen Staaten sollen, unter bestimmten Minimalbedingungen der Friedfertigkeit, in die OSZE aufgenommen werden bzw. in ihr bleiben dürfen. OSZE-Staaten, welche die demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Bedingungen erfüllen, werden zum Europarat zugelassen. Die auf dem Weg zur Marktwirtschaft sich befindenden Europaratsstaaten Osteuropas erhalten, so wie jüngst die Staaten Mitteleuropas, den EU-Assoziationsstatus, der günstiger ist als das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Die mit der EU assoziierten Staaten werden in einer „strukturierten Zusammenarbeit” an die EU herangeführt, und, wenn sie marktwirtschaftlich, demokratisch und rechtsstaatlich gefestigt sein werden, in die EU aufgenommen. Die Europäische Union soll aber zwischenzeitlich nicht an Ort treten, sondern sich weiterentwickeln, allenfalls mit variabler Geometrie. Und parallel dazu soll die Ausdehnung der NATO nach Osten und/oder der Ausbau der OSZE zu einem gesamteuropäischen kollektiven Sicherheitssystem geklärt werden.

Das ist freilich ein optimistisches Szenario. Es kann auch ganz anders kommen, wenn sich die katastrophale wirtschaftliche Lage in weiten Teilen des ehemaligen Sowjetimperiums nicht bessert, wenn der irrsinnige Krieg im ehemaligen Jugoslawien, die ungestrafte rassistische Barbarei der Massenvertreibung und Massenvernichtung, ja des Völkermordes, in anderen Konfliktherden Osteuropas Schule macht, wenn die Frage: Was ist schlimmer als der Kommunismus?, von immer mehr Opfern beider Regime, des kommunistischen und des postkommunistischen, so beantwortet wird: Schlimmer als der Kommunismus ist das, was nach ihm kommt. Aber selbst im ungünstigsten Fall chaotischer, konterrevolutionärer, kriegerischer und neoimperialistischer Entwicklungen im Osten Europas ist die Auflösung der westeuropäischen Integration unwahrscheinlich. Unmöglich ist fast gar nichts, auch nicht die Rückbildung der EU Richtung Freihandelszone. Die Stabilität des Kalten Krieges ist extremer Instabilität, Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit gewichen. Es gibt ein starkes Instabilitäts- und Chancengefälle von West nach Ost. Während im Westen der Nationalismus dank EU, Europarat und NATO gebändigt scheint, ist er in Ost- und Südosteuropa entfesselt. Dieser neue Nationalismus wirkt im Gegensatz zu jenem des 19. Jahrhunderts nicht integrativ, sondern desintegrativ. Je weiter nach Osten, umso geringer die Chancen für Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat und umso grösser die Ratlosigkeit. Der Westen gibt vor, die Reformen in Russland zu unterstützen, während die russische Führung so tut, als ob sie Reformen durchführte. Dem Dreißigjährigen Krieg folgte in Europa eine Periode relativen Friedens. Was uns nach dem Fünfundvierzigjährigen Kalten Krieg erwartet, wissen wir nicht.

Deshalb ist jedes politische Verhalten in gewisser Weise „ein Sprung ins Unbekannte”. Als Robert Schuman 1950 die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorschlug, sprach er auch von einem „saut dans l’inconnu”. Und er fügte hinzu: „Il faut convaincre les sceptiques qui ne voient que les risques et qui pensent à tort que le moindre risque consiste toujours a ne rien faire.” Abwarten und alle Optionen offen halten ist mindestens so riskant wie Engagement, aber der abwartende Zuschauer begibt sich freiwillig der Mitgestaltung. Was er nicht tut, das tun andere, aber wahrscheinlich anders. Damit sind wir beim Problemfall Schweiz angelangt.

