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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:205–213.

IMRE RESS

Parallelen und Unterschiede der Nationsbildung der bosnischen Muslime im 19. und im 20. Jahrhundert

 

Die Anfänge der Nationsbildung der Muslime in Bosnien führen auf die Okkupationszeit der Habsburgermonarchie zurück. Dieser Prozess ist aber Jahrzehnte später nach der Auflösung der Habsburgermonarchie, erst in den 1960–70er Jahren im sozialistischen Jugoslawien mit der Deklarierung einer muslimischen Nation abgeschlossen worden. Ist diese bosnisch-muslimische Nation ein Produkt oder ein schweres Erbe der österreichisch-ungarischen Herrschaft, wie dies während des bosnischen Krieges in den 1990er Jahren serbischerseits immer wieder vorgeworfen wurde? Haben die jugoslawischen Kommunisten die Politik der Habsburgermonarchie einfach nachgemacht, oder hatte der moderne jugoslawische Vielvölkerstaat etwa die gleichen innersüdslawischen nationalen Probleme zu lösen, an denen die Donaumonarchie auseinanderbrach? Mit dem Vergleich der beiden Nationsbildungen wird es versucht, diese Fragen zu beantworten und die Parallelen und Unterschiede anzuführen.

Im Frühling des nationalen Erwachens am Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die drei südslawischen konfessionellen Gruppen, die sich in Bosnien und in der Herzegowina unter der mehr als dreihundert Jahre lang andauernden osmanischen Herrschaft herausbildeten, keine gemeinsame politischen Ziele und Ideale. Die Muslime, die Orthodoxen und die Katholiken richteten sich nach verschiedenen Geistes- und Machtzentren. Zwischen den Gruppen, die sich auf konfessioneller Basis separiert haben, blieb die aus religiöser Zugehörigkeit stammende rechtliche und soziale Ungleichheit gravierend erhalten. In Folge solcher Gegebenheiten konnte keine der drei Konfessionen eine umfassende, territorialbezogene bosnische Nationalideologie entwickeln.

Mit der Erscheinung der bürgerlichen Nationalismen wurden sogar solche Bewusstseinselemente in den Hintergrund gedrängt, die eine Art von Gemeinschaft der Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina zum Ausdruck brachten. Auch die Sprache, die von der heimischen Bevölkerung – unabhängig von deren Konfessionszugehörigkeit – Jahrhunderte lang als bosnisch bezeichnet wurde, wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts von den Sprachwissenschaftlern, die die kroatischen und serbischen Nationen mit Hilfe von sprachlichen Kriterien abgrenzten, auf Serbisch und kroatisch, später auf Serbokroatisch umbenannt. Gleichzeitig wurde der bosnische Landespatriotismus, der die konfessionelle Separierung in gewissem Maße überbrückte, vor allem bei den zwei christlichen Konfessionen von der serbischen und kroatischen Nationsidee zurückgedrängt.

Es ist bemerkenswert, dass die südslawischen nationalen Programme in Bezug auf Bosnien beinahe ausnahmslos außerhalb der Grenzen des Landes entstanden. In der serbischen nationalen Ideologie zählten Bosnien und die Herzegowina schon am Anfang des 19. Jahrhunderts zum unabkömmlichen Bestandteil des zu errichtenden Nationalstaates. Der herausragende Vertreter des serbischen politischen Nationalismus, Ilija Garašanin kannte in den beiden Provinzen außer der serbischen keine andere politische, nationale Individualität. Für ihn war es selbstverständlich, dass die Landbewohner Bosniens Serben sind, die „zu drei Konfessionen gehören.” Der große serbische Sprachwissenschaftler Vuk Karadžić hat mit seiner linguistischen Argumentierung, dass er alle Südslawen, die den „što”-Dialekt sprachen, zu Serben erklärte, die ausschließliche serbische Prägung von Bosnien und Herzegowina bestätigt.

Von kroatischer Seite wurden die territorialen Ansprüche auf einen Teil bzw. auf das Ganze Bosniens vom Anfang das 19. Jahrhunderts zuerst mit historischen, bzw. mit ständisch-staatsrechtlichen Argumenten erhoben. Dieses Vorhaben gewann in den 1860er Jahren in der Ablehnung des sich abzeichnenden deutsch-ungarischen Dualismus eine besondere politische Aktualität. Laut den kroatischen Vorstellungen sollte Bosnien als das dynastische Erbe der mittelalterlichen ungarisch-kroatischen Herrscher unter dem Zepter der Habsburger mit dem Dreieinigen Königreich Kroatien-Slawonien-Dalmatien baldmöglichst vereinigt werden, damit das südslawische Element innerhalb der Habsburgermonarchie in dem Maße ansteigt, und so das Zustandekommen einer dualistischen Staatsordnung, die auf der deutsch-ungarischen Suprematie beruht, vereitelt wird.

