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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:167–175.

KATALIN ÁRKOSSY

Die Bedeutung und die heutigen Möglichkeiten der Kulturtradierung
am Beispiel des ungarndeutschen Volksliedes

 

Der grundlegende politische, wirtschaftliche, kulturelle und vor allem technologische Umbruch, der in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte und bis heute unser Land erfasst hat, hat tiefen Einfluss auf die Entwicklung jedes einzelnen Menschen, jeder Familie und in der Gesellschaft überhaupt ausgeübt. Der allgemeine Modernisierungsprozess, die Urbanisierung und Industrialisierung führen zur Auflösung der geschlossenen Dorfgemeinschaften. Die Nähe der Stadt fördert das Pendlerwesen und den Umzug in die Stadt, was dazu führt, dass die Kontinuität der Vermittlung spezifischer kultureller Werte gestört wird.

Die Informationsflut durch die Medien und die Entwicklungen in anderen Bereichen haben einen immer größeren Einfluss auf das tägliche Miteinander der Menschen, auf die Freizeitentwicklung und Interessenlagen jedes Einzelnen. Dadurch besteht die Gefahr, dass Althergebrachtes, wie Brauchtum und Gepflogenheiten, so zum Beispiel die traditionellen Ausdrucksformen wie das Volkslied und der Volkstanz, nicht mehr innerhalb der Familie oder der Dorfgemeinschaft weitergegeben werden und verlorengehen.

In vollem Maße trifft diese Feststellung auf die Sprache und das Kulturgut der Ungarndeutschen zu, wo es darum geht, die Muttersprache und das kulturelle Erbe der Vorfahren in einer seit dreihundert Jahren währenden fremdsprachigen Umgebung, weit vom Herkunftsort entfernt, trotz teils erzwungener Assimilationsversuche zu bewahren.

Ich hatte die Gelegenheit, durch eigene Beobachtungen über dreißig Jahre hindurch festzustellen, wie stark äußere Einflüsse auf den Gebrauch des Volksliedes und den Charakter des Volksliedgutes eingewirkt haben. Deshalb entstand der Gedanke, eine Dokumentation von Volksliedern anzulegen.

Ziel der Arbeit war es, durch die Dokumentation von Volksliedern einen kleinen Anteil zur Bewahrung von Brauchtum und Volksgut für die folgende Generation zu leisten bzw. durch Untersuchung, Auswertung und Analyse der Dokumentation einen gesellschaftsübergreifenden Einblick in die Veränderung der Lebenssituation, der gesellschaftlichen Werte, der Normvorstellungen, der ethnischen Identität, der Sprache und Kultur der Ungarndeutschen zu geben.

In der Untersuchung sollen folgende zentrale Problempunkte behandelt werden:

– Assimilationsprozess der Ungarndeutschen und dessen geschichtliche Ursachen

– Wechselwirkung zwischen Sprache, Kultur und Identität

– Volkskultur als Vehikel der Identität der Ungarndeutschen

– heutige Möglichkeiten der Kulturtradierung.

 

Zur Abhängigkeit der Identität von Sprache und Kultur

Meine Ausführungen möchte ich mit einigen Bemerkungen zur Identität im Allgemeinen beginnen.

Bei der Ausbildung der Identität einer Person oder einer Gruppe sowie bei der Evolution ihres Identitätsgefühls sind mehrere Elemente zu berücksichtigen, von denen ich hier nur die für unsere Fragestellung wichtigen hervorhebe:

– der Gebrauch der Sprache

– die Zugehörigkeit zu einer Gruppe/Gemeinschaft

– die kognitive Organisation der Umgebung.

Die Person kann ihre Identität (nach J. Habermas) nur auf Merkmale stützen, die als Identifikation von der Umgebung und von den anderen anerkannt werden.1

Daher ist die Bewahrung der Identität für eine inmitten fremdsprachiger Umgebung lebende Minderheit, die sich in dieser fremdsprachigen Umgebung ständig behaupten muss, eine komplizierte, schwierige Aufgabe.

Als wichtigster Identitätsmarker wird von Außenstehenden die Sprache der Gemeinschaft betrachtet und anerkannt. Das bedeutet, dass nach manchen Auffassungen eine Minderheit hauptsächlich in ihrer Sprache weiterlebt, und daher die Erhaltung der Muttersprache zur Grundfrage der Existenz als Nationalität gehört.

