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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:47–60.

ELS OKSAAR

Mehrsprachigkeit und interkulturelle Verständigung in Europa

 

1. Einführung

Europa ist ein Kontinent im dynamischen Umbruch. In einer Zeit der zunehmenden Internationalisierung verschiedener Bereiche der Lebenswelt ist man nicht nur in den Staaten der Europäischen Union gut beraten, über internationale Kommunikationsmöglichkeiten, deren Mittel und deren Erwerb genauer als früher nachzudenken. Es ist bekannt, dass Politiker und Festredner seit langem gerne von der Wichtigkeit der Völkerverständigung und der Notwendigkeit zum Dialog zwischen den Völkern reden. Nicht selten aber scheint es, dass sie sich über den Weg dazu – interkulturelle Kommunikation und ihre konkreten Voraussetzungen – weniger, wenn überhaupt, Gedanken gemacht haben, obwohl fast jedes Land von den multidimensionalen Frage- und Problemkomplexen der interkulturellen Verständigung berührt ist.

Einerseits ist der Bedarf an interkultureller Verständigung bedingt durch die technisch-ökonomische Entwicklung mit zunehmenden wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Völkern und Staaten. Andererseits tragen auch der weltweite Tourismus, die steigende Mobilität der Arbeitskraft, sowie die politisch und ökonomisch bedingten Völkerwanderungen und andere Mobilitätsgründe erheblich dazu bei, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachgemeinschaften begegnen, dass sie zusammenarbeiten und miteinander auskommen müssen. In ihrer Interaktion müssen dann viele auf die vertrauten Kommunikationsmittel verzichten. Andere Sprachen und Verhaltensweisen als die einheimischen müssen zur Verständigung und zur Interpretation neuer soziokultureller Umgebungen eingesetzt werden. In derartigen Fällen kann es leicht zu Fehlinterpretationen kommen, die einerseits zu Missverständnissen oder zum Nichtverstehen führen, andererseits aber auch zur Irritation und zu Vorurteilen über das Partnerverhalten in der Kommunikation.

Zur Veranschaulichung derartiger Situationen sei auf Folgendes hingewiesen. Sprachen sind verglichen worden mit Schlüsseln zur Welt. Je größer der Schlüsselbund, desto mehr Türen können geöffnet werden, desto mehr Möglichkeiten zum Kontakt ergeben sich mit den Menschen in der Welt. Aber Vorsicht! Dieses schöne Bild verschweigt etwas Wesentliches: Man übersieht nämlich leicht, dass sich hinter jeder Tür ein sehr glatter Fußboden befinden kann, auf dem man leicht ausrutscht, wenn man nicht weiß, wie man sich zu bewegen hat. Je besser man eine Sprache spricht, desto mehr setzen diejenigen, die diese Sprache als Muttersprache beherrschen, voraus, dass man auch die mit der Sprachverwendung verbundenen situationsadäquaten Verhaltensweisen Kultureme und Behavioreme – beherrscht. Dies ist aber keineswegs immer der Fall. Und damit bin ich schon beim Thema meines Vortrages, das ich aus der Perspektive behandeln möchte, die auf einige Probleme der interkulturellen Verständigung aufmerksam macht. Dies geschieht in drei Abschnitten. Erstens werde ich den Hintergrund der gewählten Perspektive etwas konkretisieren; dies schließt einen Blick auf die Europäische Union und einige begriffliche Erklärungen ein. Zweitens werde ich dann, im Hinblick auf die heutige sprachliche Situation Europas exemplarisch auf einige Problemfelder der Kommunikation eingehen und drittens als Ausblick Vorschläge zur Sprachenpolitik Europas machen.

 

2. Konkretisierung der Betrachtungsperspektive

2.1. Zur Europäischen Union

Die grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen, die es für die Mitgliedsstaaten der Union gibt und geben wird, haben Hoffnungen, Erwartungen, aber auch Befürchtungen hervorgerufen. Der gemeinsame Binnenmarkt und die beruflichen Mobilitätsmöglichkeiten werfen eine Reihe von Fragen auf, auch was die gegenseitige Verständigung betrifft. Landesgrenzen sind vielfach geöffnet worden, seit der zweiten Märzhälfte 2001 ist es möglich, von Lappland bis Sizilien ohne Grenzkontrollen gemäß dem Schengener Abkommen durchzukommen. Ebenso sind Zollbarrieren vielerorts abgeschafft worden – wie steht es aber mit Verständigungsbarrieren? Hat man überhaupt ernsthaft an sie gedacht? Wohl kaum, denn die heute zentrale Frage – Kommunikation und Verständigung – war den Vätern und Müttern der Europäischen Integration nicht so wichtig, wie sie es verdient hätte. Sie haben die Sprachenfrage des Binnenmarkts nicht thematisiert. Aber auch die weitere Planungsgeneration hat es versäumt, sich mit dieser Frage ernsthaft zu befassen. Da es bekanntlich nicht möglich ist, Sprache von gesellschaftlichen Prozessen zu lösen, im Gegenteil, diese werden erst durch die Sprache möglich, nimmt es wunder, dass in den Diskussionen im Problemkreis der Europäischen Integration die Frage der Verständigung der europäischen Völker vernachlässigt worden ist. Wenn die Europäische Union auch am Anfang Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und dann Europäische Gemeinschaft war, und die Diskussionen vorwiegend auf der technisch-wirtschaftlichen und politischen Ebene geführt wurden, und die Zahl der Mitgliedsstaaten kleiner war als heute, so darf nicht vergessen werden, dass jegliche Art der Integration auch immer eine ganze Reihe von linguistischen Fragen zu bewältigen hat, wenn es um Menschen geht.