Abweichend von den in Bosnien lebenden Serben und Kroaten erhielten die bosnischen Muslime keine positiven, äußeren Impulse, die ihre nationale Identifizierung vorantrieb. Die übernationale osmanische Reichsidee und der islamische Universalismus, die beiden wichtigsten identitätsstiftenden Triebfedern für die bosnischen Muslime, beförderten kaum die Entstehung einer neuartigen Selbstidentifikation und die Herausbildung eines partikulär-nationalen Selbstbewusstseins. Auf die Regungen der serbischen und kroatischen nationalen Bewegungen, die auf die Änderung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse drängten, antworteten die Muslime mit dem krampfhaften Festhalten an den islamischen Traditionen und bewusster Abgrenzung von den südslawischen Kulturerscheinungen. Ein charakteristisches Zeichen dafür war vom Anfang des 19. Jahrhunderts an die immer stärkere Verbreitung der Benutzung der arabischen Schrift und der türkischen Sprache seitens der muslimischen Elite. Doch diese führte noch längst nicht zur Entfaltung einer Art von modernem türkischem Sprachnationalismus. In diesen Bestrebungen äußerte sich viel mehr ein islamischer Traditionalismus bosnischer Prägung, der sich auch mit der Reichsregierung in Istanbul wegen Übernahme bestimmter europäischer Institutionen und Rechtsnormen der Tanzimat-Zeit im dauernden Konflikt befand.

Im Zeichen dieses islamischen Traditionalismus entstand sogar eine antiosmanisch-antitürkische Attitüde im regionalen bosnisch-muslimischen Bewusstsein. Trotz dieser Gegensätze mit der Zentralgewalt des Osmanischen Reiches wurde die Okkupation 1878 und die Einführung der österreichisch-ungarischen Verwaltung seitens der Muslime als ihre existenzbedrohende Wende erlebt, da sie mit dem Wechsel der staatlichen Oberhoheit in politischer und konfessioneller Hinsicht die Garantie ihrer privilegierten sozialen Stellung gefährdet fühlten. Das hing damit zusammen, dass nach der Okkupation in Bosnien und in der Herzegowina mit einer Modernisierung begonnen wurde. Mit behutsamen und langsamen sozialen Reformen und mit der Adaptierung zeitgemäßer technischer Neuerungen ist es versucht worden, dieses wirtschaftlich rückständige, in seiner Kultur und Mentalität stark orientalisierte Gebiet in die europäische Zivilisation einzubinden.

Den österreich-ungarischen Modernisierungsbemühungen hielt der traditionelle Flügel der muslimischen Elite die Erreichung der konfessionellen Autonomie entgegen, die auf die Erhaltung der bestehenden gesellschaftlichen und Agrarverhältnisse bzw. auf die Erhaltung des auf dem Islam basierenden Schulsystems zusteuerte. Besonders im letzten Bereich blieben die Versuche der österreichisch-ungarischen Staatsgewalt, in den muslimischen konfessionellen Grundschulen den Unterricht der südslawischen Muttersprache und den der neuen praktischen Fächer einzuführen, ergebnislos. Das Fehlen des Unterrichts der Muttersprache und der Realfächer konservierte das Bildungsdefizit der Muslime und deren praktischen Analphabetismus. So ist die konfessionelle Autonomiebewegung der bosnischen Muslime, die seine Ziele 1909 erreichte, nicht mit einer nationalen Erweckungsbewegung gleichzusetzen. Diese Autonomie verstärkte die konfessionelle Separierung der Muslime, hielt zwar die Umwandlung des zur nationalen Gemeinschaft nötigen institutionellen Rahmens aufrecht, doch ist kein Ideensystem entwickelt worden, das die ethnische-nationale Identifizierung mit der Ideologisierung der gemeinsamen historischen Vergangenheit und Herkunft gewähren sollte. Bei den Muslimen in Bosnien hatte also die kirchliche Organisation auf die Nationsbildung keinen so direkten Einfluss gehabt, wie es in der Frühphase der serbischen und kroatischen Nationsbildung der Fall war.

