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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 6:57–66.

STEFAN MALFÈR

Die Reform der Wehrpflicht als konservative Sozialutopie in einer Broschüre aus dem Jahre 1856

 

Im Jahre 1856 erschien in Raab/Győr ein schmales Büchlein in deutscher Sprache mit dem etwas verwirrenden Titel „Die Wehrpflicht als Staatskraft und Last des Individuums und seiner Familie”. Der Autor blieb anonym und zeichnete nur als „k. k. Stabsofficier in Ruhestand”1. Die Versuche, den Autor ausfindig zu machen, blieben ohne Ergebnis2. Weder enthalten die Exemplare, die in den Wiener Bibliotheken vorhanden sind, einen Hinweis, noch hinterließ die Broschüre in den Akten des Kriegsarchivs irgendeine Spur, auch eine Rezension konnte ich nicht finden.

Der Umstand, dass die Broschüre in Győr gedruckt wurde, und einige Textstellen lassen den Schluss zu, dass der Autor ein Ungar war. Die Sprache ist ein wenig umständlich, altmodisch, die Satzstellung etwas ungewöhnlich, so als ob der Schreiber aus einer anderen Sprache übersetzen würde. Man hat den Eindruck, dass er ein sehr gebildeter, gleichzeitig durch und durch ein Mann der Praxis war, der sich lange Zeit Gedanken gemacht hat und diese nun niederschreibt, ohne die Gewandtheit des Schriftstellers oder Journalisten zu besitzen. Aber er weiß genau, was er will, er ist überzeugt von der Richtigkeit seiner Gedanken. All das zusammen ergibt für den heutigen Leser einen eigenartigen Reiz.

Es geht um die Reform der Wehrpflicht. Das Thema war damals sehr aktuell. Schon seit 1848 hatte es Reformschritte gegeben, wie die Aufhebung der Befreiung des Adels vom Militärdienst, die Einberufung nach dem Los, d. h. die Auswahl der Rekruten aus allen Tauglichen und nicht Befreiten durch Auslosung, und die Einführung der fixen Befreiungstaxe anstelle der freien Vereinbarung für die Stellvertretung. In Ungarn und Siebenbürgen war die freie Werbung abgeschafft worden. Die langfristige Tendenz ging in Richtung Objektivierung, das bedeutete mehr Gerechtigkeit, in Richtung Wehrdienstverkürzung und Verbreiterung der Kriterien für die Rekrutenauswahl.

Das Kriegsministerium bemühte sich um weitere Reformen. Im Dezember 1855 hieß es in einem Schreiben an das Innenministerium:

„Die Notwendigkeit eines allgemeinen Rekrutierungsgesetzes ist unverkennbar. Das Bedürfnis darnach stellt sich umso dringender dar, als gegenwärtig in den verschiedenen Kronländern fünf in wesentlichen Teilen voneinander abweichende Rekrutierungsvorschriften in Kraft bestehen.”3

Aus diesem Anlauf ging drei Jahre später das Heeresergänzungsgesetz von 1858 hervor, das aber noch nicht der große Wurf war. Der gelang bekanntlich erst unter dem Druck und Eindruck von Königgrätz. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und des Einjährig-Freiwilligenjahres im Jahre 1868 brachte die große Erneuerung im Einberufungswesen.4 Unser Autor griff also ein offenes Problem auf.

Wie lautete seine Analyse des Wehrsystems der Monarchie? Es war seiner Ansicht nach ungerecht, die Lasten waren höchst ungleich verteilt, trotz aller Verbesserungen im Einzelnen. Diejenigen, die das Los traf, mussten Jahre ihres Lebens dem Staat geben, hatten Nachteile für ihre Gesundheit, ihr Leben, ihre Ausbildungs- und Verdienstchancen, sie konnten unter Umständen ihre armen Eltern nicht unterstützen usw. Die Untauglichen und die nicht Ausgelosten aber hatten gar nichts zu leisten. Mit diesem Urteil stand der Autor nicht alleine da. Der Zweck der Broschüre war es nun, einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Dieser Vorschlag hatte zwei Seiten, eine militärische und eine außermilitärische.