Bei den Ungarndeutschen gab es im Laufe ihres Daseins in Ungarn unterschiedliche Einstellungen zur eigenen Sprache. Charakteristisch für diese Sprachgemeinschaft war der Wechsel von einer Sprache zur anderen: vom Dialekt zur ungarischen Sprache oder zur deutschen Hochsprache. Das bedeutete eine ständige Zweisprachigkeit oder sogar eine Art Dreisprachigkeit: deutscher Dialekt, deutsche Hochsprache und ungarische Hochsprache.2

Der Sprachwechsel bzw. das Aufgeben der Muttersprache hat schon vor 1945 begonnen. Seit dieser Zeit waren die sozialen Aufstiegschancen an die vollkommene Beherrschung der ungarischen Sprache gebunden.

„Bei nicht abgesicherten wirtschaftlichen Bedingungen hatte der aufstrebende deutsche Bauer im damaligen Ungarn nur einen Weg vor sich, den eines DeutschHungarus, der sich nach dem ungarischen Bildungsideal richten mußte.”3

Verstärkt hat sich der Prozess nach 1945, als es unerwünscht war, die deutsche Sprache zu gebrauchen oder sich zu dieser Sprache zu bekennen. Das bedeutete für die Menschen deutscher Muttersprache ein erzwungenes Loslassen der eigenen Muttersprache. Die heranwachsende Generation erlebte ihre Muttersprache als etwas Nicht-Erlaubtes, etwas Minderwertiges, etwas Abzuschätzendes, was zur Folge hatte, dass diese Sprache im sozialen Verkehr keine Rolle mehr einnehmen konnte. Diese Jahre des Schweigens brachten eine Generation hervor, die nach 1944 geborene Gruppe der Deutschstämmigen in Ungarn, die man wegen ihrer mangelhaften deutschen Muttersprachkenntnis als die „stumme Generation” zu bezeichnen pflegt.

Der Politologe, Josef Bayer, ein Vertreter dieser stummen Generation, behandelt in der Zeitschrift „Kritika” die Frage der deutschen Nationalität in Ungarn aus dem Blickwinkel des „konstitutionellen Patriotismus” (J. Habermas). Dabei beschäftigt er sich ausführlich mit der Identität und dem Sprachverlust der Ungarndeutschen. Er zeigt, wie das dem Deutschtum in Ungarn zuteil gewordene furchtbare Schicksal der Deportation, Verfolgung und Vertreibung, schließlich die Zerstörung der Dorfgemeinschaften und die Ächtung der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit zu einem katastrophalen Muttersprachverlust geführt hat.4

Nach der Sprache soll das zweite Element der Identität, die interethnisch geprägte Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe bzw. die Möglichkeit der Erneuerung kultureller Identität durch das Kennenlernen der Kultur im Dialekt, untersucht werden.

Der Deutsche in Ungarn fühlte sich schon immer als Mitglied der ungarischen Gesellschaft, aber auch als Zugehöriger seiner deutschen Minderheit. Dadurch entstand die charakteristische Doppelidentität der Ungarndeutschen. Dazu ein authentischer Bericht von Josef Bayer:

„Kulturell bin ich ungarisch programmiert; all meine Schulen und Studien absolvierte ich ungarisch, die Geschichte wurde mir aus ungarischem nationalem Blickwinkel beigebracht ... und im Geiste der großen Persönlichkeiten der ungarischen Literatur und Geschichte bin ich aufgewachsen.”5

Daraus leitet er seine vollzogene Assimilation her, ebenso wie die meisten seiner Schicksalsgenossen in Ungarn. Er glaubt aber an eine „geistig-seelische Läuterung durch erinnerndes Bewusstmachen und Abreagieren vergessener traumatischer Erlebnisse”.6 Dass eine Rettung der ungarndeutschen Doppelidentität für Ungarn ebenso wie für Europa ein echter Gewinn sein könnte, ist zweifellos.

 

Heutige Möglichkeiten der Kulturtradierung

Die große Frage ist, wie lange eine Kultur ohne die für sie charakteristische Sprache existieren kann und welche Kulturelemente nicht eng sprachgebunden sind und die Sprache überleben können. Es gibt heute kaum eine Möglichkeit, die durch die obengenannten Maßnahmen eingeschränkte beziehungsweise verschwundene Mundart in dem Maße neu zu beleben, dass sie noch einen kommunikativen Wert erlangt. Desto wichtiger ist es geworden, die Mundart als Mittel der Kulturtradierung in Liedern, Sprüchen, Reimen, Märchen usw. zu bewahren.