 

Zwischenstand Schweiz

Wo steht die Schweiz rückblickend im Prozess der europäischen Zusammenarbeit? Von der Gründung an dabei war sie nur bei der KSZE (1973) und der EFTA (1960). Mit dem Beitritt zum Europarat (1963) haben wir 14 Jahre, mit der Ratifikation der EMRK (1974) 24 Jahre zugewartet, und 32 Jahre nach der Verabschiedung der Europäischen Sozialcharta hat der Nationalrat vor kurzem einen neuen Anlauf zum Beitritt unternommen. Ein Anschluss an die NATO stand nie ernsthaft zur Diskussion. 22 Jahre nach Gründung haben wir mit der EG ein Freihandelsabkommen geschlossen (1973), und 43 Jahre seit Gründung wollen wir gegenüber der EU immer noch alle Optionen offen halten. Das Verhalten der Schweiz gegenüber der europäischen Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit vollzog sich regelmäßig nach dem Muster: zuerst nein, dann vielleicht, schließlich mit Ach und Krach ein knappes Nein oder ein halbherziges Ja. Die Regel heißt Nachvollzug, autonomer Nachvollzug selbstredend, nachdem andere ohne uns die Weichen gestellt haben. Die Verspätungen von 14, 22, 24, 32, ja 43 Jahren erinnern an das Wort von Bundesrat Willi Ritschard: „Die Schweizer stehen früh auf, aber erwachen spät.”

Es scheint, dass wir auf die falschen Pferde gesetzt haben. Seit Gründung dabei sind wir ausgerechnet bei jenen beiden Gremien, die heute am unbedeutendsten sind: EFTA und OSZE. Im Europarat sind wir mit Verspätung aktiv geworden. Aber bei den heute wichtigsten europäischen Institutionen, NATO und Europäische Union, sind wir abwesend.

Seitdem die EU zur mächtigsten Gestaltungskraft in Europa geworden ist, gebührt die erste Priorität der Klärung unseres Verhältnisses zu dieser Gemeinschaft. Aber hier präsentiert sich die Schweiz als zersplitterte Nation ohne Handlungsfähigkeit. Gräben und Grabenkämpfe übers Kreuz wohin man auch blickt, von der Basis in Stadt und Land, Deutschschweiz und Romandie über die Aktionärsversammlung der größten Großbank bis ins Parlament und in den Bundesrat. Raymond Aron hat in seinem Buch „Paix et guerre entre les nations” die Macht eines Staates auf drei entscheidende Faktoren zurückgeführt: Raum, Ressourcen und kollektive Aktionsfähigkeit. Raum und Ressourcen eines Kleinstaates, zumal eines rohstoffarmen und exportabhängigen Kleinstaates mit geringer Autarkie wie der Schweiz, sind äußerst knapp und mit Ausnahme der Bildungspolitik kaum beeinflussbar. Umso wichtiger ist die staatliche Handlungsfähigkeit; sie ist eine beeinflussbare Hausaufgabe. Diese Hausaufgabe erfüllen wir schlecht. Die Handlungsblockade in der EU-Politik ist nur ein besonders markanter Fall unter vielen Politikbereichen. Wir treten an Ort oder bewegen uns am Rande des Status quo. Unser politisches System ist überbremst; das hat die Expertenkommission Furgler in ihrem Schlussbericht zur Totalrevision der Bundesverfassung, die wir nota bene seit 30 Jahren vor uns herschieben, schon 1977 diagnostiziert. Der Aufwand des vorparlamentarischen, parlamentarischen und nachparlamentarischen Entscheidungsprozesses ist enorm groß; aber der Ertrag ist äußerst gering. Vor allem in der Außenpolitik präsentieren wir uns als gespaltenes Land. Die Referenden über den UN-Beitritt (1986), den EWR-Beitritt (1992) und die Blauhelmvorlage (1994) haben einen Scherbenhaufen hinterlassen. Und die Annahme der Alpeninitiative (1994), die zwar ökologisch in die richtige Richtung zielt, aber ohne außenpolitisches Sensorium konzipiert worden ist, verzögerte den Beginn der bilateralen Verhandlungen mit der EU und belastet sie. Angesichts der Dynamik des europäischen Umfeldes bedeutet Stillstand aber Rückschritt.

Zur künftigen EU-Politik gibt es zurzeit in der Schweiz sechs Positionen. Die erste Position befürwortet den EWR-Beitritt und den späteren EU-Beitritt. Die zweite Position unterstützt den EWR, lehnt aber einen späteren EU-Beitritt ab. Die dritte Position ist gegen den EWR, aber für den EU-Betritt. Die vierte Position lehnt sowohl den EWR als auch die EU ab. Die fünfte Position verweigert jegliche Annäherung an die EU, selbst im Sinne eines bilateralen Arrangements. Die sechste Position schließlich besetzen die Unentschiedenen, die alle Optionen ohne Befristung offen halten wollen. Da ist guter Rat teuer.