Erst in dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts versuchte ein äußerst enger Kreis von Intellektuellen und einige Vertreter der traditionellen muslimischen Elite um den, auch weltlich gebildeten Aristokraten, Mehmed-beg Kapetanović Ljubušak, das geistige historische Erbe der Muslime im Sinne eines modernen Nationalismus umzudeuten. Sie traten als Erste gegen den muslimischen Traditionalismus auf, der sich ausschließlich auf die osmanische Vergangenheit beharrte und die türkische Sprache und die arabische Schrift bevorzugte. Der bosnische Landespatriotismus territorialer Art, d. h. die historische und die territoriale Absonderung Bosniens innerhalb der südslawischen Welt, sowie die Annahme und die Pflege der südslawischen Muttersprache wurde von ihnen in den Mittelpunkt der bosnisch-muslimischen Identität gestellt. Diese Kriterien ermöglichten es, sämtliche Einwohner Bosniens und der Herzegowina unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit zu einer einheitlichen bosnischen nationalen Gemeinschaft zu deklarieren. Dieses integrale Nationskonzept brach mit der osmanisch-türkischen Identifikation der bosnischen Muslime, betonte ihre Zugehörigkeit zu dem südslawischen Volkstum, das historisch mit der Abstammung von den mittelalterlichen Bogumilen belegt wurde.

Die Wirkung und die Ausstrahlung dieser Muslimbewegung, die im Zeichen der integralen bosnischen Nationsidee auftrat, blieb sehr beschränkt und führte trotz der Unterstützung der Regierungskreise den Habsburgermonarchie – hier sei vor allem auf die diesbezüglichen kulturellen Bemühungen des gemeinsamen Finanzministers Benjamin Kállay hingewiesen – nicht zur Entstehung einer von den Muslimen dominierten Staatsnation, die auch die zusammenlebenden Kroaten und Serben hätte integrieren können. Ohne die Mängel der sozio-ökonomischen Voraussetzung näher zu erläutern, soll vor allem hervorgehoben werden, dass sich diese bosnische Identität auch bei dieser dünnen Trägerschicht in einem Schwebezustand befand und sehr oft zu einem der exklusiven südslawischen Nationalismen, vor allem zu dem Kroatismus tendierte.

Nach der Jahrhundertwende gestalteten sich die politischen Voraussetzungen innerhalb der Habsburgermonarchie für die bosnische Nationsbildung ausgesprochen nachteilhaft, weil der promuslimische Kurs aufgegeben und den kirchlichen Autonomiebestrebungen, die die nationalen Absonderungen verstärkten, freie Bahn gewährt wurde. Auch das äußere Merkmal der bosnischen Nationsbildung, die bosnische Sprache wurde 1907 offiziell in die Serbokroatische umbenannt.

Zum Fortbestand des Schwebezustandes der Identität der muslimischen Intellektuellen trug wesentlich bei, dass sich die bestimmende historische Komponente der bosnischen nationalen Identität, die bogumil-muslimische Kontinuität auch als Argument zur Nationalisierung der Muslime im kroatischen Sinne verwendet werden konnte. Zur Kroatisierung der Muslime wurde die historische Argumentation gleichfalls aus dem frühen Mittelalter entnommen. Der charismatische Apostel der Errichtung des unabhängigen großkroatischen Staates, Ante Starčević schrieb sogar den Erfolg der kroatischen Landnahme den glorreichen kroatischen Ahnen der muslimischen Bosnier zu. Diese historischen Interpretationen, die die Vorahnen der Muslimen im günstigen Licht erscheinen ließen, blieben auf die muslimischen Intellektuellen nicht wirkungslos. Ein Großteil der Literaten, die sich in den frühen 1890er Jahren fest der bosnischen Nationsidee verschrieben haben, wie z.B. der Dichter Savet-beg Bašagić, der die bosnische Vergangenheit besungen hatte, oder der Schriftsteller Edhem Mulabdić, bezeichneten sich im späteren Abschnitt ihrer Laufbahn schon als muslimische Kroaten.

Trotz der kroatischen oder serbischen nationalen Bekenntnisse der Muslime war der Prozess der nationalen Identifikation kaum mit Säkularisierung verbunden. Für die Muslime blieb das separate konfessionelle und kulturelle Bewusstsein von einem konstanten und entscheidenden Belang. So erwies sich die Wahl der nationalen Zugehörigkeit sehr oft als zweitrangig, die in vielen Fällen stark von der politischen Konjunktur abhängig war. Es soll nur kurz der Umstand erwähnt werden, dass sich viele von den früheren, prominenten muslimisch-kroatischen Intellektuellen nach 1918, im serbisch dominierten Südslawischen Königreich nun als muslimische Serben bezeichneten.