Ich denke hier gar nicht so sehr an die Schwierigkeiten, die durch die Sprachenfrage in den Institutionen der Union vorherrschen, da alle relevanten Entscheidungen sowie Rechtsakte in 11 Amtssprachen übersetzt und veröffentlicht werden müssen und notgedrungen Perspektivenverschiebungen mit sich führen. So steht in juristischen Texten dem deutschen Wort Belastungszeuge das englische witness for the prosecution gegenüber. Im Deutschen handelt es sich um eine Bezeichnung, die aus der Sicht des Angeklagten herstammt, im Englischen ist es die Sicht des Anklägers, es bedeutet „Zeuge der Anklage”. Ich denke auch in erster Linie nicht an die komplizierte Sprachmittlung in den Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments in Straßburg, in denen es keine Simultandolmetscher für alle Sprachen gibt und die Dolmetscher zuerst auf eine der zwei Relaissprachen zurückgreifen müssen. Das heißt, eine spanische Rede wird simultan ins Englische und Französische übersetzt und der dänische oder finnische Dolmetscher hat auf eine von diesen zurückzugreifen; mit der Folge, dass die Dänen und die Finnen immer zuletzt lachen, wenn es etwas zu lachen gibt (vgl. Oksaar 1995).

Ich denke daran, dass es in Europa nicht allein um die Organe der Union, um die Wirtschaft und um die rund 4000 Mitarbeiter des Sprachendienstes der Europäischen Union, sondern auch um die Bürger gehen muss, von Lappland bis Sizilien. Wie steht es mit ihrer Sprachenbeherrschung? Wahrscheinlich nicht so überwältigend gut, denn es wird ja bekanntlich vorgeschlagen, dass jeder europäische Bürger neben seiner Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen lernen sollte, um in Europa leichter leben zu können. Aber welche Sprachen sollen es sein? Ein mehrsprachiger Finne mit Finnisch, Deutsch und Schwedisch kann einen mehrsprachigen Franzosen mit Französisch, Englisch und Italienisch nicht verstehen. Eine lingua franca, wie Englisch als Weltsprache es ja in vielen Bereichen schon ist? Oder auch mehr als eine? Es gibt keine Patentlösungen, die Notwendigkeit einer europäischen Verkehrssprache, mindestens einer, ist nach dem Zweiten Weltkrieg mit wechselnder Intensität immer wieder hervorgehoben worden (Oksaar 1994). Welche man außerdem braucht, hängt natürlich von Einzelbiographien ab. Die Sprache der Nachbarn zu beherrschen hat sich z. B. im Laufe der Geschichte stets gut bewährt. Ebenso die alte Kaufmannsregel, dass die beste Sprache die des Kunden ist. Ohne größere Fremdsprachenkenntnisse sei es, wie in der Wirtschaft gesagt wird, zwar einigermaßen möglich einzukaufen, aber nicht zu verkaufen. Dies gilt überall. Mehrsprachigkeit ist gefragt.

2.2. Begriffsbestimmungen

Was verstehen wir unter Mehrsprachigkeit? Seit den 30er Jahren hat es verschiedene Definitionsversuche gegeben, anfangs für Zweisprachigkeit, die dann mit der Zeit generell als Mehrsprachigkeit verstanden wurde. Da Mehrsprachigkeit nicht Gleichsprachigkeit ist – letzteres ist nur als ein idealisiertes Konstrukt anzusehen – hat sich die funktionale Definition (Oksaar 1966, 75) bewährt. Mehrsprachigkeit setzt die Fähigkeit voraus, zwei oder mehr Sprachen/Dialekte als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel zu verwenden und in den meisten Situationen von einer Sprache in eine andere umzuschalten, wenn die Umstände es erfordern. Das Verhältnis der Sprachen kann in verschiedenen Verwendungsdomänen durchaus unterschiedlich sein, in der einen kann, je nach der Situation und den Themen, ein wenig eloquenter Kode, in der anderen ein mehr eloquenter verwendet werden. Eine der Sprachen, in der Regel die Muttersprache, ist auch mehr mit emotionalen Konnotationen verbunden.

Da über 70 Prozent der Weltbevölkerung mehrsprachig ist und täglich zwei oder mehr Sprachen verwendet, und da über 50 Prozent der Kinder in der Welt als Schulsprache eine andere Sprache als ihre Muttersprache haben, kann davon ausgegangen werden, dass Mehrsprachigkeit das Normale ist und dass Einsprachigkeit als ein Problem in der heutigen Welt angesehen werden muss. Immer noch wird aber in den Schulsystemen Europas Einsprachigkeit allgemein als der Normalzustand für Schulanfänger und für Vorschulkinder angesehen und man fängt mit der ersten Fremdsprache viel zu spät an. Wie wir in Abschnitt 5 sehen werden, ist gerade das Vorschulalter eine sehr günstige Periode zum Erwerb mehrerer Sprachen.

