1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:133–142.

ISTVÁN NEMESKÜRTY

Die bewahrende Kraft der Sprache

Die Ungarn in einem dreigeteilten Land

 

Als der deutsche Augustinermönch, Theologe und Universitätsprofessor Martin Luther im Oktober 1517 seine berühmten Thesen ans Portal der Schlosskirche in Wittenberg nagelte, nahm die ungarische Öffentlichkeit von diesem namhaften Ereignis ohne große Sympathie Kenntnis. Wir waren, wie man zu sagen pflegt, anderweitig beschäftigt.

Aber Luthers Auftritt wurde zu einem der wichtigsten Wendepunkte der Wertgeschichte.

Was dreihundert Jahre früher der heilige Franz von Assisi und seine rebellischen „kleinen Brüder” begannen und was dann der auf dem Scheiterhaufen sterbende Johannes Huss fortsetzte, vollendete sich jetzt. Luther verlangte eine Erneuerung des christlichen Glaubens durch Rückkehr zu den uralten Grundlagen. Er vereinfachte die Liturgie, führte die Gottesdienstordnung in der Muttersprache ein, brachte die theologischen Lehren dem damaligen Denken und dem Stand der Wissenschaft näher. Seine Reform war vernünftig und modern; es lag nicht an ihm, dass sie durch die mit ihren eigenen finsteren Familien- und Machtangelegenheiten beschäftigten Päpste zur konfessionellen Krise vertieft wurde. Europa stand damals an der Schwelle einer stürmischen Entwicklung; beeinflusst von der Verbürgerlichung, vom nationalen Selbstbewusstsein und von der jeweiligen Interessenlage ging auch das religiöse Ideensystem immer häufiger über sich selbst hinaus; Luthers heute evangelisch genannte Lehren entwickelten der Franzose Calvin und nach ihm Schweizer bzw. schottische Theologen mit ihren heute als reformiert bezeichneten Idealen weiter, bis schließlich die in Italien entstandene, die Dreieinigkeit verleugnende oder unitarische Richtung mit ihrem zutiefst puritanischen Radikalismus den Bruch mit allen bisherigen, als Äußerlichkeiten betrachteten Formen der Ritualordnung und Theologie vornahm.

Dass das Christentum als gesamteuropäische Ideologie in den weiteren Jahrhunderten in Geltung und wirksam blieb, ist der Reformation zu danken. Die Reformatoren organisierten die an die Zeitverhältnisse angepassten christlichen Gemeinden ebenso von unten auf neu wie früher die Prämonstratenser, Franziskaner und andere; auf diese Weise hörte die mit dem Materialismus sympathisierende rational humanistische Gesellschaft nicht auf, eine christliche zu bleiben.

Es ist ein Wunder, wie schnell, fast ohne jeden Zeitverlust die ungarische Gesellschaft in ihrem dreigeteilten, halbwegs staatslosen Zustand diese Lehren aufnahm; ebenso schnell, wie sie einst das Christentum übernahm und später die Erneuerungsbestrebungen der Prämonstratenser, Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner. Sollte dies bedeuten, dass diese Gesellschaft um 1530–1550 eben auf höherer Stufe stand, als es die Wirtschaftshistoriker annehmen? Vielleicht auch das, wenn wir die wirkliche Antwort auch anderswo suchen können.

Bevor wir versuchen, die Antwort zu geben, müssen kurz die Fakten der Verbreitung der Reformation (bzw. des Protestantismus, vom Wort protestieren) skizziert werden.

In den dreißiger Jahren schlossen sich vor allem im Landesteil König Johanns überwiegend Franziskanermönche den neuen Lehren an, und von ihnen beeinflusst, schrieben sich auf das Universitätsstudium begierige Jünglinge in Massen an der bisher hier unbekannten Universität Wittenberg ein, an der Luther lehrte.