Der springende Punkt in militärischer Hinsicht war der Versuch, die allgemeine Wehrpflicht mit einem Berufsheer zu verbinden. Unser Offizier war entschieden der Meinung, dass der freiwillige Soldat der bessere Soldat sei.

„Der Geworbene betrachtet seinen Lebenslauf in dem Gewerbe des Soldaten fixiert; ... Er hat sonach seltener Sehnsucht nach seinen früheren Verhältnissen, als der zwangsweise Dienende; und aus diesen Ursachen dient jener in der Regel auch länger, und bei Aussicht auf Versorgung nicht selten bis zur Invalidität, – ein Vorzug allerdings, weil der alte Soldat in so vielen Hinsichten dem jungen vorzuziehen ist; zumeist aber, weil der alte Soldat in Strapazen ausdauernder, und Erkrankungen weniger unterworfen zu sein pflegt.”5

Es war also alles daran zu setzen, um möglichst viele Freiwillige zu bekommen. Ebenso war er aus Gerechtigkeitsgründen der Meinung, dass die Last, die ein Staat zur Aufrechterhaltung seiner Wehrkraft trug, auf alle verteilt werden sollte. Nun galt in der Theorie bereits die allgemeine Wehrpflicht. Sie war aber in der Praxis außer Kraft gesetzt durch die zahlreichen Befreiungen, durch die notwendige zahlenmäßige Beschränkung des Truppenkontingents und durch das Auswahlsystem des Losens.

„Was wir hauptsächlich auf dem Korn haben, ist dass der vom Los Getroffene acht oder zehn Jahre im Militärdienst zubringen muss, und der vom Los nicht Getroffene, sowie der Untaugliche titulo opere militaris nicht etwas leistet, das zur Kompensation für die unter die Waffen Gestellten, oder zum allgemeinen Besten verwendet werden könnte. Es erweiset sich nämlich, dass ... etwa ein Fünftel der Individuen der pflichtigen Altersklassen die in der Frage stehende Last tragen, und vier Fünftel derselben dieser Last rein ledig bleiben, ohne irgend eine Leistung, welche diese Ungleichheit milderte.”6

Er suchte und fand einen Ausweg. Jeder hatte entweder persönlich zu dienen oder, wenn er nicht konnte oder nicht wollte, eine Ersatzleistung zu erbringen. Diese Ersatzleistung konnte aus praktischen Gründen nicht militärischer Natur sein. An diesem Punkt brachte er außermilitärische Ziele ins Spiel. Vier Dinge hatte jeder Nichtdienende bzw. seine Familie zu tun: „Diese Leistungen sollen bestehen aus einem Geldbetrag, einem persönlichen Dienst, und zwei besondern Lasten.”7 Der Geldbetrag war sozial gestaffelt. Das Maß für die Berechnung war der Grundbesitz, nach dem Prinzip „onus inhaeret fundo”, das der Autor so übersetzte: „Die Last der Landesverteidigung ruht auf dem Grundbesitz.”8 Die anderen Berufe waren auf dieses Maß bezogen, so sollte z.B. ein weniger einträgliches Handwerk einem Besitz von 20–50 Jochen gleich gehalten werden, ein besseres einem Besitz von mehr als 50 Jochen. Die aus der Größe des Besitzes errechnete Geldsumme war übrigens von den mittleren und größeren Grundbesitzern auch dann zu zahlen, wenn sie keinen Sohn hatten oder gar kinderlos waren, da eben der Grundbesitz als solcher zur Verteidigung beizutragen hatte. Die Geldbeträge sollten in einen Rekrutierungsfonds fließen. Daraus sollte die Regierung die armen Proletariersöhne für den von ihnen zu leistenden Wehrdienst belohnen und überhaupt Freiwillige bezahlen.

Die Geldleistung allein erschien unserem Offizier noch kein adäquater Ersatz für die persönliche Dienstleistung zu sein, daher verlangte er, dass jeder, der nicht in der Armee diente, einen persönlichen Dienst in einem zivilen Bereich für die Allgemeinheit zu leisten habe.