Was ist interkulturelle Kommunikation? Unter interkultureller Kommunikation verstehe ich den gegenseitigen Verständigungsprozess durch Senden und Empfangen von informationstragenden Zeichen unter Beteiligten aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachgemeinschaften. Letzteres bedeutet, dass die Kommunikationssprache für mindestens einen der Teilnehmer nicht seine Muttersprache ist, was z. B. eintrifft, wenn sich ein Ungar und ein Deutscher entweder auf Ungarisch oder auf Deutsch unterhalten. Eine andere Verständigungsstruktur ergibt sich, wenn ein Ungar und ein Deutscher das Gespräch auf Englisch führen.

 

3. Kulturbedingte Verhaltensweisen

Zur Einleitung dieses Abschnitts möchte ich an etwas erinnern, was schon Georg Christoph Lichtenberg vor mehr als 200 Jahren hervorgehoben hat: „Man soll öfters dasjenige untersuchen, was von den Menschen meist vergessen wird, wo sie nicht hinsehen und was so sehr als bekannt angenommen wird, dass es keiner Untersuchungen mehr wert geachtet wird.“ (Mauthner 1984, 141).

Jegliche Sprachverwendung fordert viel mehr als, wie gewöhnlich angenommen wird, die Beherrschung von Aussprache, Wortschatz und grammatischen Regeln. Sie schließt auch die Fähigkeit ein, sprachliche Einheiten gemäß den in der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft geltenden Verhaltensregeln zu verwenden. Diese sind kulturspezifisch und variieren schon innerhalb einer Gesellschaft. Zur Kultur gehören somit nicht nur materielle und geistige Aspekte, sondern auch kommunikative Verhaltensweisen.

Man redet mit dem Mund, kommuniziert aber mit dem ganzen Körper. Die ideale Lage bei der mündlichen Verständigung schließt mindestens dreierlei ein: Der Hörer muss verstehen, was man sagt (rein akustisch), wie man es sagt (freundlich – feindlich – neutral; durch parasprachliche und nonverbale Signale), und wie das Gesagte gemeint ist. In der Praxis können alle drei Typen interkulturell Schwierigkeiten bereiten, denn auch beim dritten Typ kann es kulturell unterschiedliche indirekte Aussagestile geben. Es darf nicht vergessen werden, dass es kulturbedingte Verhaltensweisen gibt, die leicht missverstanden oder überhaupt nicht verstanden werden, obwohl die Sprache an sich keine Schwierigkeit bietet. Ein Beispiel:

Ein thailändischer Student, der gut Deutsch sprach, sagte in unserem Institut, als ein Mitarbeiter sein Baby vorführte: „Was für ein hässliches Baby!“ Als die Bestürzung der Anwesenden sich gelegt hatte und sie ihn fragten, ob er denn doch nicht das Baby niedlich finde, erwiderte er, natürlich tue er das, aber so müsse man in seiner Heimat sagen, wenn man will, dass aus dem Baby ein hübscher, gesunder Mensch werde. Hier haben wir es also mit einem Verhaltensmuster aus einer fremden Kultur zu tun, das, in die deutschsprachige Interaktion überführt, Verwirrung stiftete. Diese wurde durch eine Frage geklärt, viele Missverständnisse und Irritationen bleiben aber, wenn man nicht nachfragt, ungeklärt und können den weiteren Verlauf der Kommunikation ungünstig beeinflussen. Aber was tun wir selbst in Situationen, in denen ein Ausländer „viel Glück” erwartet, z. B. vor einer Prüfung? Wir sagen in Deutschland Hals- und Beinbruch, in Schweden Spark på Dig (spark ‘Fußtritt, Tritt’)!

Auch bei guter Sprachbeherrschung kann es, wie wir gesehen haben, Probleme mit Kulturemen d. h. Verhaltensweisen und ihrer Realisierung, den Behavioremen geben. Es kann nicht genug betont werden, dass jeglicher Spracherwerb stets auch kulturelles Lernen ist. Der Fremdsprachenunterricht scheint in so manchem europäischen Land immer noch mehr Wert auf die Vermittlung der korrekten Elemente des Sprachsystems zu legen als auf die Regeln und Normen der soziokulturellen Verhaltensweisen, der situationsbezogenen Sprachverwendung, d. h. auf die Kenntnisse dessen, was man wem, wann, wo, wie und warum sagt, oder nicht, und wie man sich zu verhalten hat, wenn man selbst angeredet wird. Fehlen derartige Kenntnisse, können Kommunikationsstörungen entstehen.