Selbst wenn in nützlicher Frist ein einigermaßen befriedigendes bilaterales Arrangement mit der EU gelänge, so wäre damit bestenfalls ein Provisorium erreicht. Das staatspolitische Hauptproblem, d.h. die mitverantwortliche Mitgestaltung der Europäischen Union, die mitverantwortliche Mitgestaltung einer demokratischeren, rechtsstaatlichen, föderalistischeren, sozialstaatlichen, marktwirtschaftlichen, ökologischeren, sicheren, friedfertigen, solidarischeren und wertoffenen Europäischen Union – dieses staatspolitische Hauptproblem bliebe ungelöst. Gewiss darf man den potentiellen Einfluss der Schweiz nicht überschätzen. Die Schweiz ist ein Kleinstaat. Unter den 55 OSZE-Staaten besetzt sie territorial den 38. und bevölkerungsmäßig den 25. Rang. Aber wirtschaftlich ist sie eine Mittelmacht; sie belegt nämlich immerhin den 9. Rang, befindet sich also in der Auf-/Abstiegsrunde der Europa-Liga A. Die Schweiz ist der zweitgrößte Kunde und der drittgrößte Lieferant der EU. Luxemburg gibt ein gutes Beispiel. Obwohl zwanzig Mal kleiner als die Schweiz, hat Luxemburg die EU stärker zu beeinflussen vermocht als die ehemalige Weltmacht Großbritannien. Warum? Weil Luxemburg von Anfang an dabei war; weil Luxemburg ganz auf Europa setzte; und weil Luxemburg tüchtige Persönlichkeiten in die EU schickte. Stattdessen rutschen wir auf der schiefen Ebene der Marginalisierung immer weiter nach unten. De facto sind wir stärker in die EU integriert als die meisten Mitgliedstaaten. Faktische Integration ohne Mitbestimmung führt aber in einem schleichenden, im Einzelfall kaum spürbaren, in der Summe der Einzelfälle aber ins Gewicht fallenden langfristigen Prozess geradewegs in die Abhängigkeit. Schon vor Eurolex und Swisslex haben wir Gesetz um Gesetz dem EG-Recht angepasst, beispielsweise im Markenrecht, im Urheberrecht, im Widerrufsrecht für Haustürgeschäfte, im Lebensmittelrecht, im Agrarrecht, im Aktienrecht (Vinkulierung), im Ausländerrecht usw. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts gerät zunehmend in den Sog der EU-konformen Auslegung; jüngste Beispiele sind die Produktehaftpflicht und die Beweislastumkehr für ungleiche Bezahlung von Mann und Frau. Offenkundig lassen sich Innen- und Außenpolitik nicht mehr trennen. Vielmehr bestimmt und durchdringt die Außenwelt in zunehmendem Maß die Innenpolitik. Ein Ständerat aus einem äußerlich idyllischen Landsgemeinde-Halbkanton hat unlängst die Meinung geäußert, der Bundesrat habe nicht begriffen, dass Außenpolitik, richtig verstanden, nichts anderes zu leisten habe als die Ausführung der Innenpolitik. Hier liegt eine weltfremde Selbsttäuschung vor. Tatsächlich verhält es sich eher umgekehrt. Tatsächlich wird Innenpolitik immer mehr eine Ausführung der Außenpolitik. Wir haben keine freie Wahl. Selbstbehauptung des Kleinstaates verlangt internationale Präsenz und Mitwirkung. „Wir befinden uns in der Einfluss-Sphäre der Europäischen Gemeinschaft”, erklärte Bundesrat Brugger 1972; aber im gedruckten Text der Rede war dieser Satz gestrichen! Wer auf sein nationales Schicksal einwirken will, muss international mitwirken. In dem Masse, in dem unsere Unabhängigkeit durch sogenannte autonome Nachvollzüge schrumpft, in dem Masse schrumpft auch unsere direktdemokratische, repräsentativdemokratische und föderalistische Handlungsfreiheit. Es ist ein kapitaler, formaljuristischer Irrtum zu glauben, wir könnten unsere Unabhängigkeit behaupten, wenn wir uns nur von EWR und EU fernhalten. Selbst wenn man Außenpolitik nur in den obsoleten Kategorien des nationalen Interesses begreift, sind internationale Solidarität und Mitverantwortung unabdingbare Gebote. Je länger die Schweiz in der Position des Abwartens, Zuschauens und Alle-Optionen-offen-Haltens verharrt, desto mehr nähert sie sich einem scheinsouveränen, scheinautonomen Nachvollzugsland.

