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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:225–234.

FERENC EILER

Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes

Ein geschlossenes internationales Minderheitenrecht als Alternative

 

Als sich die Alliierten Großmächte nach dem ersten Weltkrieg für das Schaffen eines internationalen Minderheitenschutzsystems entschieden, war die Idee des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes in der Geschichte von Europa gar nicht unbekannt.1 Die Notwendigkeit völkerrechtlicher Vereinbarungen zum Minderheitenschutz entstand mit der religiösen Spaltung des christlichen Abendlandes nach der Reformation. Diese erste Entwicklungsphase des internationalen Minderheitenschutzes dauerte vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.2

Die Gebietsabtretungen sanktionierenden Verträge zwischen den Ländern verschiedener Konfessionen garantierten oft die Freiheit des Bekenntnisses und der Religionsausübung der Einwohner abgetretener Gebiete. Der 5. Artikel des Westfälischen Friedens im Jahre 1648 anerkannte sowohl die katholische als auch die protestantische Religion und sicherte den Gläubigen die freie Religionsausübung zu.3 Im Frieden zu Oliva 1660 wurde Livland vom katholischen Polen ans protestantische Schweden abgetreten. Im Sinne des Vertrages hatte aber die katholische Bevölkerung des Gebietes das Recht, ihre Religion privat auch weiterhin frei auszuüben.4 Ebenso wurden die ähnlichen Rechte den Einwohnern von Maastricht im Vertrag von Nijmegen (1678) garantiert, nachdem die Stadt von der Herrschaft Frankreichs unter die von Holland gekommen war.5 Der Friede von Breslau (1742), in dem Schlesien unter die Hoheit Preußens gekommen ist, gewährte für die Katholiken von Schlesien eine ähnliche Garantie.6 Die Rivalität zwischen Frankreich und Großbritannien führte zu Frieden (der Friede von Utrecht 1713 und der von Paris 1773), die für die Einwohner der von Frankreich an Großbritannien abgetretenen Gebiete die Religionsfreiheit festschrieben.7 Ähnliche Rechte garantierende Artikel konnten aber weder im Warschauer Vertrag (1773) noch im Frieden von Frederikshamm (1790) fehlen.8

Am Ende des 18. Jahrhunderts fing eine neue Epoche an. In Frankreich haben sich die neuen Freiheitsideen verbreitet, und die Gefühle der Menschen zu ihren Gemeinschaften wurden intensiver und auch demokratisiert. Nach der Geburt der modernen Nation in Frankreich war das Subjekt der Nation nicht mehr der Adel, sondern die Gemeinschaft der Einwohner des Landes, und im Fokus der Loyalität stand nicht mehr der König, sondern das Mutterland. Die Entstehung nationaler Bewegungen in ganz Europa ließ nicht lange auf sich warten. Im größten Teil von Europa entsprachen aber die Grenzen der Länder nicht den erwünschten Grenzen der Nationen. Hier wurden die Sprache und Kultur zu wichtigsten identitätsbildenden Faktoren. Die in multinationalen Staatengebilden lebenden Nationen setzten sich entweder staatliche Unabhängigkeit oder Autonomie zum Ziele. Während der französischen Vorherrschaft auf dem Kontinent erschien also eine neue Idee, die als Faktor der Innen- und Außenpolitik der Staaten ohne Folgen nicht mehr völlig außer Acht gelassen werden konnte.