Von einigen aufsehenerregenden Einzelfällen abgesehen, blieb die Mehrheit der Muslime im königlichen Jugoslawien doch auf kroatischer Seite, weil die zur Zeit der Staatsgründung erlittenen Repressalien und die antimuslimisch ausgerichteten Elemente der serbischen Nationalideologie, die Identifizierung der Muslime mit der dominierenden serbischen Nation nicht gerade motivierten. Trotz dieser Konflikte erkannten die Muslime die führende Rolle der Serben an, um damit eine kulturelle und religiöse Autonomie zu sichern. Diese Hyperloyalität hat zwar keine Früchte getragen, doch blieb die Neigung der Muslime zum Jugoslawismus aufrecht, weil sie gegen die serbische und kroatische nationale Vereinnahmung auf ein schützendes jugoslawisches Staatswesen angewiesen waren. Das Zueinandertreffen der Muslime mit dem offiziellen monarchischen Jugoslawismus kam doch nicht zustande. Der monarchische Jugoslawismus, der nach 1929 offiziell eingeführt wurde, stellte den Muslimen insoweit eine Enttäuschung dar, dass er sich zuerst am serbischen Unitarismus festhielt und dann nach der serbisch-kroatischen Verständigung von 1939 zeichnete sich die Aufteilung Bosniens unter Serben und Kroaten ab. Nach dem Zerfall des ersten Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg nahm die sowieso vorwiegend Kroaten freundliche muslimische Elite die Oberhoheit des unabhängigen kroatischen Staates an. Doch diese Option war wegen der nichterfüllten Autonomiewünsche und mit dem Ausbruch des blutigen Partisanenkrieges nur kurzlebig. Aus diesem Bürgerkrieg wollten sich die Muslime mit der Abspaltung von Kroatien heraushalten und eine muslimische Autonomie unter dem deutschen Protektorat erreichen. Dieser Versuch erwies sich auch als eine Sackgasse. Infolge des Ausganges des Zweiten Weltkrieges konnte die traditionelle muslimische Führungsschicht sogar die Aufrechthaltung ihrer religiösen-kulturellen Institutionen nicht sichern. Nach der kommunistischen Machtübernahme wurde das Vermögen und die kulturellen Einrichtungen der muslimischen Gemeinschaft unter dem Vorwand der Kollaboration mit den Kroaten und Deutschen enteignet und damit auch die bescheidenen traditionelle Organisationsrahmen einer Nationsbildung vernichtet.

Nach diesem Präludium scheint ein großes Paradoxon zu sein, dass die Entstehung einer muslimischen Nation in Bosnien von den jugoslawischen Kommunisten begünstigt und die bosnischen Muslime in den 1960–70er Jahren sogar politisch und verfassungsrechtlich zu einer eigenen jugoslawischen Nation aufgewertet wurden. Die geistigen Grundlagen und die historischen Voraussetzungen waren dafür nicht eindeutig günstig, obwohl die kommunistischen Partisanen unter den jugoslawischen Widerstandsbewegungen die einzigen waren, die eine markante jugoslawische Zukunftsvision verkündeten. Es wurde unter anderen die Wiederherstellung des jugoslawischen Staates in föderativer Form, die Gleichberechtigung der südslawischen Nationen und die Autonomie Bosniens innerhalb seiner historischen Grenzen in Aussicht gestellt. Dieser kommunistische Jugoslawismus war während des Partisanenkrieges von den Muslimen kaum beachtet. Ein Beweis dafür ist es, dass der Anteil der Muslime in der Partisanenarmee erst in den letzten triumphalen Kriegsmonaten auf die bescheidenen 2,5 % anstieg. Die Kriegsverdienste der Muslime waren also nicht ausreichend, um einen Anspruch auf die Anerkennung der muslimischen Gemeinschaft als südslawische Nation erheben zu können. So sind die bosnischen Muslime nicht unter den fünf Staatsgründer-Nationen des zweiten Jugoslawiens zu finden, denen eigene staatliche Territorien und in je einer föderativen Republik der Status einer Staatsnation zugewiesen wurden. Allein die föderative Republik Bosnien hatte keine eigene Staatsnation gehabt, sondern sie wurde als Republik der Teil der serbischen und kroatischen Nationen und der bosnischen Muslime etabliert. Neben den Serben und Kroaten rangierten die Muslime aber politisch nicht gleichberechtigt, weil sie keine Nation waren. Für die als national unbestimmt geltenden Muslime blieb nur die Alternative, sich freiwillig an die serbischen oder kroatischen Nationen anzuschließen.