Eine realistische schweizerische Europapolitik wird erschwert durch das Zerrbild der EU, das sich in vielen Köpfen der Schweizer Bürger und Bürgerinnen festgesetzt hat. Es ist das Bild eines undemokratischen, zentralistischen, bürokratischen, regelungssüchtigen, mobilitätsbesessenen, materialistischen, hegemonialen Ungeheuers. Freilich, pauschale Fehleinschätzungen solcher Art scheinen nicht nur in der Schweiz, sondern auch innerhalb der EU, etwa in Deutschland, weit verbreitet. Auch wird man mühelos Indizien zum Nachweis des Sündenregisters finden, von der Karamel-Verordnung mit ihren 26 911 Worten bis zur Bananen-Ordnung. Umgekehrt fällt es nicht schwer, entsprechende Auswüchse in den schweizerischen Agrarverordnungen zu entdecken. Meine Schweizer Zuhörer glauben mir oftmals nicht, wenn ich die Tatsache erwähne, dass Kanton und Stadt Zürich mehr Beamte beschäftigen als die EU. So undemokratisch ist die EU nicht, wie viele meinen; denn immerhin sind alle Grundverträge von allen nationalen Parlamenten genehmigt und in einigen Mitgliedländern sogar zusätzlich durch Volksabstimmungen sanktioniert worden; und immerhin sind alle EU-Organe demokratisch gewählt, direkt oder indirekt. Die Kommission ist nicht ein diktatorisches Gremium; denn letztlich entscheidet im Rahmen der demokratisch legitimierten Grundverträge der demokratisch legitimierte Rat, d.h. ein aus Regierungsmitgliedern aller Mitgliedstaaten zusammengesetztes Organ. Eine ausgewogene Beurteilung wird zudem auch Gegenindizien und überzeugende Begründungen für angebliche Fehlentwicklungen geltend machen können. Vor allem aber wird eine aufs Ganze gehende Bewertung den Qualitätssprung herausstellen, den die EU neu in die anarchischen internationalen Beziehungen eingebracht hat, nämlich das Beispiel eines freiwilligen Zusammenschlusses von der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten, demokratischen Rechtsstaaten zu einer Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft mit überproportionalem Einfluss der kleineren Staaten, mit dem Zweck der Friedenssicherung zwischen den Mitgliedstaaten und mit dem Ziel der schrittweisen Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft. Der politische Sinn der EU lässt sich nicht rechnen. Die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile von EWR und EU abzuschätzen, ist eine notwendige, aber keine hinreichende Entscheidungsgrundlage. EWR und EU als bloße Rechenexempel ökonomischer Nutzenmaximierung zu verstehen, ist Ausdruck eines politisch naiven, provinziellen Krämergeistes.

 

Handlungsbedarf Schweiz

Der Schweizer Historiker Herbert Lüthy hat vor über dreißig Jahren in einem schmalen Bändchen mit dem Titel „Die Schweiz als Antithese” ein geradezu prophetisches Wort niedergeschrieben: „Jedermann spürt mehr oder weniger deutlich, dass all dies (Lüthy meinte u.a. die historisch gewachsenen politischen Einrichtungen der Schweiz – A.R.) einer neuen Überprüfung bedarf und dass ein dauerndes Durchwursteln ohne neue grundsätzliche Entscheidungen schließlich in eine Krise der Institutionen führt. Eine Krise, die sich mit einer noch schwerwiegenderen verbinden könnte, nämlich derjenigen unserer Beziehungen mit der in voller Wandlung begriffenen Außenwelt...” Genau dies ist unser Doppelproblem heute: Aufgestauter innerer Reformdruck und gesteigerte Anforderungen einer äußerst dynamischen Außenwelt. Was wir jahrzehntelang verpasst haben, bricht jetzt gleichzeitig von allen Seiten auf uns herein. Wie sollen wir alles gleichzeitig schaffen: Regierungsreform, Parlamentsreform, Justizreform, Volksrechtereform, Armeereform, Ausländerproblem, Drogenproblem, Staatsverschuldung, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit... und das alles in Verbindung mit einer Neuausrichtung der Außenpolitik und insbesondere der Europapolitik?