Seit den vierziger Jahren verbreitete sich der lutherische Zweig der Reformation im ganzen Land, während dann seit den fünfziger Jahren die helvetische (reformierte) Richtung immer mehr Boden gewann. In Siebenbürgen unterstützte Fürst Johann Sigismund, von den italienischen Mitgliedern seines Hofes (Stancaro 1553, Biandrata 1563) beeinflusst, die unitarische Richtung. Mit gewisser vereinfachender Verallgemeinerung ist festzustellen, dass sich in Siebenbürgen alle drei neuen Konfessionen, nur zeitweilig benachteiligt, mehr oder weniger frei entfalten konnten, selbstverständlich auch die die traditionelle römische Liturgie vertretende katholische, vor allem mit Unterstützung durch den Fürsten und polnischen König Stephan Báthori. In der Großen Tiefebene und allgemein im türkenbesetzten Gebiet von Fünfkirchen über Szegedin und Kecskemét bis Debreczin verbreitete sich die helvetische Konfession, während im königlichen Ungarn der Katholizismus amtliche Unterstützung erfuhr, wobei sich aber auch die lutherische Reformation stark verbreitete. Auch viele evangelische Deutsche haben sich damals vor den österreichischen Verfolgungen in Ungarn niedergelassen.

Nach dem Konzil von Trient unternahm Rom mit tatkräftiger Unterstützung der Habsburger und unter Einsatz des neuen Ordens der Jesuiten einen gewaltsamen „Gegenangriff”. Den Jesuitenorden, die Gesellschaft Jesu, hatte der spanische Offizier Ignacio de Loyola mit militärischer Disziplin aufgebaut. Als seine Aufgabe betrachtete er die Verteidigung und Verbreitung der katholischen Religion und Liturgie unter direkter, fast militärischer Oberhoheit des Papstes; praktisch glich er die katholische Religion und Liturgie ohne Aufgabe der Prinzipien geschmeidig den Anforderungen der Zeit an, vom Denken bis zur geistlichen Kleidung. Die Jesuiten spielten eine große Rolle bei der Verbreitung des Christentums in den von Spanien eroberten Weltteilen von Südamerika bis nach Japan.

Die Reformation machte Eroberungen in den entwickeltesten Gesellschaften Europas: in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden, wo Kaiser Karl V. und sein Nachfolger König Philipp in blutigen Kriegen den vergeblichen Versuch unternahmen, sie zu „bremsen” – siehe den Krieg gegen den Schmalkaldischen Bund und die erwähnte Heldentat von Józsa Luka. Ebenso brutal rechnete das französische Königshaus mit der kalvinistischen Reformation (den Hugenotten) ab. England, dieser unaufhaltsam der Weltherrschaft zueilende Staat, unterstützte zur Zeit der Herrschaft Elisabeths I. mit allen verfügbaren Machtmitteln die Reformation, vor allem deren evangelische Variante, die Anglikaner. Die ungarischen protestantischen Pastoren schrieben anerkennend über die englische Königin.

In dem Viertel Europas, das man neuerdings mit übertriebener Klügelei „Ostmitteleuropa” zu nennen pflegt, verbreiteten sich die Lehren der Reformation einheitlich und erfolgreich allein in den von Ungarn bewohnten Gebieten. Die Türkenbesetzung des Balkans begünstigte den Islam, während der christliche Glaube in diesem Gebiet sich zur byzantinisch geprägten, später pravoslawisch oder orthodox genannten Liturgie konserviert hatte. Dalmatien, die vor dem Türken bewahrte Adriaküste, sowie das zur Heiligen Krone gehörende Kroatien-Slawonien blieben katholisch, desgleichen Polen. In Österreich, besonders nach dem Tode des insgeheim mit der Reformation sympathisierenden Kaisers und Königs Maximilian und seines Sohnes Ferdinand (1576), zwang eine konsequente und brutale Rekatholisierung die Bevölkerung zur Rückkehr zur römisch-tridentinischen Liturgie. Bayern war traditionell katholisch geblieben. Die geographisch von Ungarn entfernter liegenden deutschen evangelischen oder reformierten Fürstentümer jedoch blieben mit der ungarischen Bevölkerung in enger Sympathiebeziehung, so sehr, dass die habsburgfeindlichen ungarischen Bewegungen in den deutschen Fürstentümern stets positiven Widerhall fanden, den die siebenbürgischen Fürsten auch ausnutzten.