 

4. Gemeinsame Sprache garantiert noch nicht Verständigung

Winston Churchill – und vor ihm schon Oscar Wilde – soll einmal von den Amerikanern gesagt haben: „Uns trennt nur eines, die gemeinsame Sprache.“ Und wenn man von den Deutschen in Ost und West heute hört, dass viele trotz derselben Sprache sich noch fremd vorkommen, so wird deutlich, dass gemeinsame Sprache allein noch kelne Verständigung gewährleistet. Denn dazu ist auch die Beherrschung der mit der jeweiligen Sprache verbundenen kulturellen Verhaltensweisen notwendig. Ludwig Wittgenstein (1960, 358) stellt fest, dass ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann, „wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht”. Er betont, „man versteht die Menschen nicht“. Wittgenstein erklärt zwar nicht, was dies bedingt, lässt durch seine Aussage aber das anklingen, was Goethe (1819, 127) in seinem Westöstlichen Diwan aus einer anderen Perspektive treffend hervorgehoben hat: Wer das Dichten will verstehen/Muss ins Land der Dichtung gehen; „Wer den Dichter will verstehen/Muss ins Dichters Lande gehen”. Durch Analysen der sowohl sprachlichen als auch soziokulturellen Faktoren der kommunikativen Akte lässt sich Wittgensteins globale Feststellung mit Hilfe der Kulturemtheorie (Oksaar 1988) konkretisieren.

4.1. Kultureme und Behavioreme

Was muss berücksichtigt werden? Da Sprache Teil der Kultur ist, wird ihre Verwendung immer eingebettet sein in einen Situationskontext, in dem eine Reihe von anderen kulturell bedingten Verhaltensmustern gelten – wie man sich bewegt, wie man sitzt, wie man sich im Raum orientiert, wie man sich kleidet usw. Letzteres kann, wie die europäische Geschichte zeigt, sogar nationalpolitisches Gewicht haben. Die Nationaltracht galt z. B. in Ungarn, Griechenland, Polen und Schottland als Zeichen „nationaler Identität in Zeiten, in denen keine eigenständige Staatlichkeit bestand“ (S. Müller, Bilder und Zeiten, FAZ Nr. 83, 2001, VI). Verhaltensweisen einem Mitmenschen gegenüber fasse ich als eine soziokulturelle Kategorie zusammen. Diese lässt sich durch die Kulturentheorie erläutern und systematisieren. Kultureme sind als kommunikative Verhaltensweisen mehr oder weniger isolierbar: dass man sich anredet, grüßt, oder nicht, je nach unterschiedlichen Situationen, dass man sich bedankt, entschuldigt, dass man Themen hat, die tabu sind, usw. Kultureme sind als abstrakte Einheiten aufzufassen. Sie werden durch Behavioreme realisiert. Diese können verbal, parasprachlich (d. h. alles, was mit der Stimme hervorgebracht werden kann), nonverbal (Gestik, Mimik, Körperhaltung) und extraverbal (Zeit, Raum, Proxemik, soziale Variablen) sein und in erster Linie eine Antwort auf die Frage wie?/durch welche Mittel? ermöglichen. Von der Ganzheitsperspektive eines kommunikativen Aktes aus gesehen können dabei auch die Fragen wann? und wo?, die mit extraverbalen Einheiten beantwortet werden, maßgebend sein. So ergeben sich zwei Typen von Behavioremen: ausführende und regulierende. Zu den ersteren gehören die verbalen, parasprachlichen und nonverbalen Behavioreme, zu den letzteren die extraverbalen. Einige Beispiele mögen zur Illustration im Verständigungsprozess aufschlussreich sein.

Von den nonverbalen Behavioremen können Kopfbewegungen leicht missverstanden werden. Schon bei den Emblemen, d. h. bei Ausdrucksbewegungen, die durch verbale Mittel übersetzbar sind, z. B. beim Nicken „den Kopf (mehrmals) kurz senken und heben“ als Bejahung, kann es vorkommen, dass sie anders interpretiert werden. Denn die nach hinten gerichtete Kopfbewegung „den Kopf kurz heben und senken”, die mit dem Nicken leicht verwechselt werden kann, bedeutet Verneinung in Griechenland, in der Türkei und in Bulgarien. Was die Handbewegungen betrifft, so gibt man sich in Deutschland öfter die Hand – beim Gruß, beim Abschied – als in den skandinavischen Ländern, in Estland und in den USA. Deutsche interpretieren einen ausgebliebenen Händedruck leicht als Distanzierung. In den westlichen Kulturen ist es üblich, während der Interaktion Augenkontakt zu haben: kann man jemandem nicht in die Augen sehen, zeugt das vom schlechten Gewissen ihm gegenüber, es ist ein Signal, dass man nicht aufrichtig ist, oder etwas zu verheimlichen hat. Bewusstes Vermeiden des Blickkontakts gilt als unhöflich. Es gibt aber auch Kulturen, in denen es unhöflich ist, dem anderen direkt in die Augen zu blicken. In Japan ist es üblich, den Blick bei der Halslinie des anderen zu halten. In Estland ist die Linie das Ohr oder die Schläfe. In Puerto Rico ist es unhöflich, Respektpersonen in die Augen zu sehen. Wie würde aber ein deutscher Richter es auslegen, dass ein fremder Angeklagter ihn nie ansieht: Erkennt ein deutscher oder schwedischer Lehrer, dass es etwas anderes als Trotz sein kann, wenn ein asiatischer Schüler seinen Blick nicht erwidert? Es kann auch darauf hingewiesen werden, dass ein so gewichtiger, weil beziehungsbezogener Ausdruck wie sie würdigte ihn keines Blickes nicht in allen Kulturen verstanden werden würde.