Die Politik der freien Identitätswahl der Muslime veränderte sich in den 1960er Jahren. Vor allem die bosnische Parteielite verlangte die Bildung einer muslimischen Nation, also eine eigene selbständige Nation für Bosnien. Die politischen Bedingungen und die juristischen Rahmen dieser neuen südslawischen Nation kamen innerhalb der Bundespartei der Kommunisten und der zentralen Regierungsorgane eigentlich in den Jahren 1966–68 zustande. Der ganze Prozess ist mit der Verabschiedung einer neuen Bundesverfassung im Jahre 1974 abgeschlossen. Die Gründe dafür sind sowohl innen- und als auch außenpolitischer Natur. Die Anerkennung einer muslimischen Nationsbildung steht im engen Zusammenhang mit dem Bruch des unitarischen zentralistischen Jugoslawismus der Bundespartei der Kommunisten und dem Abrücken vom Programm einer homogenen jugoslawischen Nation, die im Zeichen der stalinistisch-sowjetischen Doktrin der Verschmelzungstheorie der Nationen sowieso erst für das Stadium einer kommunistischen Gesellschaft prognostiziert wurde. Zur Zeit der Erweiterung der Rechte der Teilrepubliken waren die innenpolitischen Überlegungen ausschlaggebend, weil die Bundeszentrale Bosnien einfach den serbischen und kroatischen Begehrlichkeiten nicht überlassen und mit der Schaffung einer eigenen Staatsnation die Position Bosniens innerhalb der Föderation bekräftigen wollte. Dieser Kunstgriff war am Ende der 1960er Jahre umso aktueller, weil die kroatischen und serbischen Bestrebungen, um ihre nationalen Positionen zu stärken, die Stabilität der Föderation gefährdeten. Mit der Schaffung einer eigenen nationalen Identifikationsmöglichkeit für die Muslime in Bosnien ist es tatsächlich erreicht worden, dass sie der jugoslawischen Staatsidee positiv gegenüber standen und ihnen die Führungsrolle im heftig umstrittenen Bosnien überlassen werden konnte. Es steht außer Zweifel, dass auch die außenpolitischen Überlegungen in der Anerkennung einer muslimischen Nation mitspielten, um damit die Sympathien und die Unterstützung für die Führungsrolle Jugoslawiens in der Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten zu sichern. Es sei noch die demografische Verschiebung erwähnt, dass die muslimische Bevölkerung infolge der höheren Geburtsrate und der serbischen Abwanderung zu dieser Zeit in Bosnien schon die relative Mehrheit darstellte.

Abschließend können die wichtigsten Übereinstimmungen und Unterschiede dieser beiden Nationsbildungen thesenartig wie folgt zusammengefasst werden:

1. Die Förderung der bosnischen bzw. muslimischen Nationsbildung wurde sowohl in der Habsburgermonarchie als auch im föderativen Jugoslawien ohne Zweifel als stabilisierender Faktor des Gesamtstaates und Bosniens betrachtet. Die Aufrechthaltung des nationalen Gleichgewichtes innerhalb Bosniens und die Vorbeugung der Zuspitzung der Gegensätze und Vereitelung möglicher Konflikte zwischen Serben und Kroaten wegen der Zugehörigkeit Bosniens waren die maximalen Zielsetzungen der beiden Vielvölkerstaaten.

2. Als das Erbe der Habsburgermonarchie kann betrachtet werden, dass die bosnische Landesverfassung vom Jahre 1974 eine eigene Landessprache für Bosnien sanktionierte. Sie wurde zwar nicht bosnisch genannt, fiel aber mit dem sog. Ikavica-Dialekt zusammen, der unter der österreichisch-ungarischen Verwaltung als bosnische Sprache fungierte. Dieses weitblickende sprachpolitische Verdienst der habsburgischen Tradition kann insoweit relativiert werden, wenn man in Betracht zieht, dass die neuerliche Deklarierung einer Landessprache für Bosnien inmitten eines heftigen serbisch-kroatischen Sprachkampfes erfolgte. Logischerweise war man mit dieser sprachlichen Abgrenzung bestrebt, Bosnien von diesem Sprachkampf fernzuhalten. Nach dem Ausscheiden Bosniens aus der jugoslawischen Föderation wurde die Landessprache wieder Bosnisch genannt und die Unterschiede gegenüber dem Serbischen und Kroatischen wurden durch die Standardisierung der lokalen dialektologischen Eigenheiten hervorgehoben.