So hatte sich also im Gebiet des verschwundenen ungarischen Staates, in der ungarischen Gesellschaft als einzigartige Erscheinung in „Ostmitteleuropa” die Reformation verbreitet, und zwar unter der Ungarisch sprechenden Bevölkerung die radikalere helvetische Richtung und in den auch von Deutschen bewohnten Städten des königlichen Ungarns die evangelische.

Die vergangenen Ereignisse – wie die Katastrophe von Mohács, dann der Verlust Ofens an den Türken und die allmähliche Türkenbesetzung des Landes, der tragische Tod und das Schicksal des Kardinals und Politikers Bruder Georg – zwangen die Bevölkerung des Landes, die ungarische Gesellschaft zu der Schlussfolgerung, das alles sei Gottes Strafe:

 

            Doch in Zorn entbranntest du

            Über unsere Sünden,

            Und du schlugst mit Blitzen zu

            Und Gewitterwinden.

            Ließest die Mongolen nach

            Uns mit Pfeilen jagen,

            Auch der Türken Sklavenjoch

            Mussten wir ertragen.

                        (Ferenc Kölcsey: Hymne, 22. Januar 1823.

                        Übertragen von Annemarie Bostroem)

 

Der Reformierte Kölcsey, dessen Ahnen bereits im Sathmarer Gebiet gelebt hatten, formulierte zur Zeit der ungarischen Romantik mit unveränderter Gültigkeit die Lehre seiner reformatorischen Vorfahren aus dem 16. Jahrhundert (András Farkas) neu, die Sebestyén Tinódi dann als Ausdruck der öffentlichen Meinung besungen hatte.

Es ging also darum, die sich in Äußerlichkeiten niederschlagende, innerlich entleerte römische Liturgie aufzugeben und zur urchristlichen Glaubenspraxis zurückzukehren, die Luther und Calvin verkündeten und welche die einzige gottgefällige sei. Dann könnten wir uns vielleicht auch vom Türken befreien.

András Farkas hatte gemeint, und diese Ansicht beschäftigte die Ungarn ein weiteres Jahrhundert lang, dass Gott uns ebenso bestraft wie das jüdische Volk – denn beide Völker seien das erwählte Volk Gottes. Diese jüdisch-ungarische Schicksalsparallele wurde dann durch das gründliche Studium der ungarischen Übersetzungen der Bibel und besonders des Alten Testamentes zum Allgemeinplatz in den Predigten.

Die ungarische Reformation ist folglich in ihrer historischen Kontinuität die erneuerte Fortsetzung des christlichen Ideals des heiligen Stephan: Unsere erste Aufgabe ist, Gottes Gefallen zu erringen, denn wenn wir uns gegen ihn versündigen, bestraft er uns, und zwar besonders streng, weil wir seine Kinder sind. Da der Mensch jener Zeit das Empfinden hatte, die damalige römische Liturgie sei oberflächlich und die Päpste und Prälaten lebten nur der Welt, jagten den Genüssen, den Sünden und dem Reichtum nach, musste er mit Recht annehmen, es sei ein gottgefälliges Werk, zum wahren Glauben zurückzukehren. Die Masse der Gläubigen in den anderen Ländern Europas nahm die neue Glaubenspraxis in Anpassung an den Zeitgeist als Praktizierung der innewohnenden rationalen Vernunft an, in Ungarn dagegen war sie ein vom Sündenbewusstsein ausgelöster Gewissenszwang, im Interesse der Rettung des Vaterlandes. Vaterland und Religion waren also immer noch, seit Stephan dem Heiligen, unverändert einander ergänzende und voraussetzende, ja sozusagen identische Begriffe. Und außerordentlich bedeutsam ist, dass diesen Gewissenszwang, dieses Schuldbewusstsein – mit wenigen Ausnahmen – Aristokrat und Leibeigener, Armer und Reicher gleichermaßen empfanden. Das erklärt, warum auch gewalttätige und gefürchtete Aristokraten kleinlaut die Strafpredigten ihrer Pastoren über sich ergehen ließen, und als Péter Bornemisza, von der Kanzel herabdonnernd, die Sünden der mit Namen genannten Barone aufzählte und auch den König nicht ausnahm, erst recht natürlich nicht den anwesenden Herrn mit dem ihm untertänigen, von ihm abhängigen Volk in den Bänken hinter ihm – da halfen diesem Bornemisza dieselben getadelten Barone, nahmen ihn in ihren Schutz und unterstützten ihn!