„Die Bewahrung bzw. Wiederentdeckung der Volkskultur ist die Überlebenschance einer Volksgruppe in Südosteuropa, einer Volksgruppe, die inmitten fremdsprachiger Umgebung lebt und sich ständig in dieser fremdsprachigen Umgebung behaupten musste und muss.”7

Aus dieser Einsicht begann ich mit meiner Sammelarbeit, weil ich davon überzeugt bin, dass die Sprache heute hauptsächlich in ihrer kulturtragenden Funktion eine Chance hat, weiterzuleben.

So kommt jeder Arbeit, die einen Bereich vom Kulturgut der Ungarndeutschen überliefert, eine große Bedeutung und Wichtigkeit zu. Das ist aber allein nicht ausreichend. Ein Erfolg ist nur dann zu erwarten, wenn kulturelle Einrichtungen, Vertreter der älteren Generationen der Ungarndeutschen, Lehrer der Nationalitätenschulen und ungarndeutsche Eltern in der Familie sich der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bei der Tradierung ihrer Kulturgüter bewusst werden und bereit sind, aktiv mitzuwirken.

Zur Definition des Begriffes „Volkslied” sei folgendes angeführt:

Die Benennung „Volkslied” stammt von Herder, es gibt aber kaum einen Begriff, der so oft und so unterschiedlich definiert wurde wie der des Volksliedes, seit man sich überhaupt mit dem Volkslied als Untersuchungsgegenstand beschäftigt. Jedes Zeitalter, sogar jeder Forscher verstand etwas anderes unter diesem Begriff. Daher ist es nicht überflüssig, in einer Arbeit, die sich mit Volksliedern beschäftigt, die eigene Auffassung über den Begriff „Volkslied” bekanntzugeben. Nach dieser Auffassung spielt die Art der Entstehung des Liedes keine ausschlaggebende Rolle.

Als Grundlage meiner Arbeit dient die Definition des Volksliedes von Béla Bartók:

„Unter Volkslied in weiterem Sinne verstehen wir die Gesamtheit derjenigen Lieder, die in der Bauern- und Handwerkerklasse eines Volkes in mehr oder weniger großer zeitlicher und räumlicher Ausdehnung als ein spontaner Ausdruck des musikalischen und dichterischen Gefühls fortleben oder irgendwann fortgelebt haben.”8

Die wesentlichen Kriterien des Volksliedes können folgenderweise angegeben werden:

– die Verbreitung/der Bekanntheitsgrad des Liedes

– die subjektive Anerkennung des Liedes als gemeinsame Ausdrucksform

– das Weiterleben des Liedes in der Gemeinschaft.

Das Weiterleben bedeutet in diesem Sinne die Weitergabe des Kulturgutes von Generation zu Generation, gleichzeitig bedeutet aber der Begriff Leben auch Bewegung, Dynamik, deshalb vertritt Bartók die Meinung, dass es zum Volkslied dazugehört, aber nicht eine Bedingung desselben ist, dass Text und Melodie durch das Volk variiert werden (können).9

In der Arbeit wird anhand der Analyse einzelner Lieder an Beispielen gezeigt, dass diese Lebendigkeit, das Variieren von Text und Melodie, zu gewissen Zeiten oder unter entsprechenden Bedingungen, auch in den ungarndeutschen Liedgemeinschaften, vorhanden und lebendig war.

 

Fragen zur Institutionalisierung des Volksliedgutes

Der Prozess der Institutionalisierung des Volksliedgutes kann am Beispiel des geistlichen Liedes gezeigt werden, dem innerhalb der untersuchten Gemeinschaft eine große Bedeutung zukommt. Es diente nämlich nicht nur als Andachtslied im Rahmen des Gottesdienstes, sondern wurde sehr häufig und ganz spontan auch zu Hause gesungen, z. B. an größeren Feiertagen und Festen, wenn die engere oder größere Familie zusammen war.