Ein paar Worte zum extraverbalen Behaviorem Zeit. Ein zentraler Punkt in der zeitlichen Komponente ist das Wann der Sprechhandlung. Dieses Wann betrifft unter anderem den Zeitpunkt des „Zur-Sache Kommens“ im Gespräch, was besonders in der Wirtschaft und in der Politik von großem Gewicht ist. Europäer und Nordamerikaner kommen bei Geschäftsverhandlungen schnell zur Sache. In Asien und in den arabischen Ländern ist die Zeitspanne vor diesem Punkt viel länger als in der westlichen Welt. Japaner schneiden z. B. anfangs Themen an, die mit den Verhandlungen direkt nichts zu tun haben, u. a. um den Partner näher kennen zu lernen. Der in nicht japanischen Augen schleppende und störende Gang der Gespräche ist der kulturellen Norm unterworfen, ein direktes Nein zu vermeiden. Der direkte Verhandlungsstil kommt wiederum den Japanern als barsch und sogar bedrohlich vor, wie ein hervorragender Kenner Japans, der Harvard-Professor Reischauer (1977, 138) feststellt.

Das Kulturemmodell hat bei der Erforschung interkultureller Verständigungsprozesse den Vorteil, dass es neben sprachlichen und für die mündliche Kommunikation wichtigen parasprachlichen und nonverbalen Mitteln auch diejenigen soziokulturellen Normen berücksichtigt, die eine situationsadäquate Interaktion erst ermöglichen. Macht der Sprecher sprachliche Fehler, kann dies das Verständnis zwar erschweren, auf der Ebene seiner persönlichen Identität und Integrität rufen sie aber kaum Bewertungen und Missverständnisse hervor: der Sprecher wird dadurch nicht als ein unhöflicher und unzuverlässiger Mensch eingestuft. Handelt es sich aber um Verstöße gegen Regeln im Bereich der Kulturemrealisierungen, so werden die persönlichen Qualifikationen des Sprechers betroffen und nicht so sehr sein sprachliches Können. Schon von seinem Kommunikationsstil aus kann er als überheblich, unflexibel, rechthaberisch angesehen werden. Dies sei durch weitere Beispiele verdeutlicht.

4.1.1 Anrede

Unsere Befragungen im Bereich deutsch-schwedischer Geschäftsbeziehungen haben gezeigt, dass im Anredebereich Irritationen entstehen können, wenn vom schwedischen Geschäftspartner dem wenig bekannten deutschen Partner ohne weiteres das in Schweden in entsprechenden Situationen übliche Du angeboten wird, in Deutschland aber Sie die Norm ist. Wenn der Schwede bei derartigem Vorschlag noch verdeutlicht, dass dies den Verhandlungsdialog erleichtern würde, wird derartiges Verhalten von deutscher Seite nicht selten als Unhöflichkeit, Egoismus, Arroganz, Nonchalance u. dgl. aufgefasst. Die Überzeugung von der Angemessenheit der eigenen Verhaltensweise und fehlende Empathie fällt den anderen hier pejorativ auf, was weitere Beziehungen beeinflussen kann.

Ich nehme dieses Beispiel auch zum Anlass zu betonen, dass man derartige Komplikationsmöglichkeiten stets im Auge behalten muss, wenn zunehmend von den Vorzügen der Globalisierung der Weltwirtschaft und den großen Chancen, die sich durch die räumliche Flexibilität den Unternehmen weltweit eröffnen, gesprochen wird. Wie steht es aber mit der kommunikativen Flexibilität, mit der Interaktionskultur und auch mit den Arbeitsstilen der Mitarbeiter? Auch wenn man sich, wie es häufig der Fall ist, auf Englisch als Unternehmenssprache geeinigt hat, so bringt doch der finnische oder italienische, der japanische oder thailändische Mitarbeiter seine spezifischen, den anderen kaum geläufigen Verhaltensweisen in der einen oder anderen Weise in den Verständigungsprozess mit, sowohl als Sprecher als auch als Hörer. Versteht man das Schweigen des anderen, des Fremden? Die Kulturbedingtheit des Schweigens ist viel zu selten thematisiert worden.

4.1.2 Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – oder?

Missverständnisse und kommunikative Störungen entstehen nicht nur durch verschiedene Arten von kommunikativen Aktivitäten, sondern auch durch das Ausbleiben ihres hörbaren Teils: durch Schweigen. Schweigen ist aber keineswegs informationslos, und wer schweigt, braucht nicht passiv zu sein. Der schweigende Hörer gibt dem Sprecher in der Regel durch Blicke und Gestik Signale, dass er ihm zuhört. Dabei existieren aber erhebliche kulturelle Unterschiede. Aussagen wie du hörst mir ja gar nicht zu zeugen vom Ausbleiben der Hörersignale in unserer Kultur. Auch beim Schweigen gibt es erhebliche kulturelle Unterschiede. Der Ausdruck in mehreren Sprachen schweigen hat, wie aus dem Verhalten von Mehrsprachigen hervorgeht, durchaus Wirklichkeitsbezug. Nur der Einsprachige kann damit einen Versuch machen, geistreichwitzig zu sein. In den skandinavischen Ländern werden Hörersignale viel spärlicher gesendet als im mitteleuropäischen Raum.