Mit 1814 fing also eine zweite Entwicklungsphase des internationalen Minderheitenschutzes an, die bis zum ersten Weltkrieg dauerte. In dieser Phase blieb der Schutz religiöser Minderheiten weiterhin auf der Agenda internationaler Politik, aber die Idee des Minderheitenschutzes wurde auch – allerdings sporadisch – auf national definierte Gruppen ausgedehnt. (Von dieser Zeit an wurde aber nicht nur die freie Religionsausübung sondern auch die staatsbürgerliche Gleichstellung der betroffen religiösen Gruppen definitiv garantiert.) Das erste internationale Abkommen, in dem der Schutz einer rein nationalen Minderheit ausgesprochen wurde, war die von acht Mächten unterzeichnete Schlussakte des Wiener Kongresses.9 Den Polen sicherte das eine nationale Vertretung und nationale Einrichtungen. Obwohl die Folgen einer Verletzung dieses Rechtes nicht näher festgelegt waren, wurde die Tatsache vertragsgemäßer Pflicht nicht in Frage gestellt. Die meisten Minderheitenschutzklauseln internationaler Verträge entstanden im Zusammenhang mit den Desintegrationsprozessen auf dem Balkan. Auf der Londoner Konferenz hat sich z.B. Griechenland verpflichtet, für alle Einwohner (also auch für religiöse Minderheiten, die in diesem Fall – wie oft auf dem Balkan – in großen Zügen gleich auch nationale Minderheiten bildeten) die gleichen politischen Rechte zu sichern.10 Der Berliner Kongress von 1878 konzentrierte sich hauptsächlich auf die freie Religionsausübung und staatsbürgerliche Gleichheit religiöser Minderheiten in Bulgarien, Montenegro, Serbien, Rumänien und der Türkei.11 Im Falle von Bulgarien spricht aber der Vertrag auch von national definierten Gruppen, in dem er den in gemischten Zonen lebenden Türken, Rumänen und Griechen die Rechte bei den Wahlen festschrieb.12 Die Gebietsabtretungen sanktionierenden Verträge nach den Balkankriegen hatten aber auch ihre Minderheitenschutzklauseln.

Der internationale Schutz ethnischer und nationaler Minderheiten blieb dennoch in dieser Epoche sporadisch. Das Schicksal der Minderheiten blieb auch weiterhin den Interessen der Mächte untergeordnet. Vor dem ersten Weltkrieg existierte also eine Menge von bekannten Minderheitenschutznormen, aber bis zum Ende des ersten Weltkrieges entwickelte sich kein geschlossenes internationales Minderheitenrecht.

Das Staatensystem von Ost- und Südosteuropa hat sich nach dem ersten Weltkrieg geändert. Infolge der Pariser Vorortsverträge hörte die Anwesenheit großer multinationaler Staatengebilde in der Region bis zur Grenze Sowjet-Russlands auf. Die Türkei hat den Großteil ihres Gebietes in Europa verloren. Deutschland und Russland mussten an die neuen kleineren Nachbarstaaten erhebliche Gebiete abtreten und die Österreichisch-Ungarische Monarchie verschwand ein für alle mal von der Landkarte Europas. Sowohl die sicherheits- politischen Interessen der Alliierten Mächte als auch aber die innere Dynamik der politischen Änderungen in der Region trugen zu dieser Umgestaltung der territorialen Ordnung bei. Neue, im Vergleich zu den früheren Staatengebilden vielmal kleinere Staaten wurden gegründet, und einigen Assoziierten Mächten ist es gelungen, ihr Territorium zu vergrößern. In der Konzeption der Großmächte für die Nachkriegszeit hatte ein erhofftes Bündnis dieser Kleinstaaten die Aufgabe, dem kommunistischen Sowjet-Russland gegenüber als cordon sanitaire zu funktionieren, und ein Gegengewicht zu Deutschlands künftigen Machtbestrebungen zu bilden. Die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die während des Krieges hauptsächlich von Präsident Wilson propagiert war, die aber auch in der Propaganda der Alliierten Mächte eine wichtige Rolle spielte, wurde den machtpolitischen Interessen der Siegermächte untergeordnet. So kam das ethnische Prinzip bei der Grenzziehung kaum zur Geltung. Infolge der Friedensverträge mussten die besiegten Staaten auch große, ethnisch homogene Gebiete abtreten, deren Bevölkerung dicht an den neuen Grenzen lebte. Diese Tatsache teilte die Staatengemeinschaft der Region. Das Ziel der meisten Besiegten war eine Revision der Grenzen, die Siegerstaaten wollten dagegen die schnelle Assimilation der neuen Minderheiten erreichen.