Wenn man also einem großen Teil der Kirchenlieder einen Volksliedcharakter zugesteht, so sind bei diesen Liedern den Variationen enge Grenzen zu setzen, da Kirchenlieder in der Regel in Gesangbüchern, die überregional gelten, abgedruckt sind. Auch in volkskundlicher Hinsicht stellt die Erforschung des geistlichen Liedes ein interessantes Problem dar, weil darin die Möglichkeit des Variierens durch die dauernde Kontrolle des gedruckten Textes im Gesangbuch gehemmt ist. Wir können also als Ergebnis dieser Überlegungen festhalten: Immer dann, wenn sich Institutionen des Volksliedes annehmen, werden Variationen zurückgedrängt, was für das Volkslied, aufgrund seines dritten oben erwähnten Merkmals, die größte Gefahr – wenn nicht seinen Tod bedeutet.

Wenn also in Zukunft die Weitergabe des ungarndeutschen Volksliedgutes von einer Generation zur anderen nicht mehr spontan, sondern in gedruckter Form erfolgt, werden die festgelegten Texte und Melodien als Basis gelten. Das wird umso stärker zu bemerken sein, wenn sich Volkskunstensembles – wie das in vielen ungarndeutschen Ortschaften der Fall ist – des Volksliedes annehmen. Diese Behauptung soll keine Wertung sein, sondern vielmehr eine Feststellung, mit der wir uns vertraut machen müssen. Denn in seinem ursprünglichen Wesen ist das ungarndeutsche Volkslied mit Sicherheit nicht mehr zu retten.

Zu retten ist jedoch sein Material, das einen wichtigen Teil des Kulturgutes der Ungarndeutschen ausmacht, da den Liedern und Volksliedern eine wichtige Rolle bei der Kulturtradierung zukommt.

So müssen wir einen Kompromiss eingehen und die Verantwortung für die Institutionalisierung des Volksliedgutes durch die Dokumentation übernehmen, auch wenn dadurch Variationsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt werden. Das ist der Preis dafür, dass ein Teil dieses wertvollen Kulturgutes noch gerettet werden kann.

 

Wandlungen des Liedes

Nach der Definition des Volksliedes von Bartók (s. o.) ist das Volkslied ein komplexes Gefüge von Stilkonventionen, und jede Umformung strebt Veränderungen an, die dazu führen, dass das entstandene Produkt in den Rahmen dieses einheitlichen Stils passt. So muss auch der Begriff des sog. „Zersingens” neu definiert werden. Dieser Prozess des Zersingens, der vom Kunstlied aus gesehen eine Entformung darstellt, bedeutet gleichzeitig auch eine Einformung, eine Anpassung an ein neues Lebenselement. Durch die Übernahme des Kunstliedes in eine ganz andere Lebenssphäre gehen immer mehr Stilelemente des Volksliedes in das Kunstlied über. Das Lied wird aus seiner Einmaligkeit und seiner Formgebundenheit herausgehoben, und Gehalt sowie Form werden durch Verallgemeinerung und Typisierung umgewandelt. Diese Umwandlungen gehören zum Wesen des Volksliedes, das Einhemmen dieses Variierens bedeutet dessen Tod. Jedes Singen ist in gewisser Hinsicht ein Neudichten und Neuerleben. Bartók meint dazu:

„Es ist anzunehmen, dass fast jede heute bekannte neuere europäische Bauernmusik10 durch den Einfluss irgendwelcher, namentlich »volkstümlicher« Kunstmusik entstanden ist.”
„Unter volkstümlicher Kunstmusik verstehen wir die musikalischen Produkte von Autoren, die – in gewissem Grade musikalisch geschult – in ihren Werken manche Eigenarten aus dem Bauernmusikstil ihrer Heimat mit Schablonen der höheren Kunstmusik vermischen.”11

So gesehen entsteht zwischen Volkslied und Kunstlied eine komplizierte Wechselwirkung, wenn es darum geht, dass ein Kunstlied den Weg betreten hat, zum Volkslied zu werden. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass es in den Rahmen dieses einheitlichen Stils eingeordnet werden kann. Nicht jedes Kunstlied taugt dazu, von der Liedgemeinschaft und Sprachgemeinschaft angenommen und zum Volkslied gestaltet zu werden.

„Ich wiederhole ausdrücklich, dass solche fremden Melodien, z. B. volkstümliche Kunstlieder, nur dann zu Bauernmusik werden, wenn die Bauern davon instinktmäßig Gebrauch machen. Künstlich in die Bauernklasse importierte Musik, wie z. B. die in den Schulen gelernten patriotischen und ähnlichen Lieder, dienen meistens nicht dem instinktiven Ausdruck ihrer musikalischen Gefühle, wie es bei den aus eigenem Antriebe übernommenen Melodien der Fall ist.”12

Auch in unserer Sammlung gibt es volkstümliche Lieder, die vom Volk übernommen und ins eigene Lebenselement eingeformt wurden. Darunter ist zu verstehen, dass viele Volkslieder in verschiedenen Gebieten mit abgewandelten Texten und variierter Melodie gesungen wurden.