„Der persönliche Dienst ... wäre in einem Zivilamt oder Lehramt durch zehn Jahre zu leisten ... Hierher gehören Ämter, Verwendungen, Sicherheitsdienst, pressante Gemeindearbeiten, Vormundschaften, Beisitzer bei Gerichten, Schullehreramt, aktive Mitglieder eines Landkulturvereines usw. Es wären diese Dienste zum größten Teil leichterer Art ...

Es werden durch die Schuldigkeit der persönlichen Dienstleistung, wie wir sie soeben andeuteten, ... eine Menge Individuen der Regierung zur Disposition gestellt, die für ihre Dienste dem Staate keinen Sold kosten, und aus ihrer Mitte ist eine Zahl als Beamte oder Schreiber verwendbar.”9

Aber auch damit war es noch nicht genug. Vielmehr waren noch „zwei besondere Lasten” zu erfüllen. Die erste bestand darin, dass die Familie 1 % des Besitztums an Ackerland – das ganze Modell baut, wie gesagt, auf dem Grundbesitz auf – zehn Jahre lang nach den Anordnungen der Regierung zu bebauen, wobei der Ertrag nicht abgeliefert werden musste, sondern der Familie blieb. Unser Offizier erwartete sich von dieser Maßnahme die Hebung der Landwirtschaft durch die Einführung neuer Kulturarten, und er vertraute darauf, dass die Leute ein neues Produkt nach einiger Zeit akzeptieren würden. Die konkreten Anregungen für diese Zwangsbeglückung sollten die Ackerbau- und Landwirtschaftsgesellschaften geben.

„Der Anbau von Krapp, Waid, Safran und anderer Spezies, die das Land hervorzubringen vermag, und sie gegenwärtig noch vom Ausland bezieht; die Vervielfältigung des Repsbaus, der Futterkräuter, Zuckerrüben, Futterrüben, Tabak, Hanf, Seidenwurmzucht, kann in diese Rubrike fallen. Man klagt häufig über Renitenz der Landleute gegen neue Methoden der Bodenkultur; durch diese Einrichtung wäre die Möglichkeit gewonnen, vielerlei anzubefehlen. – In sehr vielen Fällen ist es notwendig, die Leute zu zwingen, sich in etwas für sie Neues einzulassen, wo sie dann Sinn und Geschmack dafür bekommen ... Besonders nützlich, ja notwendig wird die Verbreitung der Seidenkultur ... Die Leute werden sich auf diese Weise an den Geruch der Seidenwürmer gewöhnen, und es wird dann nicht so leicht vorkommen, dass bei der Seidenzucht beschäftigte Taglöhner in großer Zahl, zur großen Verlegenheit des Züchters die Arbeit plötzlich verlassen, vorschützend, dass solche Arbeit nicht für einen Ungar sei.”10

Die zweite der besonderen Lasten betraf den Wald. Die Familie hatte für die Befreiung eines Sohnes vom Militärdienst jährlich einen Baum oder mehrere Bäume zu pflanzen, je nach der Größe des Grundbesitzes, und zwar zehn Jahre lang. Dadurch würden das Klima und die Fruchtbarkeit des Bodens günstig beeinflusst. Man spricht heute viel vom natürlichen Gleichgewicht, von Ökologie. Hören wir, was unser Offizier vor mehr als 130 Jahren schrieb.

„Wir haben uns sagen lassen, dass in Böhmen seit der Zeit, als die Fischteiche zum größten Teil beseitigt waren, die Fruchtbarkeit dieser Gegenden abgenommen habe. Ähnliches haben wir im diesem Komitate, das früher zu den fruchtbarsten zählte, die Sárrét (Kotwiese; beiläufig gesagt, bedeckte sie mehrere Quadratmeilen) durch größere Abzugskanäle in Wiesen und Ackerland verwandelt wurde, die Regen in diesem Komitate seltener geworden sind, und nun die Fruchtbarkeit merklich abgenommen hat. Man ist daran, die übertheißischen Sumpfstrecken auszutrocknen, und den Theiß-Überschwemmungen abzuhelfen. Wenn dieses erzielt sein wird, müssen die Feuchtigkeitsverhältnisse jener Gegenden nachteilig sich gestalten und so auf die Fruchtbarkeit wirken ... Hier können nur Baumpflanzungen im Großen helfen. Diese werden nach der von uns beabsichtigten Einrichtung dem Staate nichts kosten; und wenn deren Pflanzung bald begonnen wird, so wird ihre Zahl mit der eintretenden Entwässerung Schritt halten können.”11