Zugleich erfüllte dieser mit Sündenbewusstsein verbundene, gleichsam schon blinde Glaube – dass Gott nämlich gerade uns stärker straft als andere Völker Europas, weil er uns sehr liebt, weil wir ein erwähltes Volk sind – die Ungarn mit einem gewissen besonderen Stolz, ja Hochmut. „Was wisst ihr davon, was Leiden bedeutet” – warfen sie den glücklicheren Völkern Europas vor. Auf der anderen Seite war unsere Auserwähltheit, das Wissen um sie, mit dem gründlichen Studium der jüdischen Glaubenswelt, namentlich des Alten Testamentes verbunden. Viele ungarische Seelsorger damals hatten Elementarkenntnisse des Hebräischen und kannten die Grundbegriffe der mosaischen Religion, und damit waren die Voraussetzungen für eine gesunde Assimilation, ja mehr noch, die Atmosphäre einer verstehenden Toleranz gegenüber den bisher abgesonderten, nicht selten als Ausgestoßene behandelten Juden geschaffen. So ist es auch kein Zufall, dass Gabriel Bethlen die aus Spanien vertriebenen Juden in Siebenbürgen aufnahm und die erste, Freiheitsrechte enthaltende Urkunde in Europa überhaupt ausstellte, und ebenso wenig, dass viele Szekler zu Sabbatariern wurden und selbst der Kanzler des Fürsten, Simon Péchi, ein zu diesem moralisierenden Glauben übergetretener Ungar war.

Die Grundvoraussetzung für den evangelischen und den reformierten Glauben war das Lesen der heiligen Schriften in der eigenen Sprache, weshalb es sich geziemte, dass jeder Gläubige die Kunst des Lesens beherrschte. Infolgedessen nahm der Unterricht der Muttersprache im unter dem Krieg leidenden Ungarn einen staunenswerten Aufschwung. In abgeschiedenen Dörfern gab es Elementarschulen, und zwar nicht nur vom Grundherrn, sondern auch von der Gemeinde unterhaltene, und wenn die Kinder sie verließen, konnten sie lesen, schreiben und rechnen. Die Dorfgemeinden und Städte, die ihre Pastoren selbst wählten (!), bevorzugten jene, die im Ausland, beispielsweise in Wittenberg studiert hatten. Noch bemerkenswerter ist, dass gerade jetzt, als das Land in drei Teile zerrissen war, reihenweise Druckereien entstanden, obwohl doch im reichen Ungarn von König Matthias nie genug Geld oder Wille für eine Druckerei vorhanden gewesen war. Diese Druckereien wurden von reicheren Städten – Klausenburg, Debreczin – und von um ihr Vaterland besorgten Grundherren, von Adligen gegründet und unterhalten. Es ist einfach unglaublich, dass, obwohl man den Türken auf dem Hals und die Söldnerheere der Habsburger im Rücken hatte, so viele Druckereien entstanden, die zu betreiben gewaltige Summen Geldes erforderte! Papier, Lettern, Druckmaschinen, Facharbeiter, Buchbinder und schließlich Händler waren nötig.