 

Veränderungen im Text

Dem Text als solchem mit seinem immanenten Sinngehalt wird vom singenden Volk meistens eine geringe Bedeutung beigemessen. Das Erlebnis klammert sich oft nur an eine Zeile oder eine Strophe und das Übrige bleibt peripher, nebensächlich.

Besondere Worte und Begriffe, die das Volk nicht versteht, an welche es deshalb auch keinen Erlebnisgehalt knüpfen kann, werden durch andere ersetzt: z. B. Ortsbezeichnungen, auf die überhaupt wenig Wert gelegt wird. Es kommt vor, dass der ganze Sinngehalt des Kunstliedes der gemeinschaftlichen Erlebnisweise fremd ist und deshalb bis zur Unverständlichkeit zerstört und umgeändert wird.

Die inhaltlichen Veränderungen sind mit den formalen Abänderungen eng verbunden. Eine häufige Erscheinung im Volkslied ist, dass es sich aus Formeln und Wortkomplexen zusammensetzt. Wo das Lied wirklich lebt, steht jedem Singenden ein ziemlich reicher Schatz an Formeln zur Verfügung, mit denen er auch Neubildungen vornehmen kann. Solche Formeln sind z. B.: Herzallerliebste, schneeweiße Hand, Rosenmund usw.

Zwei Grundprozesse der Veränderung sind die Aushöhlung und die Kontamination.

Aushöhlung nennt man den Vorgang, bei dem vom Lied bei der Weitergabe alles, was vom Volk/von der Gemeinschaft als überflüssig empfunden wird, wegfällt. Diese Kürzungen können im Einzelfall einen ästhetischen Gewinn erbringen. Dieser ist aber auf keinen Fall bewusst und wird meistens auch nicht erreicht. Sehr häufig werden die Geschlossenheit, die logische Struktur und Stimmungsfolge im Lied zerstört. Bei manchen Liedern wird der ganze Zusammenhang bis zur Sinnlosigkeit zerstört, und doch werden sie weitergesungen.

Bei der Kontamination fügen sich Bestandteile verschiedenster Lieder zu neuen Gebilden zusammen. Das so entstandene Lied stellt keine Sinneinheit mehr dar. Die Kontamination vollzieht sich meistens nach den Gesetzen der Assoziation durch Übereinstimmung irgendeines Wortes oder einer einprägsamen Formel, durch Ähnlichkeit der Melodie. Es kommt vor, daß ein ganzes Lied aus zusammengefügten Wanderstrophen entsteht, ohne dass ein selbständiger Kern vorhanden wäre, oder dass der ursprüngliche Kern zusammenschrumpft und seine Bedeutung verliert.

 

Das Variieren der Melodie

Bartók beschäftigt sich in seinem Buch über das ungarische Volkslied mit dem Verhältnis von Melodie und Text und stellt die wichtige Frage, ob „jede Melodie an einen bestimmten besonderen Text gebunden ist, mit welchem sie eine unauflösliche Einheit bildet oder nicht”.13

Nach seinen Beobachtungen kann diese Frage bei einigen Volksliedern „alten Stils” mit ja beantwortet werden. In der Mehrheit der Fälle kann jedoch dieser unmittelbare Zusammenhang sicherlich nicht nachgewiesen werden.

„In der Blütezeit eines Bauernmusikstils entstehen eine große Menge einander sehr ähnlicher Melodien mit gleichem Rhythmus und gleicher Strophenstruktur; es ist psychologisch unmöglich, dass jede einzelne, von der anderen nur in Nuancen abweichende Melodie je einen streng an sie gebundenen, von ihr untrennbaren Text gehabt haben könnte.”14

Diese Feststellung trifft auch auf die ungarndeutschen Volkslieder zu. Wenn man unsere Melodien mit anderen Sammlungen aus Deutschland und aus Ungarn vergleicht, stellt sich heraus, dass dabei sehr wenig Gemeinsames gefunden werden kann. Auch die gleichen Lieder mit unwesentlichen Textabweichungen weisen ganz andere Melodien auf, die miteinander überhaupt nichts zu tun haben. Diese Mannigfaltigkeit der Melodien kann durch die Entstehung und Verbreitung der Melodien innerhalb der Singgemeinschaft erklärt werden. Oft kommt es vor, dass zur Melodie eines allgemein bekannten Liedes (meistens Volksliedes) das Volk einen neuen Text dichtet.

