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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 21: 217–221.

FERENC GLATZ

Die „kleinen Nationen” und die „kleinen Sprachen” in Mittelosteuropa

Vorwort

 

Eine der großen Fragen unseres Zeitalters ist die, ob neben den sich zu politischen und kulturellen Weltmächten auswachsenden Kulturen der großen Sprachen die Nationalkulturen der kleinen Sprachen als lebensfähige kulturelle Gemeinschaften erhalten bleiben können. Werden die kleinen nationalen Gemeinschaften nicht ihre Kultur in der eigenen Muttersprache verlieren? Besonders uns Völker in Mittelosteuropa beschäftigt diese Frage, wo ungefähr ein Dutzend kleine Kulturen auf einem relativ kleinen Gebiet nebeneinander leben. Was für ein Schicksal werden die unterschiedlichen slawischen Kulturen, die rumänische und die ungarische Kultur sowie die anderen Kulturen haben? Werden die kleinen Nationalkulturen von der Produktions- und Handelsglobalisierung, von der damit verbundenen Wanderung der Arbeitskräfte, von der Verbreitung der Kulturen in den großen Sprachen, vom Fernsehen, vom Rundfunk und vom Reisen beseitigt? Welche Sprachen werden die Menschen des folgenden Jahrhunderts gebrauchen?

Eine Detailfrage in den Zukunftsanalysen in Bezug auf die kleinen Nationalkulturen ist folgende: was wird mit der Kultur der kleinen nationalen Gemeinschaften werden, die innerhalb eines Staates heute als nationale Minderheit leben? Auch dies ist eine ziemlich spezifische Frage in Ostmitteleuropa, decken sich doch, wie es allgemein bekannt ist, in diesem Raum die Grenzen der Staatsgebiete und der nationalen Siedlungsgebiete nicht. Beinahe in allen Ländern leben nationale Minderheiten, obzwar die entnationalisierenden Aktionen des 20. Jahrhunderts – sowohl zur Zeit der demokratischen, als auch der diktatorischen politischen Systeme – die als nationale Minderheiten lebenden Menschen des Gebrauchs ihrer ursprünglichen Sprache, ja sogar ihrer Bräuche beraubt haben. Ganz zu schweigen von dem auf ethnischer Grundlage erfolgten Blutvergießen.

Als die Ungarische Akademie der Wissenschaften sich der Aufgabe unterzogen hatte, dass ihre Wissenschaftler die gesellschaftlichen und weltpolitischen Alternativen der vor uns liegenden Jahrzehnte umreißen sollen, hatten wir natürlich auch die Erörterung der Frage der mittelosteuropäischen Minderheiten unter unsere Forschungsthemen aufgenommen. Und als im Jahre 1990 das Europa Institut Budapest gegründet wurde, nahmen wir als große europäische Frage dieses Raumes unter die Zielsetzungen des Instituts die Themen der kleinen mittelosteuropäischen Nationen auf. Im vergangenen Jahr wurden dann dem Europa Institut Budapest auch finanzielle Fördermittel zur Behandlung des Themas gewährt. In Zusammenarbeit mit den Strategischen Programmen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, mit dem Institut für Minderheitenforschungen und mit dem Germanistischen Institut will das Europa Institut Budapest auf einer Reihe von Konferenzen und im Rahmen von Publikationen und von Abhandlungen die Situation der mittelosteuropäischen Minderheiten untersuchen. Und es will die Alternativen erforschen, welche Möglichkeiten sich zum Erhalten der Kulturen der Minderheiten ergeben.

Gestatten Sie mir, in meinem Referat einige praktisch scheinende Thesen vorauszuschicken.

Erste These: Von der Europäischen Union können wir einstweilen nur wenig Unterstützung auf dem Gebiet der Förderung der Minderheitenkulturen innerhalb der Staaten auf der Ebene der Gemeinschaft erwarten. Dennoch muss alles unternommen werden, damit es die Politikmacher akzeptieren: es ist Bestandteil der gesellschaftlichen Demokratie und der Menschenrechte, dass die Minderheitenkulturen bestehen bleiben können.