Eine zusätzliche Begründung, die er anführte, war sehr menschenfreundlich. Die Bevölkerung Ungarns sei baumscheu, meinte er, und durch solche Baumpflanzungen werde es dazu kommen, dass „die Schnitter ihr Mahl im Schatten mit Erquickung genießen können; und nicht 16 Stunden im Sonnenschein, wo das lau gewordene Wasser sie nicht zu laben vermag, schmachten sollen.”12

Ich habe nun in den Grundzügen das Modell der Wehrpflichtleistung aufgezeigt. Auf nähere Details gehe ich nicht ein. Stattdessen möchte ich die Kriterien und die Werte aufzeigen, nach denen das ganze Modell und die Details eingerichtet sind.

In militärischer Hinsicht geht es ihm selbstverständlich um die Erhaltung der Schlagkraft der Armee. Sie braucht eine ausreichende Anzahl von guten, motivierten Soldaten. Die Umstände in Europa verlangen dies: „Die Steigerung der Zahl der Soldaten in den meisten Staaten erlaubt einzelnen Staaten nicht, hierin zurück zu bleiben.”13 Und der freiwillige, länger dienende Soldat ist der bessere Soldat als der Rekrut. So viel zum Militärischen, das eigentlich recht im Hintergrund bleibt.

 

Die politischen Kriterien sind

1. Gerechtigkeit. Es stört ihn, dass einige etwas leisten müssen, andere gar nichts, und er weiß, dass dies auch zu Klagen und zu Unmut in der Bevölkerung führt.

2. Soziale Ausgewogenheit. Außer bei der persönlichen Ersatzdienstleistung sind stets die Einkommensverhältnisse berücksichtigt. Die finanzielle Ersatzleistung des Mittellosen bleibt gering. Der einzige Sohn einer Familie ohne Grundbesitz und Vermögen ist von der Ersatzgeldleistung ganz befreit. Verhältnismäßig am stärksten werden die kleinen und mittleren Bauernwirtschaften bis 100 Joch herangezogen, die freilich die zahlreichste Gruppe darstellten. Sie hätten für einen Sohn 50–700 fl. Ersatzgeld zahlen müssen. Bei einem Großgrundbesitzer mit 100 000 Joch hätte der Geldbetrag 20 000 fl. ausgemacht. In einem historisch-juristischen Exkurs rechtfertigte er diese hohe Geldleistung als Konversion der Banderialschuldigkeit14, d. h. der Magnat muss nicht mehr, wie in früheren Zeiten, ein Banner, eine kleine Truppe stellen, dafür aber ordentlich bezahlen.

Die soziale Ausgewogenheit finden wir auch bei den Handwerkern und bei den Stadtbürgern.

3. Das dritte Kriterium ist die Stärkung des ländlichen Grundbesitzes und seiner Familie. Die Familien der Grundeigentümer sind für ihn die Basis des Staates, sie gewährleisten Beständigkeit, Ruhe und Ordnung. Es sollte auch möglichst viele Wirtschaften mit gebundenen Gründen geben, d. h. solche, die nicht durch Erbteilung oder Verkauf zerstört werden können. Mindestens zwei Drittel des Gebietes eines Dorfes sollte im Eigentum von dort residierenden Personen sein, und nicht von Stadtbewohnern gekauft werden können.

4. In den Städten sind in ähnlicher Weise das Handwerk und die Familie des Handwerkers zu schützen, z. B. soll der einzige Sohn eines Handwerkers, wenn er denselben Beruf ergreift, nur die Hälfte des Befreiungsbetrages zahlen.

Wir sehen in diesen beiden Kriterien ganz klar ein feudal-konservatives Gedankengut, das in scharfem Gegensatz zu den liberalen Zeitströmungen steht15.

5. Ein weiteres Anliegen des Autors ist die sozialerzieherische Sorge für das Proletariat. Der Sohn des Taglöhners und Proletariers muss, wenn er untauglich oder als einziger Sohn vom Militärdienst befreit ist, einen kleinen Teil seines Verdienstes sparen als obligatorische Altersvorsorge. Wenn er arbeitslos, ist, soll ihn die Regierung zu öffentlichen Arbeiten heranziehen. Auch die Handwerksgesellen sollen, wenn sie nicht dienen, obligatorisch sparen, und zwar unter der Aufsicht eines Meisters, vereint in einer Burse.