Die sogenannten Nachfolgestaaten, was die Prozentsätze ihrer internen Minderheiten betrifft, standen der Idee des Nationalstaates zweifellos näher, als die früheren Staatengebilde, dennoch lebte weiterhin eine große Anzahl von Menschen in fast allen Staaten, die zu irgendwelcher Minderheit gehörte.13 Obwohl in der zeitgenössischen Publizistik und meistens auch in der internationalen Politik zur Bezeichnung dieser Staaten der Begriff „Nationalstaat“ angewendet wurde, waren sich die Sachverständigen der Großmächte schon auch in Paris darüber im Klaren, dass eben dieser große Prozentsatz der Minderheiten mit der Zeit auch in der internationalen Politik zu einem destabilisierenden Faktor werden kann. Um diese Gefahr möglicherweise auf das Minimum zu verringern, entschieden sie sich für den völkerrechtlichen Schutz der Minderheiten in der Region. Bei der Ankunft in Paris waren die französischen, englischen und amerikanischen Delegationen sich schon einig, dass ein Schutz der Minderheiten unbedingt nötig wird. Sie hatten aber keine vereinbarte Konzeption.14 Der Inhalt und die Rahmen des völkerrechtlichen Schutzes wurden während der Verhandlungen in dem Komitee der Neuen Staaten und Minderheiten ausgearbeitet. Sowohl die ungarische als auch deutsche Delegation haben versucht, die Entscheidung so zu beeinflussen, dass mindestens die kulturelle Autonomie ihren künftigen externen Minderheiten vorgeschrieben wird. 15 Für das gleiche Ziel übte auch die jüdische Interessenvertretung Comité des Delegations Juvies neben den Delegationen der Siegermächte eine starke Lobbytätigkeit aus, ohne Erfolg.16

Die Minderheitenschutznormen wurden in die Friedensverträge eingebaut, und mit den assoziierten Kleinstaaten ließen die Hauptmächte Minderheitenschutzverträge unterzeichnen. Die unter die Aufsicht des Völkerbundes gestellten Verträge konzentrierten sich im Großen und Ganzen auf das völkerrechtliche Minimum der Minderheitenrechte, und bezweckten zunächst die staatsbürgerliche Gleichberechtigung jener Staatsbürger, die zu irgendwelcher Minderheit gehörten.17 Die Großmächte bewahrten sich nämlich meistens das Recht, den künftigen Minderheiten auch die theoretische Möglichkeit zu bieten, innerhalb des souveränen Staates in Zukunft als Rechtsperson auftreten zu können. Auch deshalb erkannten die Verträge die Minderheiten als Rechtspersonen beim Minderheitenschutzverfahren nicht an.

Trotz allem war es nicht einfach, die Minderheitenschutzverträge von den assoziierten Kleinstaaten annehmen zu lassen. Das Grundprinzip des Völkerbundes war die Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten, und die Nachfolgestaaten hielten die oktroyierten Verpflichtungen mit der Idee des staatlichen Souveränitätsprinzips für unvereinbar.18 Auch sie stellten die Notwendigkeit des Minderheitenschutzes offiziell nicht in Frage, aber die Lage dieser Gruppen hätte ihrer Meinung nach mit innerstaatlicher Gesetzgebung geregelt werden müssen. Die der polnischen Regierung zur Kenntnisnahme überreichte Begleitnote Clémenceau’s fasste die Ansichten der Hauptmächte in dieser Frage zusammen. Clémenceau betonte, dass diese Art der Verpflichtungen im Völkerrecht kein Novum brächte. Er wies unter anderem auf den Berliner Kongress hin. Die Gebietsabtretungen sanktionierenden internationalen Verträge in Europa hätten traditionell solche Klauseln. Das bedeute aber die Beschränkung der Souveränität noch weitaus nicht. Die Anerkennung dieser Rechtsnormen seien viel mehr Voraussetzungen der Integration in die Gemeinschaft älterer Staaten von Europa. Die Minderheiten selbst könnten die neue Situation auch besser annehmen, wenn sie völkerrechtliche Garantie bekämen. So seien die Rechtsnormen Voraussetzungen des friedlichen Zusammenlebens der Staatsbürger innerhalb des Landes.19

Mit diesen Rechtsnormen hatten also die Hauptmächte die Absicht, die Stabilität der Nachfolgestaaten für die Nachkriegszeit zu stärken. Ihr Hauptziel war mit der Sicherung der staatsbürgerlichen Loyalität der Minderheiten der Schutz der alliierten Kleinstaaten vor dem Revisionismus der Nachbarstaaten. Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes wurde also ein Element des Systems kollektiver Sicherheit.

Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds bestand aus zwei Elementen: erstens aus einer Reihe von Minderheitenschutznormen, die in die Friedensverträge und Minderheitenschutzverträge eingebaut wurden, zweitens aus prozeduralen Normen, die in ihrer Summe ein Verfahren bildeten.