Um 1600 gab es im gesamten Land 20 vom Komitatsadel, von Städten oder Aristokratenfamilien unterhaltene oder doch unterstützte Druckereien, die ungarischsprachige Bücher herstellten. Außerdem wurden Bücher in ungarischer Sprache noch in Krakau und Wien herausgegeben, auch diese teils von ungarischen Mäzenen unterstützt. Darüber hinaus gab es Druckereien im Gebiet Ungarns, die nicht in ungarischer Sprache publizierten (Hermannstadt, Kronstadt usw.). Bemerkt sei noch, dass die herausgegebenen Bücher dem die Druckerei unterhaltenden Grundherrn keinerlei finanziellen Gewinn einbrachten. Unter den Mäzenen in Klausenburg (!) findet man des weiteren Herrscher beider unter ungarischer Regierung stehenden Landesteile, König Ferdinand, dann Erzherzog Maximilian und Fürst Johann Sigismund (jeder mit einem gewissen Anteil).

Erfreulicherweise finden sich die Namen großer Herren auf der Liste der Mäzene in so schönem Durcheinander, wie ihre Träger sich selbst auf der Kirchenbank nicht miteinander niedergelassen hätten. Das ist die Demokratie der Literatur.

Der Wille der gesamten Nation schuf demnach die ungarischsprachige Literatur auf der ideellen und glaubensmäßigen Grundlage der Reformation, gerade als die zusammenhaltende Kraft, der einheitliche ungarische Staat, verschwand.

Wie gesehen, finanzierten Herren aus Oberungarn siebenbürgische Buchausgaben und umgekehrt. Grenzen zählten nicht.

Sebestyén Tinódi gab seine Chronik, das erste Autoren-”Lebenswerk” in der Geschichte der ungarischen Literatur, auf Kosten des westtransdanubischen Tamás Nádasdy, mit gewisser Unterstützung König Ferdinands in Klausenburg heraus, obwohl er selbst in Kaschau lebte und bei Sárvár starb.

Mihály Sztárai, evangelischer Pastor in Süd-Baranya, schrieb im türkischen Besetzungsgebiet Schauspiele, die in Klausenburg und Ungarisch-Altenburg gedruckt wurden. Andere Pastoren aus dem Besetzungsgebiet, aus dem Komitat Tolna, sandten ihre Bibelübersetzungen nach Klausenburg, die dann dort erschienen (Imre Eszék und István Tövisi: A Jézus Sirák könyve magyar nyelven [Das Buch Jesus Sirach in ungarischer Sprache], 1551). Bálint Balassi lebte in Oberungarn, folgte dann aber Báthori nach Polen und reiste öfter nach Siebenbürgen; seine Szép magyar komédia (Schöne ungarische Komödie) widmete er den Frauen Siebenbürgens. Den Pastor von Ráckeve im Besetzungsgebiet, István Szegedi Kis kannte und verehrte das ganze Land, seine Werke erschienen in der Schweiz, in Basel und Schaffhausen. Miklós Bogáti Fazekas, nach Balassi der größte Lyriker ungarischer Sprache in der Renaissancezeit, unitarischer Seelsorger in Siebenbürgen, stieß in irgendeiner Bibliothek in Fünfkirchen, im Besetzungsgebiet, auf eine achtsprachige vergleichende Psalmenausgabe, mit deren Hilfe er seine ungarischen Psalmen schrieb; und György Válaszuti, seit 1572 unitarischer Seelsorger in Fünfkirchen, hinterließ der Nachwelt einen Bericht über sein Glaubensstreitgespräch mit dem reformierten Pfarrer von Ráckeve Máté Skarica, der zugleich eine literaturgeschichtliche Prachtleistung ist. Man erfährt aus ihm, dass sie das Streitgespräch beim Warten im Audienzsaal des Ofner Paschas verabredeten, als sowohl die Fünfkirchner als auch die Ráckever und Tolnaer dem Pascha Geschenke brachten, nur damit er sie in Frieden ließe. Die braven Bürger – Kaufleute, Gewerbetreibende und sonstigen Städter – debattierten in Ruhe untereinander ihre Glaubensprobleme und fassten das Wesen beider Doktrinen folgendermaßen zusammen: „Hör mal, mein Herr Máté! Wenn du es mit den vielen Doktoren hältst, halte ich es mit den armen Fischern: wollen wir sehen, welche Wissenschaft stärker sein wird.”