„Der Börsenvater hat Veranlassung, wie gesagt, seine Leute zu versammeln; er gewinnt Autorität, Einfluss ist geschaffen, und Gelegenheit bereitet, um guten Samen zu säen. Der Kreuzer-Einzahler wird durch dieses Einzahlen an eine höhere Ordnung und die Regierung erinnert; er leistet, und sieht, dass alle um ihn her leisten. ... Er tritt somit aus der Sphäre des Tiers.”16

Ich fasse zusammen. Die Werthaltungen und Kriterien, nach denen er sein Modell aufbaut, sind Gerechtigkeit und eine sozialkonservative und feudale, patrimoniale Gesellschaftsordnung.

Das alles ruht auf zwei ethischen Grundhaltungen, die er so ausdrückt. Die eine nennt er Pietät, d. h. „fromme Liebe mit ihren Konsequenzen von Entsagung und Aufopferung für ihren Gegenstand”. Dazu gehören der Vater oder die Eltern und die Familie, der Herr, der Landesfürst oder das Vaterland, welches „ohnehin alles Übrige, was wir lieben, in sich faßt”17. Das Gegenteil nennt er Spiel und bezeichnet damit jedes Tun und Streben, bei dem der Gegenstand gleichgültig oder sogar verwerflich ist, wo also nicht fromme Liebe gefordert ist, sondern Beliebigkeit herrscht. Dazu rechnet er z. B. jede Geschäftsspekulation oder auch den Zwischenhandel. Um zum Wehrdienst zurückzukommen: Wer nicht aus freier Berufswahl oder aus Patriotismus Soldat wird, sondern dazu gezwungen ist, der hat keine Pietät, heute würden wir sagen Motivation oder Akzeptanz.

Die zweite Grundhaltung ist Handeln nach festen Grundsätzen. Das Gegenteil davon ist, wie er es nennt, die Expedienz, also Ausflucht, Aushilfsmittel, billiger Ausweg. Er beklagt es, dass die Politik viel zu oft die Grundsätze vergisst und sich mit Expedienzen aushilft. Aber damit könne man nichts Dauerhaftes erreichen. Leider sei auch das System der Wehrpflicht voller Expedienzen und daher eben ungerecht.

Ich möchte nun versuchen, die Gedanken dieser Flugschrift einzuordnen. Wenn wir die gesamte Broschüre überblicken, dann können wir ziemlich deutlich utopische und nicht-utopische Elemente unterscheiden.

Zuerst die realistischen, nicht-utopischen. Da ist einmal der Versuch, die allgemeine Wehrpflicht oder besser die gerechte Wehrlastverteilung durchzuführen. Wir wissen, dass unser Autor da seiner Zeit voraus, aber nicht viel voraus war. Nur zehn Jahre später wurde die allgemeine Wehrpflicht als persönlich zu leistender Wehrdienst provisorisch und 1868 definitiv und auf gesetzlichem Wege eingeführt.

Auch das Bemühen um freiwillige Soldaten war nicht neu. Die Stellvertretung im Frieden war schon 1827 eingeführt worden, um freiwillig länger dienende, also bessere Soldaten zu bekommen. Die Einführung einer Wehrsteuer für Nichtdienende war auch von anderer Seite vorgeschlagen worden. 1853 hatte z.B. Oberst Anton Bils einen solchen Vorschlag unterbreitet, dem sogar FZM. Hess seine Anerkennung ausgesprochen hatte, es war aber nichts daraus geworden18. Das Wehrgesetz von 1868 enthielt die Einführung der Wehrtaxe, also eine nach dem Vermögen berechnete Geldleistung jener, die den Wehrdienst nicht persönlich leisten konnten. Die Wehrtaxe wurde dann erst 1880 realisiert, und sie war viel niedriger als die in unserer Broschüre vorgeschlagene19.