In Polen habe ich das sarkastische Bonmot aufgegabelt: „Es gibt zwei Möglichkeiten! Entweder der liebe Gott steigt zur Erde nieder und wirkt ein Wunder, oder wir schaffen es aus eigener Kraft – das erste ist wahrscheinlicher.” Aber die Polen würden sagen: „Eure Probleme möchten wir haben!” Und so hoffe ich doch, dass wir es aus eigener Kraft schaffen.

Was ist zu tun? Was wollen wir? Oder korrekter: Was sollten wir nach meiner unmaßgeblichen Meinung wollen?

Wir wollen

– die kollektive Aktionsfähigkeit wiedergewinnen,

– den Trend der Marginalisierung zu einem scheinsouveränen, scheinautonomen Nachvollzugsland stoppen und wenden,

– die Europafähigkeit erhalten, soweit vorhanden, bzw. die Europafähigkeit gewinnen, soweit wir sie verloren haben oder ohne eigenes Zutun verlieren würden,

– die militärische Bündnisfähigkeit unter Beibehaltung der Bündnisfreiheit, aber einer auf den völkerrechtlichen Kerngehalt zurückgestuften Neutralität verbessern,

– die europapolitische und weltpolitische Mitverantwortung durch Mitgestaltung besser als bisher wahrnehmen,

– die Tatbeweise internationaler Solidarität vermehren.

Zu diesem Zweck

– verstärken wir die Entwicklungszusammenarbeit in Europa und Übersee unter Konzentration auf unsere eigenen Stärken, d.h. viele kleine statt wenige Großprojekte, selbständiges Kleingewerbe, Lehrlingsausbildung, bürgernahe Gemeindestrukturen usw.,

– verstärken wir die Katastrophenhilfe vor Ort im Sinne der vollständigen Erfüllung der Motion von Kurt Furgler aus dem Jahre 1967 bzw. des ähnlich lautenden Vorschlags von Peter Arbenz aus dem Jahre 1992,

– verstärken wir die friedensfördernde Komponente unserer Außen- und Sicherheitspolitik durch Konfliktprävention, präventive Diplomatie, Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen und der OSZE, Mitwirkung am Aufbau eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa, Pflege unseres alt neuen Eigengewächses der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, Bereitstellung eines Pools von Diplomaten, die nichts anderes zu tun haben als die Möglichkeiten guter Dienste zu wittern und mit kreativer Professionalität nach dem Vorbild des verstorbenen norwegischen Außenministers klug, d.h. mit Vorsicht, Umsicht und Voraussicht zu wagen,

– fördern wir den internationalen Menschenrechteschutz, nicht nur, aber ganz besonders in den traditionellen Stoßrichtungen der Schweizer Außenpolitik, d.h. im humanitären Kriegsvölkerrecht und im Kampf gegen die Folter,

– setzen wir uns an vorderster Front ein für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, national und international,

– reorganisieren wir unser bilaterales diplomatisches Netz, nicht durch Abbau, sondern durch Um- und Ausbau vor allem in Mittel- und Osteuropa,

– arbeiten wir im Europarat und in der OSZE aktiv und initiativ mit,

– ziehen wir das Projekt eines bilateralen EU-Arrangements mit vollem Einsatz durch, aber im Bewusstsein, dass es bestenfalls eine Zwischenlösung bringen und den EU-Beitritt nicht ersetzen kann,

– sichern wir in einem dauernden Prozess die innenpolitische Europafähigkeit durch europakompatible Reformen der Institutionen und Politiken,

– führen wir eine nicht nachlassende, in die Breite und Tiefe gehende Diskussion über Europa und den Platz der Schweiz in Europa (anstelle eines einzig an hohen Einschaltquoten orientierten, Emotionen schürenden statt Sachkenntnis vermittelnden, demagogischen Showboxens am Bildschirm).