Verschiedene Typen des Schweigeverhaltens, seine generellen Charakteristika und Funktionen im Interaktionsprozess habe ich in anderen Zusammenhängen ausführlich abgehandelt (Oksaar 1988, 52 ff; 1998, 37 ff). Je nach der Art und der Quantität des Redens und des Schweigens ließen sich dabei zwei größere Kategorien unterscheiden. Redekultur und Schweigekultur. Störungen entstehen leicht, wenn die trotz individueller Variation kulturspezifische Länge der Pausen nicht berücksichtigt wird. Denn was in einer Kultur als Denkpause gilt, kann in einer anderen schon als Sprecherwechselmöglichkeit aufgefasst werden. Was die normale Zeit der Pausenlänge für jemanden ist, erfährt man erst, wenn der sich als unvorteilhaft behandelt fühlt. Schon bei der Metadiskurs-Frage: Wem gehört die Pause in einem Gespräch? gibt es unterschiedliche Sehweisen. Angehörige einer Schweigekultur, wie z. B. Finnen, Schweden, Isländer, Esten, schätzen die Pause anders ein als ihre Partner aus der Redekultur, z. B. Deutsche, Südeuropäer, Amerikaner. Im deutschen Kulturkreis sind Pausen allgemein peinlich, sie sind, wenn möglich, zu vermeiden. Dies geht auch anschaulich aus einer Szene im vierten Kapitel der Buddenbrooks von Thomas Mann (1960, 223) hervor:

„Ja, ja, mein lieber Herr Permaneder, das ist wahr!” erwiderte die Konsulin freudig, und nachdem dies erledigt war, trat eine Pause ein. Um aber diese Pause auszufüllen, sagte Herr Permaneder mit einem ächzenden Seufzer: „Es is halt a Kreiz!“

Vom interkulturellen Standpunkt aus könnte man mit Recht fragen, warum denn Pausen verbal ausgefüllt werden müssen?

Was in der Schweigekultur als Sprechpause gilt, kann in der Redekultur schon als Sprecherwechselsignal verstanden werden. Die Unkenntnis dieser Tatsache kann leicht zu Irritationen führen, da der andere als sehr unhöflich angesehen wird, wenn er einem in die Pause, in seine Pause fällt. Was in der Redekultur als jemandem ins Wort fallen negativ auffällt, hat in der Schweigekultur sein verbales Gegenstück in jemandem in die Pause, in sein Schweigen fallen. In der Schweigekultur gilt aber beides als unangebracht. Für das dialogische Verhalten in der Schweigekultur sind somit zwei Maximen wichtig: Falle nie jemandem ins Wort und Falle nie jemandem ins Schweigen.

Es fehlen systematische Untersuchungen aus verschiedenen Kulturen über die Toleranzgrenzen von Pausenschweigen. Finnen sind in dieser Beziehung toleranter als Schweden, diese wiederum toleranter als Amerikaner und Zentraleuropäer (vgl. Lehtonen 1993). Kurz gesagt, wo nicht stets und allzu viel geredet wird, wo Reden wirklich Silber und Schweigen Gold ist, da stören lange Pausen kaum, man bemerkt sie gar nicht, auch wenn sie im Spiegel einer Redekultur quälend lang sein können.

In der Redekultur, z. B. in den USA, hat Schweigen einen niedrigen sozialen Wert. Das kann unter anderem der Grund zum Small talk sein. In der Schweigekultur, z. B. in Schweden, Finnland und Estland, kann Schweigen in vielen Situationen eine kontaktknüpfende Funktion haben, wie etwa der Small talk in den USA: man sendet nonverbale Signale. Schweigen kann aber auch Nachdenklichkeit signalisieren. In der Schweigekultur denkt man, ohne seine „halbfertigen” Gedanken laut zu verbalisieren, oder sie, wie im Deutschen häufig durch Ausdrücke vom Typ um es ganz offen zu sagen, oder ich rede zuerst einmal etwas ins Unreine anzukündigen. In der Schweigekultur sagt man im Allgemeinen erst dann etwas, wenn das fertige Gedankengefüge vorliegt. Oder man sagt es gar nicht, weil man es für andere gar nicht für so wichtig halt z. B. als Diskussionsbeitrag auf einer Tagung. Eine derartige Selbstkritik wird nicht selten missverstanden.