Ebenso wenig sind die Bemühungen um Hebung der Landwirtschaft und Einführung neuer Produkte und die Existenz und Tätigkeit der Landwirtschaftsgesellschaften utopisch. All das hat es ja gegeben20.

Was den Wald anbelangt, so gab es zwei gegenläufige Prozesse. Einerseits wurden die Wälder immer mehr in Anspruch genommen durch den steigenden Bedarf an Brennholz und an Holzkohle für die wachsende Bevölkerung, die zunehmende Industrie und die Eisenbahnen, und die Forstleute klagten immer wieder über den schlechten Zustand der Wälder. Andererseits entwickelte sich als Antwort darauf die Forstwissenschaft und Forstgesetzgebung, um den Ertrag der Wälder zu erhalten oder zu vermehren. Auch hier konfrontierte die Broschüre den Leser mit einem brennenden Problem der damaligen Zeit. Der Vorschlag unseres Autors zu großzügiger künstlicher Aufforstung Ungarns geht aber doch sehr weit und ist seiner Zeit voraus. Erst ein Vierteljahrhundert später verpflichtete das ungarische Forstgesetzt von 1879 die Waldbesitzer zu natürlicher oder künstlicher Aufforstung. Diese gesetzliche Bestimmung war aber noch lange keine Garantie für die landesweite Durchführung21.

Schließlich befand sich unser Offizier auch hinsichtlich der sozialen Impulse in guter Gesellschaft. In allen politischen Lagern gab es Vertreter, die die Probleme des Pauperismus, der Landflucht und des Industrieproletariats gesehen haben. Zentral war dies im Denken der frühen Sozialisten und Kommunisten. Aber auch bei den Katholiken gab es sozial Denkende, wie Bernhard Bolzéano, Wilhelm Gärtner oder Anton Füster, um einige Beispiele aus Österreich zu nennen22. Allerdings hat die Kirche erst spät mit der Enzyklika Rerum Novarum deutliche Konsequenzen gezogen, und Wolfgang Häusler hat sicher recht damit, daß die romantische Utopie einer feudal-zünftischen Ständeordnung keine ernstzunehmende Antwort auf die brennenden Probleme der entstehenden Industriegesellschaft war23. Schließlich gab es auch im liberalen Lager den Versuch, die soziale Frage zu beantworten24.

Diesen Elementen stehen einige utopische gegenüber. Da ist einmal der Zivildienst. Nun gibt es heute in mehreren Ländern die Möglichkeit, anstelle des Militärdienstes einen Zivildienst abzuleisten. Dennoch möchte ich die Einrichtung, die in unserer Broschüre vorgeschlagen wird – und ich betone, es kommt mehrmals das Wort „Zivildienst” vor – doch als utopisches Element werten. Mir ist jedenfalls keine andere Stimme aus jener Zeit bekannt, die diesen Gedanken ausgesprochen hat.

Utopisch sind ferner die Zwangslandwirtschaft zu nennen, und ebenso die zwangsweisen Baumpflanzungen.

Utopisch sind auch gewisse Details der Maßnahmen im sozialen Bereich, die man als Sozialromantik bezeichnen könnte.

Utopisch ist aber vor allem die Zusammenführung und Mischung der verschiedenen Bereiche. Staatliche Maßnahmen waren und sind überwiegend eindimensional, d. h. man erkennt ein Problem und sucht eine Lösung dafür. Man ist sich wohl mehr oder weniger bewusst, dass jedes Problem mehrere Ursachen und jede Maßnahme mehrfache Folgen hat, aber man will kaum anhand eines Problems zehn andere lösen. Die Utopie aber kennt das „Allheilmittel”, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Die Utopie ist der Versuch, mittels eines Grundgedankens oder Prinzips ein ideales Staatswesen auszudenken25. So ist auch der Versuch unseres Offiziers utopisch zu nennen, wenn er ausgehend von der Pietät nicht nur das System der Wehrpflicht, sondern auch die Gesellschaftsstruktur und die sozialen Probleme bis hin zur Landwirtschaft und zum Klima sanieren will.