 

Dieser noch zu grobe Maßnahmenkatalog stimmt weitgehend mit dem außenpolitischen Konzept des Bundesrates vom November 1993 überein. Nichtübereinstimmung besteht indessen in Bezug auf die Motive und den Zweck der Außenpolitik. Da lese ich im Bundesratsbericht auf Seite e.: „Außenpolitik bedeutet primär Interessenwahrung nach außen.” Und sekundär? Die sekundäre Zwecksetzung findet sich im Bericht nirgends explizit. Aber auf Seite 7 wird das primäre Motiv, nationales Interesse, zum exklusiven Zweck der Außenpolitik gesteigert. Es heißt dort: „Die Interessenwahrung ist nicht nur Ziel und Mittel der Außenpolitik, sondern ihre primäre Aufgabe, ein alles durchdringendes Motiv, gewissermaßen Rechtfertigung und Beweggrund jeglicher außenpolitischer Aktivität.” Und die internationale Solidarität? Sie wird zwar in der Folge mehrfach erwähnt, aber im Sinne: wenn die Solidaritätserwartungen des Auslandes gegenüber der Schweiz sozusagen kein Entkommen mehr ermöglichen, dann muss sich die Schweiz eben im eigenen nationalen Interesse solidarisch zeigen. Aus meiner subjektiven Sicht ist diese nationalistische Ausrichtung peinlich und beschämend – eine Konzession, ein verbaler Kniefall vor den Nationalisten, Chauvinisten und Provinzialisten in unserem Lande. Offensichtlich hat hier jemand bei der Endredaktion mit dem Rotstift zurückbuchstabiert. Denn im Neutralitätsanhang zum Bundesratsbericht hat die internationale Solidarität noch ihren angemessenen Platz. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Ökonomen des Bundesamtes für Außenwirtschaft im Mitberichtsverfahren diese Verschlimmbesserung zu verantworten hätten. Denn es gehört ja zum vorherrschenden Credo der westlichen Volkswirtschaftler, dass jedes Individuum, jedes Unternehmen, jede Partei und eben auch jeder Staat primär seine Interessen verfolgt und dass dann eine unsichtbare Hand das Gemeinwohl hervorzaubert. Republikanische Gemeinwohlorientierung passt nicht ins Bild dieser liberalistischen Rechtfertigung der Partikularinteressen. So wird das Laster des Egoismus einschließlich des Nationalegoismus als „Interesse” kaschiert.

Gottfried Keller schrieb in den Entwürfen zum „Grünen Heinrich” (um 1850): „Allerdings ist es eine Eigenschaft auch der wahren Vaterlandsliebe, dass ich fortwährend in einer glücklichen Verwunderung lebe darüber, gerade in diesem Lande geboren zu sein, und den Zufall preise, dass er es so gefügt hat; allein diese schöne Eigenschaft muss gereinigt werden durch die Liebe und Achtung vor dem Fremden, und ohne diese große und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgerthumes ist der Patriotismus ein wüstes, unfruchtbares und todtes Ding.”

Meines Wissens hat bisher niemand – weder im Parlament noch in den Medien – den Finger auf diese wunde Stelle des Bundesratskonzepts gelegt. Stattdessen hat man sich beim Endgerangel im Bundesrat und der anschließenden Parlamentsdebatte fast ausschließlich auf die Frage „Strategisches Ziel EU-Beitritt? Ja oder Nein?” fixiert. Da freilich scheint mir der heißumstrittene Mehrheitsentscheid des Bundesrates richtig. Warum?

Natürlich gebe ich zu, dass der Bundesrat mit seinem überraschenden Kurswechsel vom 19. Oktober 1991 die EWR-Volksabstimmung aufs schwerste belastet hat. Ohne diese Belastung wäre zwar nicht das Ständemehr, wohl aber das Volksmehr zustande gekommen, und wir stünden jetzt um vieles besser da. Auch trifft es zu, dass die Vorgabe EU-Beitritt als strategisches Ziel ein allfälliges bilaterales EU-Arrangement in der Volksabstimmung belasten wird. Es spaltet die mehr oder weniger europäisch Gesinnten und treibt einen Teil der Gemäßigten ins Lager der Anti-Europäer.