Noch verbreiteter ist der Fall, dass man den Text eines Liedes kennt, die Melodie aber unbekannt ist. Das hängt damit zusammen, dass es viel leichter war, den Text als die Melodie aufzuzeichnen. Ein Liederbuch gab es im Sammelort nicht, und auch fliegende Blätter sind fast unbekannt und beschränken sich nur auf Zweckschöpfungen. Die meisten Lieder werden mündlich überliefert oder seltener durch Handschriften verbreitet. Wandernde Bergleute, die sich teils hier niederließen, und hiesige Handwerksgesellen, die von ihren Wanderungen zurückkehrten, brachten viele neue Lieder ins Dorf.

Der konkrete Weg der Verbreitung der Melodie war oft folgender: Jemand hörte irgendwo ein neues Lied, das ihm gefiel. Er schrieb sich den Text des Liedes auf, hörte es sich noch manchmal an und brachte es nach Hause. Im besten Fall, wenn er ein gutes Gehör hatte, merkte er sich die Melodie. Viel häufiger geschah es aber, dass davon nur Bruchstücke erhalten blieben, die übrigen Teile wurden dann durch erfundene Melodien oder durch Melodiestreifen anderer Lieder ersetzt. So entstand die Kontamination auch innerhalb der Melodie. In ganz extremen Fällen war auch die Melodie völlig unbekannt, so dass man einfach versuchte, das Lied nach einer bekannten Melodie zu singen. Wenn es klappte, verbreitete sich das Lied mit dieser Melodie. Daher kommt also die unverständliche Mannigfaltigkeit der Melodien. Weitere Forschungen werden sicher entscheiden, in wie viel Melodievarianten derselbe Text auch hier in Ungarn lebt.

Nach diesen theoretischen Überlegungen entstand eine Liedersammlung, die 32 ausgewählte Beispiele aus dem Liedgut der Ungarndeutschen umfasst. Die Tonbandaufzeichnungen, die umfangreicher sind als das schriftlich bearbeitete Material, wurden von Mitarbeitern des Musikwissenschaftlichen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA Zenetudományi Intézet Népzenei Archivuma) überspielt und konserviert, sie sind hier unter den Katalognummern Mg 5414, Mg 6371 und Mg 6375 aufbewahrt und Interessenten zugänglich.

Die Lieder sollen durch diese Dokumentation allen, die der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bei der Tradierung ungarndeutscher Kulturgüter bewusst werden und aktiv mitwirken, zur Verfügung stehen und sie bei ihrer Arbeit unterstützen.

Einen besonderen Dank möchte ich Prof. Dr. Karl Manherz aussprechen, der diese Arbeit durch Anregungen in die Wege geleitet und mit seinem persönlichen Engagement unterstützt hat.

 

Anmerkungen

1

Habermas, J.: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? 1974, 1976.

2

Manherz, K.: Ungarndeutsche Volkskultur als Vehikel der Identität der Deutschen in Ungarn. In: Suevia Pannonica, Jg. 8. (1991), Nr. 18, 69–70.

3

Ebd.

4

Bayer, J.: Nemzeti kérdés és „alkotmányos patriotizmus”. In: Kritika 20 (1991), 6–11.

5

Ebd.

6

Ebd.

7

Manherz, K.: Ungarndeutsche Volkskultur als Vehikel der Identität der Deutschen in Ungarn. In: Suevia Pannonica, Jg. 8. (1991), Nr. 18, 69–74.

8

Bartók, B.: Das ungarische Volkslied. (Faksimile-Nachdruck) Budapest 1965, S. 18–20.

9

Ebd.

10

Bartók verwendet für den Begriff Volksmusik den Ausdruck „Bauernmusik”.

11

Bartók, B.: Das ungarische Volkslied. (Faksimile-Nachdruck) Budapest 1965, S. 17–18.

12

Bartók, B.: Das ungarische Volkslied. (Faksimile-Nachdruck) Budapest 1965, S. 18.

13

Ebd., S. 57.

14

Bartók, B.: Das ungarische Volkslied. (Faksimile-Nachdruck) Budapest 1965, S. 58.