Ich möchte also diese Broschüre zusammenfassend als eine konservative Sozialutopie bezeichnen. Konservativ, weil die Werte vergangenheitsbezogen und bewahrend sind, sozial, weil das Bemühen um Gerechtigkeit und um Berücksichtigung der armen Bevölkerungsklassen sehr stark ist, eine Utopie schließlich, weil sich der Entwurf aus inneren und äußeren Gründen doch sehr weit von dem entfernte, was machbar gewesen wäre.

Lohnt es sich, eine solche offensichtlich unbeachtete und auch undurchführbare Utopie näher zu betrachten? Dazu drei Überlegungen, mit denen ich schließe.

1. Utopie entzündet sich immer an den Problemen ihrer Gegenwart, das sind eine bestimmte Zeit und ein bestimmter Raum. Wir gewinnen also aus der utopischen Schrift Erkenntnisse über diese Zeit und diesen Raum, wenn wir nicht die Lösungen, sondern die Probleme, die angesprochen werden, herauslesen.

2. Jede utopische Schrift bietet Lösungen an, die, so unzeitgemäß sie auch sein mögen, doch gedacht, ausgesprochen, aufgeschrieben wurden, d. h. wir gewinnen auch Erkenntnisse über die im geistigen Kosmos der Zeit denkmöglichen Antworten.

3. Schließlich wirft jede Utopie einen Lichtstrahl in die Zukunft. Unsere Gegenwart entstand ja nicht nur aus den materiellen und sozialen Zwängen, auch wenn diese die Richtung vorgeben, auch nicht allein aus den dunklen Kräften der Vergangenheit, die wie schwere Gewichte die Entwicklung hemmen, sondern auch aus den Träumen, Sehnsüchten und Hoffnungen der Vergangenheit.

In diesem Sinn möchte ich die Beschäftigung mit der Flugschrift, die bei aller Begrenztheit doch einige bemerkenswerte Äußerungen enthält, rechtfertigen, ja sie zur Lektüre empfehlen.

 

Bemerkungen

1

Die Wehrpflicht als Staatskraft und Last des Individuums und seiner Familie. Von einem k.k. Stabsofficier in Ruhestand. Raab, 1856. Gedruckt bei Victor Sauerwein, 35 Seiten.

2

Nachdem das Referat gehalten war, konnte durch die Mithilfe von ungarischen und österreichischen Kollegen die Anonymität doch gelüftet werden. Ich lasse aber den Text des Referates unverändert. Zunächst verdanke ich Herrn Dániel Szabó vom Institut für Geschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften die Mitteilung, dass die István Széchényi Nationalbibliothek und die Ervin Szabó Stadtbibliothek in Budapest unsere Broschüre zwar nicht in der deutschen, aber in einer ungarischen Ausgabe enthalten, u. zw. unter dem Titel „Honvédelmi kötelesség mint állami erő és családi s egyéni teher. Írta egy nyugalmazott törzstiszt. Magyarra fordította Domján”. Das Exemplar in der Stadtbibliothek trägt den handschriftlichen Vermerk „Von dem pensionierten Major Pöschl”. Es ist mit mehreren anderen Broschüren zusammengebunden, von denen noch eine laut handschriftlichem Vermerk von Pöschl ist (Plaudereien eines pensionierten Hauptmannes über Magnatenerziehung und vaterländische Politik. Raab 1866. Druck von Victor Sauerwein). Der Bibliothekskatalog trägt bei dieser zweiten Broschüre den Vermerk „von C. Pöschl”. Laut den Militärschematismen dieser Jahre kann es sich nur um den Major Karl Pöschl handeln.

Aus dem Pensionierungsakt im Kriegsarchiv in Wien (KM., Präs. 7960/1850), den Herr Karl Rossa ausfindig gemacht hat, geht folgendes hervor. Karl Pöschl, geboren 1798 in Raab, katholisch, ledig, diente seit 1815 in der kaiserlichen Armee, u. zw. im 48., 2. und 41. Infanterieregiment. 1845 erkrankte er an Arthritis, ließ sich 1847 pensionieren, nach Besserung des Gesundheitszustandes 1849 reaktivieren und diente jeweils kurze Zeit als Platzhauptmann in Raab, als Platzmajor in Arad (Ernennung zum Major 18. 9. 1849), Kanzleidirektor beim Militärdistriktkommando in Pest und schließlich als Platzmajor in Ofen. Auf eigenes Ansuchen wurde er wegen schwerer chronischer Arthritis für realinvalid erklärt und am 19. 12. 1850 pensioniert. Dem Akt liegen mehrere ärztliche Gutachten bei. Pöschl nahm seinen Wohnsitz in Raab. In der Individualbeschreibung heißt es, er „hat in Philosophie absolviert und besitzt vornehmlich Kenntnisse in der Geographie, Geschichte und Mathematik”. Er sprach Deutsch, Italienisch und Ungarisch gut, etwas Englisch, Französisch und Rumänisch und „widmet seine Muße der Lektüre”.