Erläuterung: Auch in den großen Staaten Westeuropas, vor allem in Frankreich, Großbritannien und in Spanien, wurden vor anderthalb Jahrzehnten in den ethnisch-sprachlichen Minderheiten nur destabilisierende Faktoren erblickt. Die einseitige staatsbürgerliche Identität, die eine der mehrdeutigen Errungenschaften der großartigen Französischen Revolution war, hatte die kollektive Repräsentanz der von der Staatsangehörigkeit unabhängigen sonstigen Identitäten nicht akzeptiert. Es sei hinzugefügt: deshalb wurden für mich so ideale klassische liberale Politiker sowohl mit dem sozialen Kollektivismus, als auch mit dem nationalen Kollektivismus konfrontiert. Die Situation wandelt sich nur langsam, zur Zeit der Entstehung der Europäischen Union (1992) wurden die ersten Empfehlungen des Minderheitenschutzes angenommen, deren Reihe dann in der zweiten Hälfte der 90er Jahren langsam erweitert wurde.

Zweite These: Eine der ungeklärten Bedingungen für die Osterweiterung der Europäischen Union: die Fixierung der kollektiven Rechte der innerhalb der einzelnen Staaten lebenden nationalen Minderheiten.

Erläuterung: Von den westeuropäischen Politikern werden in den mittelosteuropäischen nationalen (und religiösen) Minderheitenkonflikten politisch und gesellschaftlich destabilisierende Faktoren erblickt. Sie kennen die neuzeitliche Entwicklung dieses Raumes nicht ausreichend, sie wissen nicht, dass in diesem Raum neben der staatsbürgerlichen Identität die nationale Brauchtumsidentität der Menschen sich mehr erhalten hat als in Westeuropa. Von den hiesigen Reichen, in der Zeit als feudalistisch bezeichnet, vom Habsburgerreich und vom Türkischen Reich, wurde auf paradoxe Weise auf dem Territorium des Staates die nationale und religiöse Vielfalt in einem höheren Maße zugelassen als von den liberalen Demokratien in Westeuropa.

Deshalb muss es den westeuropäischen Kollegen erklärt werden, dass sie mit der mittelosteuropäischen ethnischen Vielfalt als Gegebenheit umzugehen haben. Sie müssen zur Kenntnis nehmen: die westeuropäischen gemeinschaftlichen Normativen können nicht in unveränderter Form in Mittelosteuropa angewendet werden.

Dritte These: Die Kulturen sind gleichwertig, alle stehen unseren Göttern gleich nahe. Die Regelung der Rechte der nationalen Minderheiten dieses Raumes kann nur auf einheitlicher Grundlage vorgenommen werden. Auch der ungarische Staat muss zur Kenntnis nehmen: man kann die juristische Stellung der in den Nachbarstaaten lebenden Ungarn nicht regeln, ohne dass die Stellung der nicht-ungarischen Völker in Ungarn geregelt würde.

Erläuterung: In diesem Raum wurden mit der Entstehung der Nationalstaaten nach 1920 die vor 1918 entstandenen nationalen Gegengefühle und nationalen Interessengegensätze auf eine institutionelle Ebene angehoben. Nach 1945, zur Zeit der sowjetischen Besetzung, wurden die Widersprüche unter den Teppich gekehrt. So auch die Probleme der nationalen Minderheiten innerhalb des Staates.

Nach 1990, nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems, wurde von allen Nationen der Welt mitgeteilt: sie wollen ihre nationalen Brüder, die in den Nachbarstaaten in der Minderheit leben, verteidigen. Und inzwischen vergaßen sie die auf dem Territorium ihres eigenen Staates lebenden nationalen Minderheiten.