Unser Bürgermeister konnte sich nicht mehr bremsen, stand auf, ergriff die Bibel und reichte sie Herrn Máté in den Predigtstuhl hinauf. Als das János Rácziai sah, welcher der Papist unter uns ist, der Patron von Herrn Máté, eilte er, hinauszulaufen und schnell eine (andere) Bibel hereinzubringen, die er zu Herrn Máté hochhielt und sagte: Aus dieser beweise es, mein Herr Máté! Das ist eine hundertjährige Bibel! Aber Herr Máté wollte keine von beiden aufschlagen...

Als das Streitgespräch dann abgebrochen wurde, begleiteten die Fünfkirchner die Ráckever zu ihrem Wagen, versahen sie mit Proviant und gutem Wein für die Reise. Sie tauschten einen kräftigen Händedruck und verabschiedeten sich voneinander.

Wir verweilten etwas bei diesem 1588 unter türkischer Herrschaft stattgefundenen Ereignis, weil es das Alltagsleben der Ungarn im 16. Jahrhundert besser als jede Abhandlung beleuchtet. Man sieht, auch Händler und Handwerker lesen, sprechen kultiviert miteinander (obgleich wir nicht verleugnen wollen, dass es früher gerade dort in Glaubensfragen zu einer blutigen Auseinandersetzung gekommen war, die mit einem Todesfall endete), jeder ist bestrebt, dem anderen seine Bibel aufzudrängen, sie lesen also zu Hause in ihr. Wenn wir bloß wüssten, was für eine Bibel dieser hundertjährige ungarische Text gewesen sein mag, den der Katholik Herrn Máté auf den Predigtstuhl hinaufreicht. Auch Péter Bornemisza erklärte, er schriebe fürs Volk, für die „in der Heimat wohnenden Landwirte” zwar ungarisch, aber wer nur slowakisch verstünde, „dem solle man es slowakisch vorlesen”. Die Stadt Debreczin konnte gar nicht genug von den für Leser mit schmalem Geldbeutel bestimmten Heften drucken, die anlässlich von Kirchweihen und Märkten von auf der Erde ausgebreiteten Planen oder Blahen verkauft wurden. In solchen „Planen”-Heften (Kolportage-Heften) schmökerte dreihundert Jahre später der junge Mihály Vörösmarty, um anhand des Argirus királyfi (Die Historie vom Prinzen Argirus) sein Werk Csongor és Tünde (Csongor und Tünde) zu schreiben, und das Kind János Arany verwendete Ilosvais Toldi für sein Werk gleichen Namens. Die ungarische klassische Dichtung des vergangenen Jahrhunderts wurzelt also hier, im 16. Jahrhundert.