Karl Pöschls Karriere war mit dem Ausscheiden aus dem Militärdienst noch nicht zu Ende. Wie aus den Geschäftsbüchern des Komitatsarchivs Győr hervorgeht, war Karl Pöschl 1851 Stuhlrichter im Dienst dieses Komitats. Er diente also in einer zweiten, zivilen Karriere in seinem Heimatkomitat. Einen Hinweis, der zu diesem überraschenden Ergebnis führte, verdanke ich wieder Herrn Szabó, die Bestätigung Herr Lajos Gecsényi, ungarischer Archivdelegierter am Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, und seinen Kollegen am Komitatsarchiv in Győr. Das Todesjahr konnte nicht eruiert werden. Allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

3

Kriegsarchiv Wien, MKSM. 1856/206.

4

Zur Geschichte der Wehrpflicht siehe Antonio Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich. Militär, Staat und Gesellschaft 1848–1867 (= Wehrwissenschaftliche Forschungen, Abteilung Militärgeschichtliche Studien 20, Boppard am Rhein 1975) 65–97; Walter Wagner, Die k.(u.)k. Armee. Gliederung und Aufgabenstellung. In: Adam Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, 5: Die bewaffnete Macht (Wien 1987) 240ff. und 485–494.

5

Wehrpflicht 6.

6

Ebd. 13.

7

Ebd. 21.

8

Ebd. 18.

9

Ebd. 22.

10

Ebd. 24.

11

Ebd. 25.f.

12

Ebd. 26.

13

Ebd. 35.

14

Ebd. 28.

15

Ebd. 30.

16

Ebd. 33.

17

Ebd. 7f.

18

Nachlass Bils, Kriegsarchiv Wien, B 1790.4; dazu Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich 75f.

19

Wagner, Armee 491; ausführlich Otto Stöger, Militärtaxe. In: Ernst Mischler–Josef Ulbrich (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes (Wien 21907) 3, 597–604.

20

Dazu für Österreich Ernst Bruckmüller, Landwirtschaftliche Organisationen und gesellschaftliche Modernisierung. Vereine, Genossenschaften und politische Mobilisierung der Landwirtschaft Österreichs vom Vormärz bis 1914 (= Geschichte und Sozialkunde 1, Salzburg 1977).

21

Vgl. das Kapitel „Waldbau” in Albert Bedő, Die wirtschaftliche und commercielle Beschreibung der Wälder des ungarischen Staates (Budapest 21896) 1, XX–XXIX; István N. Kiss, Waldnutzung und -verwaltung in Ungarn (11.–20. Jahrhundert). In: Etudes historique hongroises 1990, 3: Environment and Society in Hungary, hg. v. Ferenc Glatz (Budapest 1990) 123–143. Für Österreich siehe Franz Hafner, Steiermarks Wald in Geschichte und Gegenwart. Eine forstliche Monographie (Wien 1979).

22

Dazu Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848 (Wien–München 1979) 331–347.

23

Ebd. 346.

24

Wilhelm Wadl, Liberalismus und soziale Frage in Österreich. Deutschliberale Reaktionen und Einflüsse auf die frühe österreichische Arbeiterbewegung (1867–1879) (= Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 23, Wien 1987). Allgemein zu diesem Thema siehe Kurt Ebert, Die Anfänge der modernen Sozialpolitik in Österreich. Die Taaffesche Sozialgesetzgebung für die Arbeiter im Rahmen der Gewerbeordnungsreform (1979–1885) (= Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 15, Wien 1975).

25

Zum utopischen Staat u.a. Klaus J. Heinisch (Hg.), Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 1960.