Auch die heutige ungarische Minderheitenpolitik verfällt in diesen Fehler: in der Erbitterung wegen des Minderheitenschicksals der jenseits der Grenzen lebenden Ungarn vergisst sie ihre Pflicht, bei den in Ungarn lebenden deutschen, rumänischen, kroatischen, slowakischen, serbischen Minderheiten, ja sogar bei der Roma-Minderheit oder dem sich auf unterschiedlicher Grundlage, doch nicht als „Minderheit” identifizierenden Judentum, die menschlichen Rechte zu achten und für das Fortleben ihrer Kultur zu sorgen.

Vierte These: Die Minderheitenfrage ist keine „innere”, sondern eine regionale Angelegenheit. In Bezug auf die nationalen Minderheiten haben sich die mittelosteuropäischen Staaten in Bezug auf einen Verhaltenskodex miteinander zu einigen.

Erläuterung: In der Denkweise der in diesem Raum in der Politik gegenwärtig eine Rolle spielenden Generation lebt immer noch die politische Innervation des sowjetischen Systems fort: jeder soll vor seiner eigenen Tür kehren. Vor kurzer Zeit hatte ich dem slowakischen Unterrichtsminister angeboten, die Slowakei solle den ungarländischen Slowaken slowakische staatliche Fördermittel zur Bewahrung ihrer Identität gewähren. Auch ich habe es angeboten: von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sollen Stipendien, Ressourcen zur Sicherung der Selbstidentität des dortigen Ungartums in die Slowakei vergeben werden. Die Antwort war eine starre Ablehnung. Der Minister antwortete: Alle Rechte der slowakischen Ungarn sind gesichert, dies ist die innere Angelegenheit des slowakischen Staates, das Schicksal der ungarländischen Slowaken ist die innere Angelegenheit Ungarns, die Slowakei interessiert die Frage nur auf dem Niveau, ob der ungarische Staat den internationalen Konventionen nachkommt oder nicht. Ich muss aber sagen: auch den kroatischen Unterrichtsminister musste ich darum ersuchen, er möge kroatische Ressourcen und Bücher nach Ungarn bringen, damit die Kultur der ungarländischen Kroaten bewahrt wird. Der Minister ist ein kluger, gebildeter und demokratische Mann, er erwiderte: Kroatien freut sich, wenn die Kultur der Ungarn in Kroatien vom ungarischen Staat gefördert wird, Kroatien habe aber keine Mittel, um den Kroaten in Ungarn helfen zu können.

In der Europäischen Union muss hierüber aber anders gedacht werden.

Fünfte These: Der Staat hat eine Minderheitenintelligenz auszubilden und am Leben zu erhalten. Dazu reicht es nicht aus, nur die Minderheitenverbände zu finanzieren. Zur Erhaltung der Minderheitenkultur müssen vom Staat Institutionen gegründet und Stellen geschaffen werden: Stellen an Universitäten, bei Verlagen und Redaktionen, als Wissenschaftler, als Redakteure und Reporter beim Fernsehen und Rundfunk, als Übersetzer. Wenn kein persönliches Interesse besteht zur Betreibung der Minderheitenkultur, dann werden in unseren Staaten die nationalen Minderheiten aussterben.

Erläuterung: Ein bedeutender Teil der in der Minderheit lebenden Menschen gehört zur sozialen Schicht der physischen Werktätigen oder niedrigen Beamten. Es ist das Interesse aller mittelosteuropäischer Gesellschaften, die Grenzen der Staaten dieses Raumes durchgängig zu machen. Einen Unterhalt sichert der Austausch der materiellen und kulturellen Güter: Slowaken, Deutsche, Rumänen und Südslawen können Tagewerker des Vermittlerhandels, der regionalen Kooperationen sein. Und diese Mittlerrolle wird weder englisch noch deutsch abgewickelt werden. Es ist das Interesse aller Nationen dieses Raumes, dass hier eine multikulturelle Intelligenz besteht.

Wir sind also bei der Harmonie von Vernunft, Gefühlen und Interessen angelangt. Diese soll unser Denken durchdringen! Jene Institutionen, an deren Spitze ich mit entscheiden kann, was die Verwendung der Ressourcen anbelangt, werden immer für die Interessen der Entwicklung dieser menschlichen Werte kämpfen.