Die Minderheitenschutzverträge enthielten meistens identische Bestimmungen. Drei Hauptgruppen von Normen lassen sich in den Verträgen unterscheiden. Bestimmte Artikel enthielten Staatsangehörigkeitsnormen (Art. 3–6 des Vertrags mit Polen), andere materiell-rechtliche Normen zur Sicherung von Leben, Freiheit und staatsbürgerlicher Gleichheit (Art. 2 und 7–11). Eine andere Gruppe enthielt Normen zur Garantie der Ausführung (Art. 1 und 12).

Die Staatsangehörigkeitsnormen bildeten die Grundlage aller anderen Normen, so bekamen sie den Rechtswert von Verfassungen, mit denen kein Gesetz, keine Verordnung in Widerspruch stehen darf. Diese sicherten den uneingeschränkten Erwerb der Staatsangehörigkeit des neuen Wohnlandes zu, und regelten die Art und Weise des Optierens.20

Der Schutz des Lebens und der Freiheit stand allen Einwohnern dieser Staaten zu. Die Normen über die Gleichheit sind aber nur auf der Basis der Staatsbürgerschaft auszulegen. Allen Staatsbürgern, die sich aufgrund ihrer Sprache, Religion oder ihres Volkstums von der Mehrheit der Einwohner ihrer Staaten unterschieden, wurde die Gleichheit vor dem Gesetz festgeschrieben, und gleiche bürgerliche und politische Rechte, wie für die Mehrheit. Sie hatten auch das Recht, ihre eigene Sprache im privaten und im wirtschaftlichen Verkehr und auf dem Gebiet der Religion, der Presse und bei den Veröffentlichungen und den öffentlichen Versammlungen zu gebrauchen. Die Staaten waren auch verpflichtet, den Minderheiten angemessene Erleichterungen beim Gebrauch ihrer Sprache vor dem Gericht zu gewähren.

Die Verträge sicherten den Minderheiten auch das Recht zu, eigene Schulen, Wohlfahrtsanstalten, und religiöse Einrichtungen auf eigene Kosten zu gründen und zu leiten. In diesen durften sie ihre Sprache uneingeschränkt benutzen.21

Mit angemessenen Erleichterungen mussten aber die Staaten im Sinne der Verträge auch ermöglichen, dass die Kinder in den öffentlichen Elementarschulen in ihrer Muttersprache unterrichtet werden können.

Einige Dokumente enthielten auch Sonderbestimmungen zum Schutz einzelner Minderheiten. Die Verträge mit Griechenland und Jugoslawien garantierten z. B. spezielle Rechte für die islamischen Staatsbürger, und die mit Polen, Griechenland und Rumänien solche für die jüdischen Minderheiten.

Die meisten Rechtsnormen konzentrierten sich ohne Zweifel auf die individuellen Rechte der einzelnen Minderheitenangehörigen. Es gab aber einige Bestimmungen, die für kompakt gesiedelte Minderheiten eine Art der Autonomie festschrieben. Der Vertrag mit Polen räumte der jüdischen Minderheit eine Schulautonomie ein (Art. 10).22 Der Vertrag mit Rumänien sicherte den Sachsen und den Szeklern (Art. 11), und der mit Griechenland den Walachen des Pindusgebirges eine lokale Schul- und Kirchenautonomie zu (Art. 12). Der Vertrag mit der Tschechoslowakei gewährte sogar den Karpathoruthenen den Status einer territorialen Autonomie (Art. 10–13).23

Was die Frage der Garantie betrifft, musste ein Großteil der Normen nach dem Artikel 1. der Verträge in das Grundgesetz des Staates aufgenommen werden. Und der Artikel 12. stellte den ganzen Vertrag unter den Schutz des Völkerbundes.