Niemals hat es eine so plebejisch geprägte ungarische Dichtung und Literatur gegeben wie in dem von Deutschen, Türken und Tataren drangsalierten Jahrhundert der Reformation und Renaissance. Eine Statistik auf der Basis der erhalten gebliebenen Manuskripte oder gedruckten Bücher würde ergeben, dass 80 % der Verfasser Söhne von Leibeigenen oder Häuslern waren. Sie waren das Gewissen der ungarischen Nation. Péter Bornemisza zieht als Waisenkind von einem Hof zum anderen, bis er im Schutz der Familie Balassi Anker wirft; der siebenbürgische Geistliche deutscher Muttersprache Gáspár Heltai, der Luthers Rat annimmt und noch als Erwachsener ungarisch lernt, wird zu einem der bedeutendsten Renaissance-Novellisten; Tinódi und Ilosvai sind wandernde Lautenschläger, Ilosvai dichtet und komponiert mal unter einem Kornelkirschenstrauch und mal im Lärm einer Schmiede seine Gesänge; Péter Melius Juhász ist der Tröster des „Marktvolkes” von Debreczin; Gál Huszár vertreibt sein Glaube aus einer Stadt in die andere; András Szkhárosi Horvát donnert seine Verfluchungen aus einem Dorf der Tokaj-Gegend gegen die das Volk schindenden adligen Herren; Mihály Sztárai spielt in winzigen Baranyaer Dörfern vor den Häusern auf der Geige auf und studiert mit ihren Bauern Schauspiele ein, indessen ist er genau darüber informiert, dort im Winkel zwischen Drau und Donau unter türkischer Herrschaft, dass man den englischen Erzbischof und Kanzler Thomas Cranmer seines evangelischen Glaubens wegen hingerichtet hat, und hält das Ereignis sogleich in einem Gedicht fest. Doch wollen wir nicht die ganze bewundernswert reiche ungarische Renaissance-Literatur Revue passieren lassen. Es genügt, erneut auf Gáspár Heltai zu verweisen, der also seine deutsche mit der ungarischen Sprache vertauschte und in dieser schrieb, was eigentlich ein symbolisch großartiges Ereignis ist. Denn dieser Heltai programmierte nicht aus Zwang und auch nicht des Vorteils halber sein Denken aufs Ungarische um, sondern weil er – wie es den Anschein hat! – in einer solchen ungarischsprachigen Umgebung lebte, dass er sich die Sprechweise seiner Mehrheitsumgebung einfach aneignen musste. Ja er hat dies sogar gern getan, drückt er sich doch so schön und echt ungarisch aus, dass ihn viele geborene Ungarn darum beneiden könnten. Die ungarische Sprache hatte sich also, von der Hülle der lateinischen Wissenschaftlichkeit des Mittelalters befreit, bis 1500 zur Vollkommenheit entwickelt und von dem verschwundenen Staat die Nation erhaltende Funktion übernommen. Das erklärt, dass sich die ungarischen Schriftsteller seither als die Sprecher des öffentlichen Lebens betrachten, ob das der jeweiligen Herrschaft nun passt oder nicht.

Eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache und die Herausbildung des ungarischen begrifflichen Denkens war die Übersetzung der Bibel mit ihrem sehr komplizierten Denkgefüge. Angefangen von der vielleicht schönsten von allen, der Evangelienübersetzung Gábor Pestis von 1536 über Gáspár Heltais sich jahrzehntelang hinziehende, fast vollständige Klausenburger Bibelausgabe bis zu Gáspár Károlyis vollständiger ungarischer Bibel (1590) erschienen Dutzende von Bibelübersetzungen und übten ihre Wirkung im dreigeteilten ungarnbewohnten Gebiet aus; allein durch ihr Vorhandensein vermehrten sie den ungarischen Wortschatz zu unvorstellbarem Reichtum, vor allem aber den des Denkens in abstrakten Begriffen. Der von Bornemisza verwendete Wortschatz umfasste viele tausend Wörter und war erheblich größer als jener der aus der Zeit nach Matthias’ Tod überlieferten Texte.

Ihren Gipfelpunkt erreichte diese Bereicherung des Wortschatzes, die Möglichkeit, die Gefühlswelt und das komplizierte Denken zum Ausdruck zu bringen, in der Dichtung von Bálint Balassi. Unsere berühmten Schriftsteller und Dichter, von Gábor Pesti über Bornemisza bis Balassi, haben alle mit unermüdlichem Eifer betont:

Wenn ich sehe, dass jeder Mensch, fast jede Nation auf dem Erdenrund über Übersetzungen in wunderbarer Vielfalt verfügt und man sich überall auf der Welt dessen befleißigt, den Ruhm seines Vaterlandes zu verewigen , warum soll es nicht erlaubt sein, frage ich, die Sprache und den Geist der Meinigen meinen Kräften gemäß zu verschönern und mich für mein Vaterland, dessen Schuldner wir auf ewig sind, zu bemühen?

(Gábor Pesti, 1536)

Es ist jedem nüchtern urteilenden Menschen bekannt, dass seit einigen Jahren das Schreiben auch in ungarischer Sprache schon eingesetzt hat, welche wir nach dem Vorbild Ciceros und jeder gebildeteren Nation aus gewichtigen Gründen von Tag zu Tag immer besser und besser, soweit es in unserer Macht steht, pflegen und bereichern müssen.