Wird Sprechen erwartet, wenn man schweigt, und Schweigen, wenn man redet, kann dies die Einstellung des Hörers gegenüber dem Sprecher unvorteilhaft beeinflussen. Menschen mit von der Redekultur geprägten Gesprächsstilen fassen von der Redekultur abweichendes Verhalten – Schweigen und Zurückhaltung – leicht als Gleichgültigkeit, Verschlossenheit und Schüchternheit auf, ja sogar als Inkompetenz oder Beschränktheit. Aus der Sicht der Schweigekultur werden wiederum Vertreter der Redekultur als geschwätzig, selbstherrlich und intolerant angesehen, häufig auch als Wichtigtuer. Auf unterschiedliche Sehweisen in verschiedenen Sprachen weisen im Deutschen Bildungen wie Redseligkeit hin, im Englischen love of chatting, im Schwedischen hingegen pratsjuka „Redekrankheit“. Interessanterweise kennen sowohl Völker der Redekultur als auch der Schweigekultur das Sprichwort Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Dazu hat schon im vorigen Jahrhundert der Völkerpsychologe Moritz Lazarus (1878, 257) festgestellt, dass das Gold des Schweigens leicht zu erhalten sei, weil es ja auch ein Schweigen des Toren gibt. Deshalb müsse es heißen: „Wessen Reden Silber ist, dessen Schweigen ist Gold”.

 

5. Warum ist frühe Mehrsprachigkeit erstrebenswert?

Die Antwort ist einfach: Weil das Vorschulalter eine optimale Möglichkeit zum Sprachenerwerb bietet, da Kinder die Sprachen im wahrsten Sinne des Wortes spielend lernen und ihr spontaner Lerneifer dies ihnen leicht macht. Ein Vorschulkind ist ein Erkenntnis suchendes Wesen. Ausführliche Diskussion dieser Thematik findet sich in Oksaar (1989); da werden u. a. auch sozialpolitische Fragen erörtert und die Unhaltbarkeit der mancherorts lauten Kritik früher Mehrsprachigkeit dargelegt. Betont werden muss auch heute, dass Probleme und Schwierigkeiten, die bei Kindern auftauchen, die mit mehr als einer Sprache aufwachsen, allzu leicht der Mehrsprachigkeit zugeschrieben werden. Dadurch versäumt man, mögliche Auswirkungen anderer Faktoren zu beachten, von Konflikten zwischen zwei Religionen oder Erziehungsmethoden bis zur frühkindlichen Deprivation. Man vergisst allzu leicht, dass Probleme und Lernschwierigkeiten auch bei Kindern vorkommen, die nur eine Sprache sprechen.

Man sollte mit mehr als einer Sprache so früh wie möglich anfangen, nicht nur in der Schule. Wo möglich, sollten Vorschulkinder zu Hause mit mehreren Sprachen in Kontakt kommen und mit ihnen vertraut werden, nach dem altbewährten Rezept: eine Person, eine Sprache (vgl. Grammom 1902). Günstige Gelegenheiten ergeben sich beispielsweise in Familien, in denen die Eltern verschiedene Muttersprachen haben. Dabei ist es in den ersten drei–vier Jahren wichtig, dass man konsequent sein muss. Wenn die Mutter mit dem Kind konsequent die Sprache A spricht und der Vater die Sprache B, dann ist dieses Kind bis zur Schule zweisprachig. Spricht eine dritte Persom z. B. die Großmutter oder die Kindergärtnerin noch die Sprache C, so wird das Kind ohne Schwierigkeiten dreisprachig sein. Kommt das Kind zur Schule, nimmt die Schulsprache leicht überhand und man muss Wege finden, die anderen Sprachen aktiv zu halten.

Wir wissen aber auch schon lange, und unser Hamburger pädolinguistisches Projekt mit zwei-, drei- und viersprachig aufwachsenden Kindern hat es bestätigt, dass Mehrsprachigkeit das analytische Denken des Kindes begünstigt, positive Einwirkung auf sein Intellekt hat, dem Kind eine nuanciertere Auffassung von der Welt gibt und den Erwerb von weiteren Sprachen erleichtert. Ein weiteres Argument kommt selten zur Sprache: Der Rhetoriker Quintilian, der ja auch Pädagoge war, forderte vor mehr als 1800 Jahren, dass das Kind gleich von Anfang an eine weitere Sprache neben der Muttersprache lernen sollte, damit seine muttersprachlichen Kenntnisse gefördert werden. Er hat es deutlich gesehen, dass im Spiegel einer anderen Sprache die Eigenarten der Muttersprache deutlicher hervortreten. Aus unserem Projekt geht hervor, dass durch die Fragen und Kommentare der Kinder deutlich wird, dass sie nicht nur ein Gefühl für verschiedene Sprachen entwickeln, sondern sie auch kontrastieren können. Wenn Kinder im Alter von 4–5 Jahren Fragen über grammatische Unterschiede stellen, z. B. warum es mir und mich im Deutschen, aber nur mig im Schwedischen gibt, so kann man daraus schließen, dass sie über Phänomene reflektieren und Themen anschneiden, die bei einem einsprachig aufwachsenden Kind nicht vorkommen. Sie sind zu abstrakten Operationen in einem Alter fähig, die bei einem einsprachig aufwachsenden Kind nicht vorkommen. Kontrastierung ist und bleibt ein Grundpfeiler im Erwerbsprozess mehrerer Sprachen.

Diesen Abschnitt abschließend sei noch ein weiterer Aspekt beleuchtet. Eltern, die mit ihren Kindern nicht ihre am besten beherrschte Sprache sprechen, können in ihren Beziehungen zu ihnen nicht alle wichtigen Nuancen zum Ausdruck bringen. In Familien, in denen die Mutter und der Vater aus verschiedenen Sprachbereichen kommen, ist es daher wichtig, dass sie mit dem Kleinkind ihre Sprache sprechen, damit auch die emotionale Seite der Kommunikation so natürlich wie möglich verlaufen kann. Das Kind wird dadurch aber auch ganz natürlich mit den jeweiligen Behavioremen vertraut.