Das Minderheitenschutzverfahren wurde nur Schritt für Schritt ausgearbeitet, und seine endgültige Form erhielt es erst im Jahre 1929.24

Im Zentrum des Minderheitenschutzverfahrens stand der Völkerbundrat, also eine politische Institution. Diese Tatsache an sich hat schon eine Menge von Kritik seitens der Minderheiten ausgelöst. Wenn ein Mitglied des Rates von der Verletzung oder von einer Gefahr der Verletzung der Minderheitenschutzverträge unterrichtet wurde, sollte es den Rat von diesem Tatbestand informieren. Der Rat war dann berechtigt, initiativ aufzutreten und gegebenenfalls auch Maßnahmen zu treffen. Nicht nur Staaten, sondern auch verschiedene Organisationen und auch die Minderheiten selbst hatten das Recht, Petitionen beim Sekretariat des Völkerbundes einzureichen. (Den Minderheiten ist es jedenfalls nicht gelungen, während der fast 20 Jahre zu erreichen, dass sie im Verfahren als Rechtsperson anerkannt werden.) In der Phase des Vorverfahrens überprüfte die Minderheitensektion des Sekretariats die Petitionen, ob sie den formellen Kriterien entsprachen. Erst danach legte es die einschlägigen Unterlagen dem Rat vor. Es lag in der Kompetenz des Rates, ob er die Garantieverfahren in Kraft setzte oder nicht. Wenn schon, dann wurde ein sogenanntes Dreierkomitee (später auch Fünferkomitee) aus den Mitgliedern (oder Beauftragten der Mitglieder) des Rates zusammengestellt, der den konkreten Fall überprüfte. Dann fing eine weitläufige Untersuchung an. Wenn ein Meinungsunterschied zwischen dem Staat und einem Ratsmitglied bestand, hatte der Ständige Internationale Gerichtshof ein bindendes Entscheidungsrecht. In der Praxis erwarb sich die Minderheitensektion des Sekretariats mit der Zeit eine Schlüsselposition. Sie war eigentlich dafür prädestiniert, weil ihre Mitarbeiter Sachverständige der Frage waren, die sich im Gegensatz zu den Ratsmitgliedern fast im ganzen Jahr in Genf aufhielten. Die Meinung der Sektionsmitarbeiter über eine Petition beeinflusste die Mitglieder der Dreierkomitees, die meistens keine Sachverständigen des Themas waren, so stark, dass das Schicksal einer Beschwerde schon oft während des Vorverfahrens entschieden war.25

Der Rat selbst war aber auch in einer schwierigen Situation. Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds hing von der Kooperationsbereitschaft der Staaten ab. Ihm stand in der Praxis kein Druckmittel zur Verfügung. Unter den Rechtsnormen gab es nämlich keine zu konkreten Sanktionen für den Fall einer Vertragsverletzung. (Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass der Völkerbund selbst eine Gemeinschaft souveräner Staaten war, die die Bedeutung der Minderheitenfragen hinter die Interessen der Staaten stellten. In einer solchen Stimmung waren die Chancen der Minderheitenpetitionen schon von vornherein sehr gering.) Die Staaten fassten meistens während des Verfahrens ihre Argumente auf die Nachfrage des Rates offiziell zusammen. Die wurden überwiegend angenommen. Das Dreierkomitee führte übrigens die Verhandlungen mit den betroffenen Staaten beim Verfahren immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mit Vermittlungsaktionen wollte es erreichen, dass die Staaten die Vertragsverletzungen freiwillig rückgängig machen, oder eine Kompromisslösung annehmen. Es kam vor, dass die Vermittlungsaktionen hinter den Kulissen zum Kompromiss führten, aber es gab keinen einzigen Fall, da eine Regierung wegen Verletzung der Minderheitenschutznormen vom Rat öffentlich zur Verantwortung gezogen worden wäre. Auch deswegen wurde der Ständige Internationale Gerichtshof in der Praxis nur zweimal um ein bindendes Urteil gebeten.26

 

Tabelle 1.

VERTEILUNG DER ZUGELASSENEN PETITIONEN NACH PETITIONÄREN27

Deutsche in Polen

163

Albaner in Griechenland

21

Ungarn in Rumänien

 43

Deutsche in der Tschechoslowakei

15

Ukrainer in Polen

 25

Ungarn in Jugoslawien

12

Polen in Deutschland

 25

Mazedonier in Jugoslawien

11

Die Minderheitenschutzverträge wurden von den Staaten während der Geschichte des Völkerbunds sehr oft außer Acht gelassen. Zwischen 1921 und 1938 gingen ca 1000 Petitionen beim Sekretariat ein. Ungefähr 500 davon wurden dem Rat weitergeleitet.28 Die meisten von ihnen erreichten aber keine Abhilfe. Den Statistiken nach verletzten die Regierungen die Minderheitenrechte in fast allen Bereichen des Lebens.