(Péter Bornemisza, 1558)

Auch ich Wollte deshalb die ungarische Sprache dadurch bereichern, damit alle kennenlernen, dass auch in ungarischer Sprache das möglich wäre, was in den sonstigen Sprachen möglich ist.

(Bálint Balassi, 1588)

Die letzten beiden Verlautbarungen stammen aus zwei Schauspielen. Der geneigte Leser möge würdigen, dass im dreigeteilten Ungarn Jahrzehnte vor Shakespeare ein Meisterwerk wie Elektra erklang und eine derartige dichterische Erfindung wie die Schöne ungarische Komödie.

János Sylvester wurde 1541, im Jahre des Verlustes von Ofen, beim Übersetzen der Bibel darauf aufmerksam, dass sich an die Gleichnisrede der Bibel

unser Volk leicht gewöhnt, weil ihm die Weise dieser Rede nicht fremd ist. Es verwendet solche Rede in seinem täglichen Sprechen. Es verwendet sie in den Liedern, vor allem in den Blumenliedern [Liebesliedern], in denen jedes Volk die Verstandesschärfe des ungarischen Volkes beim Erfinden bewundern kann; was nichts anderes ist als: ungarische Poesie.

(János Sylvester: Újtestamentum magyar nyelven

[Das Neue Testament in ungarischer Sprache])

Diese ungarische Poesie entstand – d. h., sie wurde bewusst – genau zu dem Zeitpunkt, als der mittelalterliche Staat zu existieren aufhörte.

Die Aufgabe, das ungarische geschichtliche Identitätsbewusstsein wachzuhalten und das Selbstgefühl des Ungarseins zu pflegen, übernahm von dieser Zeit an für viele Jahrhunderte die ungarische Sprache.

Wir konnten beobachten, dass für Gábor Pesti, Péter Bornemisza und Bálint Balassi die ungarische Sprache und das Vaterland identische Begriffe sind. Wenn Gábor Pesti die Sprache verschönert, dient er dem Vaterland, dessen ewiger Schuldner er ist.

Dieses Vaterland ist nicht einfach die Gegenwart, es ist auch die lebendige Vergangenheit. Der Strom der im Volke jahrhundertelang mündlich bewahrten Ereignisse ist außerordentlich reich. Der siebenbürgische Tafelrichter András Valkai besingt Az nagyságos Bánk bánnak históriája (Die Historie des adligen Herrn Banus Bánk, 1567) und gibt damit József Katona das Thema. Ambrus Görcsöni, der Lautenschläger von Gáspár Homonnai Drugeth, stellt die Herrschaftszeit von König Matthias in Gedichtform dar, und als dieses Werk vier Auflagen erlebt hat, setzt es Miklós Bogáti Fazakas bis zu König Johann fort.

Zu dieser Zeit schuf Péter Ilosvai Az híres-neves Toldi Miklósnak históriája (Die Historie des hochberühmten Miklós Toldi), jetzt gab Gáspár Heltai seine populärsten historischen Gesänge (Cancionale) heraus und übertrug Bonfinis Geschichtsdarstellung ins Ungarische (1575); auch Sebestyén Tinódi zeichnete zahlreiche alte Historien auf; István Székely schrieb eine „Universalgeschichte” auf Ungarisch, und Ferenc Forgách zeigte, zwar in lateinischer Sprache, aber mit seiner verblüffend modern wirkenden bitteren Ironie die historischen Geschehnisse seiner Zeit:

Wir schreiben fast nicht Geschichte, sondern beweinen eher die in einem einzigen Schicksalsverlauf auf uns niederprasselnden Schläge.

Im 16. Jahrhundert sind demgemäß Muttersprache – Literatur – Religion (Reformation) – Heimatliebe – geschichtliches Identitätsbewusstsein zu einander wechselseitig voraussetzenden Begriffen im Denken und in der Gefühlswelt der ungarischen Gesellschaft verschmolzen.