 

6. Ausblick

Wir haben gesehen, dass es wesentliche kulturelle Unterschiede auf verschiedenen Ebenen des interkulturellen Verständigungsprozesses gibt, und dass Schwierigkeiten entstehen können, wenn man die Verhaltensweisen des Anderen nur durch den Filter der eigenen Kultur sieht. Die Art der eigenen Kulturgebundenheit muss deshalb intensiver als früher als Problem erkannt und thematisiert werden. Diese Aufgabe, deren Aktualität auch heute unverkennbar ist, habe ich vor etlichen Jahren (Oksaar 1984, 29) hervorgehoben: „Wir müssen die Probleme, die in dem Bildungsbereich, in der Politik und in der Wirtschaft durch Verschiedenheit der kulturellen Werte und Verhaltensweisen entstehen, zu erklären versuchen und Lösungsmöglichkeiten finden.“ Aber wie? Auch darauf bin ich da und bei anderen Gelegenheiten eingegangen (vgl. Oksaar 1983). Der erste Schritt ist, sich des eigenen Weltbildes und der eigenen kommunikativen Verhaltensweisen bewusst zu werden und Empathie für die des Anderen zu entwickeln. Frühe Mehrsprachigkeit begünstigt diese Entwicklung und fördert die Fähigkeit zum interkulturellen Dialog.

Die Schulen und das Elternhaus haben hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: die Sensibilisierung der Kinder für die Verschiedenheit der Sprachen und Kulturen. Dadurch erleben sie auch die eigene Sprache und Kultur bewusster. Es gibt kleine und große Sprachen, aber keine besseren und schlechteren, nur unterschiedliche.

Mehrsprachigkeit und Mehrkulturheit, die ja die Beherrschung der Behavioreme einschließen, sollten eine ernst zu nehmende Herausforderung für Europa sein. Für ein Europa der Partnerschaften, des Miteinanders, aber auch der scharfen Konkurrenz, in deren Karrieremustern Sprachenbeherrschung und internationale Erfahrung eine nicht geringe Rolle spielen. Es gilt, eine geistige Umwelt in Europa zu schaffen, in der sowohl die eigenen Landessprachen mit ihren Dialekten als auch die Sprachen der Nachbarn und der Minderheiten respektiert werden.

Interesse, Verständnis, Respekt und Offenheit für sowohl die eigene Sprache als auch für fremde Sprachen und Kulturen kann gelehrt und gelernt werden und bedeutet, dass man keine Entweder-Oder-Mentalität in der Sprachenfrage haben sollte, sondern eine Sowohl-Als-Auch-Perspektive. Das gilt auch für die heute lebhaft diskutierte Wissenschaftssprache. Es sei dem Forscher freigestellt, in welcher Sprache er seine Ergebnisse veröffentlicht – heute ist es überwiegend Englisch –, aber seine Bringschuld für die eigenen Landsleute und für die Gesellschaft muss sein, dass er die Muttersprache in demselben Bereich ebenso beherrscht (Oksaar 1994). Es gilt, das muttersprachliche Sprachgefühl als Grundlage für gutes Wissenschaftsdeutsch, Wissenschaftsschwedisch usw. zu verschärfen. Es darf ja nicht vergessen werden, dass die Unterrichtssprache in den europäischen Schulen und Universitäten, mit wenigen Ausnahmen, doch die Muttersprache ist.

In der Europäischen Union muss der Mensch und nicht die Bürokratie oder die Großfinanz im Zentrum stehen. Denn es werden ja nicht abstrakte Modelle, sondern konkrete, aus Einzelindividuen bestehende Gruppen, Regionen und Länder integriert. Mit sprachlichen Wurzeln der Zugehörigkeit und ihrer soziokulturellen Identität. Sagte doch schon Goethe in Maximen und Reflexionen (1973, 508): „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Aber er sagte auch noch folgendes zum Sprachenthema: „Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei.“ Ein schönes Ziel für alle Völker!

 

Literatur

Goethe, Johann Wolfgang von (1819): West-östlicher Diwan. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.), Berlin 1952.

Goethe, Johann Wolfgang von (1973): Maximen und Reflexionen. Goethes Werke, Band XII. München.

Grammont, Maurice (1902): Observations sur le langage des enfants. In: Mélanges linguistiques offertá. Antoine Meillet. Paris, 61–82.

Lazarus, Moritz (1878): Über Gespräche. In: Ideale Fragen. Berlin, 237–264.

Lehtonen, Jaakko (Hg.) (1993): Kulttuurien kohtaaminen. Jyväskylä

Mann, Thomas (1960): Buddenbrooks. Frankfurt/M.

Mauthner, F. A. (Hg.) (1984): Georg Christoph Zichtenberg. Sudelbücher. Frankfurt/M.

Oksaar, Els (1966): Tvåsprålcigheten och invandrarna. In: Schwarz, D. (Hg.): Svenska minoriteter. Stockholm, 68–83.

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