 

Tabelle 2.

VERTEILUNG DER ZUGELASSENEN PETITIONEN NACH BESCHWERDEN29

Schulwesen

89

Kultur, Vereine, Presse

28

Allgemeine Diskriminierungen

67

Beschlagnahme von Privateigentum

27

Agrarreformen und Enteignungen

60

Staatsbürgerschaft

25

Arbeitsrechtliche Diskriminierung

42

Sprachangelegenheiten

23

Religionsfreiheit

30

Gewalttätige Übergriffe

22

Die Minderheitenschutznormen bekamen viele Kritiken von den Minderheiten und verschiedenen internationalen Organisationen, die sich auch mit dieser Frage beschäftigten. Man gab dem System die Schuld, dass sich die Verträge hauptsächlich auf die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Minderheiten konzentrierten. Auch die Argumente waren zutreffend, die behaupteten, dass das Maß des Schutzes einzelner Minderheiten unterschiedlich war. In der Karpathoukraine lebten z.B. 430 Tausend Menschen. Diesem Gebiet wurde territoriale Autonomie festgeschrieben. Die 4,75 Millionen Ukrainer Westpolens erhielten dagegen keine Art der Autonomie.30 Die Rechtsnormen waren auch nicht präzise genug formuliert. Solche Formulierungen, wie „angemessene Erleichterungen“, lieferten die Minderheiten der innerstaatlichen Gesetzgebung und den Verordnungen der Regierungen aus.

Die Minderheiten schlugen während der Geschichte des Völkerbunds oft auch die Reform des Minderheitenschutzverfahrens vor. Sie waren weder mit der Tätigkeit des Sekretariats noch des Rates zufrieden. Mehrere Vorschläge wurden in diesem Themenkreis ausgearbeitetet. Eines der wichtigsten Ziele war, dass der Rat auch die Minderheiten, wenn sie als Petitionäre auftreten, als Rechtsperson anerkennt. So hätten sie im Verfahren den Staaten gleichgestellte Parteien sein können. Diese Bestrebung war aber von je aussichtslos, weil die Hauptmächte das konsequent vermeiden wollten. Die Forderung der Öffentlichkeit des ganzen Verfahrens war auch fast 20 Jahre lang an der Tagesordnung. Eine ständige Minderheitenkommission beim Rat hielten die politischen Leiter der Minderheiten auch für wünschenswert.31 Der Rat bestand nämlich meistens aus solchen Politikern, die keine Sachverständigen waren. Einer der wichtigsten Vorschläge betraf den Ständigen Internationalen Gerichtshof. Die Rolle des Gerichtshofs war in der Praxis sehr gering. Die Entscheidungen traf der Rat, der ein politisches Organ war. Von einer Stärkung der Rolle des Gerichtshofes beim Verfahren erwarteten die Minderheitenorganisationen, dass die Entscheidungen nicht nach den politischen Interessen der Staaten, sondern nach den geltenden Rechtsnormen getroffen werden.

Alle diese Forderungen gingen nicht in Erfüllung, deshalb wurden die Minderheiten vom Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes mit der Zeit enttäuscht. In den 30er Jahren verbreitete sich die Meinung unter den Betroffenen, dass sie vom Völkerbund nichts mehr erwarten können. Ihre Politiker hätten auf bilaterale Verträge zwischen den Nachbarstaaten viel besser vertraut.32

Im Zusammenhang mit den Minderheitenschutzverträgen tauchten viele Probleme auf. Dennoch enthielten sie wahrscheinlich immer noch das Höchstmaß der Minderheitenrechte, zu dessen Unterzeichnung die Staaten gezwungen werden konnten. Die Idee eines internationalen geschlossenen Minderheitenrechtes ist unbedingt positiv zu beurteilen. Ein System wurde so aus bestimmten Normen geschaffen, die den Staaten eine bestimmte normative Haltung ihren Minderheiten gegenüber vorschrieb. Die zugesicherten Rechte der Minderheiten wurden während des Minderheitenschutzverfahrens ohne Zweifel den Interessen der Staaten untergeordnet. (Der Rat war aber auf die Kooperationsbereitschaft der Saaten angewiesen, weil der Völkerbund keine Gewalt hatte.) Die Lage der Minderheiten konnte aber auch nicht mehr völlig totgeschwiegen werden. In einigen Fällen ist es sogar gelungen, die rechtswidrige Situation rückgängig machen zu lassen, oder einen, auch für die Minderheit annehmbaren Kompromiss zu erreichen.