Dennoch scheint mir die Verkündung des strategischen Ziels EU-Beitritt richtig. Zur Begründung muss ich die Haltung des Bundesrates seit Gründung der ersten Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1951 in Erinnerung rufen. Von 1951 bis 1971 war die Einstellung des Bundesrates gegenüber der EG negativ. Wenn nicht öffentlich, so konnte man doch unter vorgehaltener Hand vor allem aus dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement bis hinauf zur Spitze vernehmen: „Die spinnen! Das wird nie funktionieren! Diese intellektuelle Fehlkonstruktion wird über kurz oder lang wie ein Kartenhaus zusammenbrechen!” Im EG-Bericht von 1971, ausgelöst durch die Motion Furgler, vollzog der Bundesrat nicht ohne Mühe den ersten Schwenker. Nun hieß es, die EG sei eine gute Sache, sei durchaus auch in unserem Interesse, aber bitte ohne uns. Für uns genüge ein Freihandelsabkommen plus, möglichst bilateral, notfalls multilateral. So blieb es während der zweiten 20-Jahresperiode. Noch in den Bundesratsberichten von 1988 und 1990 wurde argumentiert, wir müssten ein EG-Arrangement anstreben, um den EG-Beitritt zu verhindern. Der zweite Schwenker vom Oktober 1991 erfolgte aus der Einsicht, dass wir so oder so, mit oder ohne bilaterales Arrangement, mit oder ohne EWR in zunehmende Abhängigkeit von der Europäischen Union geraten und dass wir nur durch Beitritt Mitbestimmung erlangen können. Nun kann man aber 20 Jahre Anti-EG-Information und weitere 20 Jahre Anti-EG-Beitrittsinformation nicht mit einem Federstrich aus der Welt schaffen. Dazu braucht es eine langfristige, nachhaltige Überzeugungsarbeit. Leider drücken sich die meisten Parlamentarier und Parteien vor dieser Überzeugungsarbeit.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, zur Zeit der Churchill-Rede in Zürich und der Schuman-Rede in St. Gallen, gab es in der Schweizer Bevölkerung eine echte Europabegeisterung. Diese Chance wurde nicht genutzt. Vielmehr haben die politischen Verantwortungsträger alles getan, um sie zu dämpfen. Der Mythos der aufgeplusterten Neutralität ist nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt von oben nach unten entstanden. Selbst der Beitritt zum Europarat wurde in den fünfziger Jahren vom damaligen Außenminister Max Petitpierre als neutralitätswidrig erachtet. Die Weichen wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg falsch gestellt. Jetzt haben wir Mühe, die Geister loszuwerden, welche damals von den Regierenden geweckt worden sind.

Die Parallele zu den Vereinten Nationen drängt sich auf. 1945 verzichtete der Bundesrat entgegen den Empfehlungen der Expertenkommission auf den UN-Beitritt. Von 1945–1969 vertrat er die Auffassung, ein Beitritt der Schweiz komme aus Gründen der Neutralität nicht in Betracht. Im Bericht 1969 schwenkte der Bundesrat auf eine positive Beurteilung der UNO ein, wollte aber den UN-Beitritt erst einmal prüfen. Im Bericht 1977 hielt der Bundesrat den UN-Beitritt für wünschbar, verzichtete aber auf einen Beitrittsantrag, weil das Volk noch nicht so weit sei. Als dann der Bundesrat 1981 die Beitrittsbotschaft veröffentlichte, reichte die Zeit bis zum Referendum von 1986 nicht, um 35 Jahre Anti-UN-Information bzw. Ohne-uns-Information aus den Köpfen der Stimmbürger zu verdrängen. Nachdem die Politiker jahrzehntelang landauf, landab gepredigt hatten „Wir sind zwar dafür, aber das Volk ist skeptisch” hat es ihnen das Volk schließlich geglaubt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wäre der UN-Beitritt wahrscheinlich möglich gewesen, so wie der Völkerbundsbeitritt nach dem Ersten.