3. Die in der Habsburgermonarchie geförderte nationale Verselbständigung der bosnischen Muslime war kein Versuch einer muslimischen Nationsbildung sondern die Entstehung einer überkonfessionellen bosnischen Gesamtnation war angestrebt. Die Trägerschicht der bosnischen Nationsbildung bestand doch ausschließlich aus Muslimen, die zwar über einen starken bosnischen Landespatriotismus und ausgeprägte territoriale Identität verfügten, doch keine bestimmende politische Macht, keine moderne Wirtschaftsstruktur, keine Kultur- und Bildungsinstitutionen besaßen. Außer dieser mangelnden Integrationsfaktoren scheiterte die Bildung einer bosnischen Gesamtnation vor allem an dem bereits stark entwickelten Nationalbewusstsein der serbischen und kroatischen Bevölkerungsteile und der Erfolg einer von den muslimischen Geistlichen und Grundbesitzern getragenen kirchlichen Autonomiebewegung setzte diesem Versuch nach der Jahrhundertwende ein jähes Ende.

4. Das Gelingen der muslimischen Nationsbildung im zweiten Jugoslawien hing vor allem damit zusammen, dass die Hauptträgerschicht dieses Vorhabens, die bosnische kommunistische Parteielite in ihrer Zusammensetzung einen multinationalen Charakter besaß und sich im Besitze des politischen Machtmonopols und der kulturellen Hegemonie befand. Diese muslimische Nationsbildung war nicht integral, sondern partiell veranlagt und trotz ihrer religiösen Benennung hatte sie keine panislamischen Tendenzen und geographisch blieb sie auf Bosnien-Herzegowina begrenzt. Die Anerkennung der Muslime als Nation berührte nicht das Problem der Zugehörigkeit der bosnischen Kroaten und Serben zu ihren jeweiligen Kulturnationen, doch bekräftigte ihre selbständige nationale Individualität und mit der gleichzeitigen Einführung eines Proporzsystems garantierte sie den serbischen und kroatischen Landeseliten gesetzlich für lange Zeit die Partizipation an der Machtausübung.

5. Nach der staatlichen Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina rückte die historische Legitimierung der muslimischen Nationsbildung in den Vordergrund, wobei auch auf das geschichtliche Erbe zurückgegriffen wurde, was während der österreichisch-ungarischen Herrschaft als Mittel zur Stärkung des bosnischen Sonderbewusstseins verwendet wurde. Dabei ist ein besonderes Gewicht auf die vorislamische Zeit, auf die Geschichte des mittelalterlichen Bosniens gelegt. Mit dem Zurückgreifen auf die mittelalterlichen bosnischen heraldischen Symbole, auf die Anjou-Lilien, die auf die Verwandtschaft des bosnischen Königshauses mit der ungarischen Anjou-Dynastie hinweisen, ist ein Staatswappen konstruiert worden, das die Gleichrangigkeit Bosniens mit den Nachbarstaaten zum Ausdruck bringen und auch für die drei staatsbildenden Nationen akzeptabel sein sollte. Auch der Ideenwelt des 19. Jahrhunderts entsprang die These, die die Kontinuität der bosnischen Muslime zu den mittelalterlichen Bogumilen und zum bosnischen Adel hervorhebt. Historische Ereignisse, die als Beweise die vergangene nationale Größe untermauern sollen, werden vor allem aus der osmanischen Zeit Bosniens genommen. Ein charakteristisches Beispiel ist dafür, dass die bosnisch-muslimische Teilnahme an den osmanischen Eroberungskriegen gegen Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert als gerechte Revanche für die Kreuzzüge und Bekehrungsversuche, die die ungarischen Könige im Mittelalter gegen die bosnischen Häretiker, d. h. gegen die Bogumilen und die Bosnische Kirche unternommen haben, dargestellt werden. Die historisch-mythologische Erinnerungsstiftung scheint also auch bei der jüngsten Nationsbildung im östlichen Europa ein unabdingbarer Bestandteil der sich herausbildenden nationalen Identität zu sein.

 

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