Weder die Besiegten, noch die Siegerstaaten der Region waren mit dem System zufrieden. Erstere erachteten die gewährten Rechte für zu wenig, Letztere aber für zu viel. Mit der Zeit wurden aber die wirklichen Ziele der zwei Parteien eindeutig: einerseits die Grenzrevision, andererseits die Assimilierung der Minderheiten. Unter diesen Umständen ist der Hauptgrund des Mißerfolgs des Systems weder in der Unvollkommenheit der Rechtsnormen, noch in der Praxis des Verfahrens zu suchen, sondern viel mehr in der verfehlten Grenzziehung am Ende des Weltkrieges, und in den antagonistischen Gegensätzen der Staaten, die unter anderem auch von diesen Entscheidungen abzuleiten sind.

 

Anmerkungen

1

Die Entwicklungsphasen des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes fassen mehrere Autoren zusammen. Balogh, Arthur: A kisebbségek nemzetközi védelme. Ludvig Voggenreiter Verlag Magyar Osztály, Berlin, 1928; Buza, László: A kisebbségek jogi helyzete. Magyar Tudományos Akadémia, Budapest, 1930; Wintgens, Hugo: Der völkerrechtliche Schutz der nationalen, sprachlichen, und religiösen Minderheiten. Verlag von W. Kohlhammer, Stuttgart, 1930; Bartsch, Sebastian: Minderheitenschutz in der internationalen Politik. Westdeutscher Verlag, Opladen, 1995.

2

Der Religionsfriede zu Augsburg 1555 anerkannte die Existenz religiöser Minderheiten, und sicherte den betroffenen Personen die Freiheit einer Auswanderung. Die Idee von cuius regio, eius religio schrieb noch keinen Minderheitenschutz im klassischen Sinne vor. Der Friede bedeutete aber eine Vorstufe des völkerrechtlichen Schutzes religiöser Minderheiten.

3

In: Parry, Clive (Edit.): The consolidated treaty series. Oceana Publications Inc., New York, 1969. Bd. 1. 119–357.

4

In: The consolidated treaty series. Bd. 6. 9–93.

5

In: The consolidated treaty series. Bd. 14. 441–493.

6

Rönnefarth, Helmut K. G.-Euler, Heinrich: Konferenzen und Verträge. A. G. Ploetz, Würzburg, 1958. Bd. 3. 161–163.

7

In: The consolidated treaty series. Bd. 27. 475–501; Bd. 42. 279–347.

8

In: The consolidated treaty series. Bd. 45. 253–267; Bd. 51. 43–53.

9

In: The consolidated treaty series. Bd. 64. 453–495.

10

In: The consolidated treaty series. Bd. 80. 327–335.

11

In: The consolidated treaty series. Bd. 153. 171–193.

12

S.o.

13

Vgl. Vitéz Nagy, Iván: Európa kisebbségei. Nemzetiségstatisztikai vázlat. Magyar Kisebbség, Lugos, 1929; Winkler, Wilhelm: Statistisches Handbuch der europäischen Nationalitäten. Wilhelm Braumüller Verlag, Wien, 1931; Galántai, József: Trianon és a kisebbségvédelem. Maecenas, Budapest, 24–33; Pándi, Lajos: Köztes-Európa, Térképgyűjtemény. Osiris-Századvég, Budapest, 1995. 340–424.

14

Die Vorstellungen der Großmächte über den zukünftigen Minderheitenschutz vgl. Viefhaus, Erwin: Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Holzner Verlag, Würzburg, 1960. 56–74.

15

Die Theorie der personellen Autonomie hat Karl Renner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet. Sie war unter den Sachverständigen zur Zeit der Verhandlungen allgemein bekannt.