Diesen Fehler sollten wir nicht nochmals wiederholen. Kurzfristiges Herumwerfen des Steuers greift in der direkten Demokratie nicht. Wer den EU-Beitritt für richtig hält, darf damit nicht hinter dem Berg halten, sondern er muss ohne Verzug dafür kämpfen und gegen den Strom schwimmen. Nur so ist in der direkten Demokratie über Jahre ein Stimmungsumschwung zu erreichen. Dieser Stimmungsumschwung geschieht nicht von selbst. Je weniger sich die Befürworter des EU-Beitritts in Regierung, Parlament, Parteien, Verbänden und Privatwirtschaft aus Angst vor den Wählern öffentlich dazu bekennen, desto länger betreiben sie durch ihr Schweigen das Geschäft der Gegner. Das ist der Teufelskreis der direkten Demokratie. Und das ist der Grund, weshalb der kurz- und mittelfristige taktische Nachteil zugunsten des langfristigen strategischen Vorteils in Kauf genommen werden muss. Et respice finem!

 

Mitgliedschaften in europäischen Organisationen
Stand: 1. Mai 1996

OSZE

ER

NATO

NAKR

PFF

WEU

EU

EWR

SD

EFTA

Albanien

3

3

3

Andorra

3

3

Armenien

3

3

3

Aserbaidschan

3

3

3

Belarus

3

¡3

3

3

Belgien

3

3

3

3

3

3

3

3

Bosnien-

Herzegowina

3

¡3

Bulgarien

3

3

3

3

¡6

3

Dänemark

3

3

3

3

¡4

3

3

3

Deutschland

3

3

3

3

3

3

3

3

Estland

3

3

3

3

¡6

3

Finnland

3

3

¡2

3

¡4

3

3

3

Frankreich

3

3

3

3

3

3

3

3

Georgien

3

3

3

Griechenland

3

3

3

3

3

3

3

3

Großbritannien

3

3

3

3

3

3

3

3

Irland

3

3

¡4

3

3

3

Island

3

3

3

3

¡5

3

37

Italien

3

3

3

3

3

3

3

3

Jugoslawien (ex)

31

3

3

Kanada

3

3

3

Kasachstan

3

3

3

OSZE

ER

NATO

NAKR

PFF

WEU

EU

EWR

SD

EFTA

Kirgistan

3

3

3

Kroatien

3

Lettland

3

3

3

3

¡6

3

Liechtenstein

3

3

3

37

Litauen

3

3

3

3

¡6

3

Luxemburg

3

3

3

3

3

3

3

3

Malta

3

3

¡2

3

Mazedonien

3

3

3

3

Moldova

3

3

3

3

Monaco

3

Niederlande

3

3

3

3

3

3

3

3

Norwegen

3

3

3

3

¡5

3

37

Österreich

3

3

¡2

3

¡4

3

3

3

Polen

3

3

3

3

¡6

3

Portugal

3

3

3

3

3

3

3

3

Rumänien

3

3

3

3

¡6

3

Russland

3

3

3

3

San Marino

3

3

Schweden

3

3

¡2

3

¡4

3

3

3

Schweiz

3

3

Slowakische

Republik

3

3

3

3

¡6

3

Slowenien

3

3

3

3

Spanien

3

3

3

3

3

3

3

3

Tadschikistan

3

3

Tschechische

Republik

3

3

3

3

¡6

3

Türkei

3

3

3

3

¡5

Turkmenistan

3

3

3

Ukraine

3

3

3

3

Ungarn

3

3

3

3

¡6

3

USA

3

¡

3

3

Usbekistan

3

3

3

Vatikan

3

Zypern

3

3

Total
Mitglieder

55

39

16

40

27

10

15

18

24

4

Legende:

OSZE    Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit Europa              (seit 1975)

ER          Europarat (seit 1949)

NATO   Nordatlantikpakt (seit 1949)

NAKR   Nordatlantischer Kooperationsrat (seit 1991)

PFF        Partnerschaft für den Frieden (seit 1994)

WEU     Westeuropäische Union (seit 1954)

EU          Europäische Union (seit 1951)

EWR      Europäischer Wirtschaftsraum (seit 1992)

SD          Strukturierte Dialog mit der EU (seit 1994)

EFTA     Europäische Freihandelsassoziation (seit 1960)

3             Mitgliedsstatus

m            Sonderstatus

1             Mitgliedschaft sistiert

2             Beobachterstatus

3             Gästestatus in Parlamentarischer Versammlung

4             Permanenter Beobachter

5             Assoziiertes Mitglied

6             Assoziierter Partner

7             EWREFTA

Copyrigt Institut für Politikwissenschaft, Universität St. Gallen