16

An der Friedenskonferenz nahmen 7 jüdische Delegationen teil. Die jüdischen Organisationen aus Osteuropa und die aus den USA haben ihre Ziele aufeinander abgestimmt. Sie forderten die Gewährung kultureller Autonomie für alle Minderheiten der Region. Die Organisationen aus Großbritannien und Frankreich begnügten sich dagegen mit der Sicherung staatsbürgerlicher Gleichberechtigung. Viefhaus, Erwin: 34–42, 74–100, 138–152.

17

Als Vorbedingung des Eintritts in den Völkerbund mussten Albanien, Estland, Litauen und Lettland eine Deklaration abgeben, indem sie die in den Minderheitenverträgen zusammengefassten Rechtsnormen auch für sich bindend anerkennen. Balogh, Arthur: 49–50.

18

Die Regierungen dieser Staaten haben gegen das Vorhaben der Großmächte mehrmals Proteste erhoben. Letztendlich mussten sie aber dem großen politischen Drucke nachgeben. Eine Ausnahme bildete die Tschechoslowakei, die mit den Hauptmächten bis zur Unterzeichnung des Vertrages ohne Probleme kooperiert hat. Galántai, József: 82–112.

19

Den Volltext vgl. Galántai, József: 193–200.

20

Der Grund des Erwerbs der Staatsangehörigkeit wurde das territoriale Prinzip. Der Anspruch durfte offiziell niemandem verweigert werden, der auf dem Gebiet des neuen Staates geboren ist. Diese Norm regelte aber die Lage solcher Personen nicht, die nicht auf dem Gebiet geboren sind, aber da wohnten. Deshalb musste das territoriale Prinzip ergänzt werden. So mussten auch diejenigen die Staatsbürgerschaft bekommen, die auf diesem Gebiet ansässig waren. Balogh, Arthur: 107–112.

21

Die Art. 2–8 erhielten den Rechtswert von Staatsgrundgesetzen.

22

Die litauische Deklaration ist noch weitergegangen, als sie der jüdischen Minderheit personelle Autonomie zusicherte. Wintgens, Hugo: 276–279.

23

Bene selbst hat dem Komitee der Neuen Staaten und Minderheiten empfohlen, die territoriale Autonomie in den Minderheitenvertrag mit der Tschechoslowakei aufzunehmen. Galántai, József: 90.

24

Das Verfahren wurde meistens durch die Resolutionen des Rates ausgestaltet. Auch die Vollversammlung des Völkerbundes hat dreimal (1921, 1922, 1923) Resolutionen getroffen, die bei der Entwicklung des Verfahrens eine Rolle spielten. Die Entwicklungsphasen des Garantieverfahrens prüfen vgl. Buza, László: 152–244; Rauchberg, Heinrich: Die Reform des Minderheitenschutzes. J. U. Kern’s Verlag, Breslau, 1930. 9–15, 24–48; Junghann, Otto: Das Minderheitenschutzverfahren vor dem Völkerbund. Verlag von J. C. B. Mohr, Tübingen, 1934. 1–105; Gütermann, Christoph: Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes. Dunckler & Humblot, Berlin, 1979; Bartsch, Sebastian: 99–181.

25

Der Direktor der Minderheitensektion war berechtigt, auf Einladung der betroffenen Regierungen in die Ländern zu fahren, und mit den zuständigen Politikern vertrauliche Gespräche zu führen. Gütermann, Christoph: 283–285.

26

In beiden Fällen hat sich das Ratsmitglied Deutschland im Interesse der deutschen Minderheit an den Gerichtshof gewendet. Nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund wurden diese von der Tagesordnung abgesetzt.

27

Bartsch, Sebastian: 104.

28

Christoph Gütermann spricht von über 950 Petitionen, von denen 550 zugelassen wurden. Nach der Meinung von Bartsch wurden nur 473 Petitionen vom Rat behandelt. Gütermann, Christoph: 346; Bartsch, Sebastian: 103.

29

Bartsch, Sebastian: 105.

30

Balogh, Arthur: 66.

31

An der Tagesordnung der Interparlamentarischen Union war das Thema in den Jahren 1922, 1923 und 1925. Auch der Verband der Völkerbundsligen beschäftigte sich 1922, 1923, 1928 und 1929 mit dieser Frage. Rauchberg, Heinrich: 39.

32

Vgl. Hasselblatt, Werner: Das Minderheitenrecht in bilateralen Staatsverträgen. Nation und Staat. 1934. Nr. 12. 728–788.