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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:39–47.

GYULA KRISTÓ

Die ungarische Staatsgründung

 

Über die ungarische Staatsgründung können wir kaum reden, ohne zu definieren, was wir unter Staat verstehen. Natürlich könnte das auch Gegenstand eines eigenen Artikels sein, und zwar in erster Linie nicht eines historischen, sondern eines geschichtsphilosophischen Aufsatzes. Stattdessen mag hier die Feststellung genügen, dass ich unter dem Staat ein Machtsystem verstehe, das nach dem Willen weniger Menschen mit Anwendung von Zwang über große Menschengruppen ausgebaut und ausgeübt wird. Im Zusammenhang mit dieser Definition möchte ich zwei Bemerkungen vorausschicken.

**?**Erstens**/?**: Aus dieser Definition ergibt sich von vornherein die Folgerung, dass der Staat nicht von selbst entsteht, sondern geschaffen wird, dass er sich nicht von unten nach oben aufbaut, sondern von oben nach unten ausgebaut wird. Also nicht unbedingt als Ergebnis organischer Entwicklung zustande kommt, sondern infolge des von oben nach unten gerichteten Zwanges zustande gebracht wird. Dies bedeutet, dass der Historiker seine Aufmerksamkeit nicht vor allem auf eine lange Zeit hindurch ablaufende Vorgeschichte oder Voraussetzungen zu richten hat (weil es absolut nicht sicher ist, dass er solche findet), sondern viel eher auf jene Machtzentren, in denen sich die Kraft konzentriert und wo die Entschlossenheit zur Staatsgründung in Taten erscheint. Denn wo diese Entschlossenheit stark und stabil genug ist, dort kommt es zur Geburt des Staates (auch wenn er nur kurze Zeit besteht), und wo dies nicht der Fall ist, da verpufft der Versuch – wenn es überhaupt zu ihm kommt. Mit dem Staatsbegriff pflegt man verschiedene weitere Merkmale in Beziehung zu bringen, etwa die Verwirklichung des Prinzips der Territorialität oder die religiöse Homogenität, also dass eine einzige Religion zur herrschenden erklärt wird. Dies sind aber nicht Merkmale des Staates allgemein, sondern nur eines bestimmten Staatstyps.

**?**Zweitens**/?**: Es ist eine wichtige Lehre aus der Geschichte, dass die einzelnen Staaten nicht so viele Formen annehmen, wie viele konkrete, einzelne Kräfte sich aktivieren, um einen Staat zustande zu bringen. Bei der Entstehung einzelner Staaten spielt die Nachahmung, die Übernahme eine riesengroße Rolle. Es mag genügen, aus den verschiedenen Geschichtsepochen im Osten auf den Modellwert des Türkischen Reiches und im Westen auf den des Frankenreiches mit seinen Nachfolgestaaten zu verweisen, dann auf den der englischen Staatlichkeit, im 20. Jahrhundert in einem engen geographischen und chronologischen Rahmen auf den der sowjetischen Staatsorganisation und schließlich in unseren Tagen mit ihrem Globalisierungscharakter auf die Einrichtung der Vereinigten Staaten von Amerika. Diese eben verlauteten beiden Feststellungen stehen in korrelativer Beziehung zueinander. Entstünde der Staat nämlich als Ergebnis organischer Entwicklung, dann kämen vielfältige Staatstypen zustande, und dies würde der Nachahmung fremder Vorbilder keinen Raum geben. Haben dagegen die fremden Vorbilder bestimmende Bedeutung, ist die Vorstellung von einer langen inneren Entwicklung nicht durchsetzbar.

Dies alles an den Anfang eines Vortrages über die ungarische Staatsgründung zu stellen, scheint nicht überflüssig zu sein. Die wichtigste Eigenheit der ungarischen Staatsgründung, wodurch sie zu einem europäischen Kuriosum wird, sehe ich nämlich darin, dass sie zweimal geschah, und zwar als Kopie zwei verschiedener Vorbilder. Die eine Staatsgründung fand zeitlich in den 850er Jahren und räumlich in der südukrainischen Steppe statt. Der Beschreibung des byzantinischen Kaisers Konstantinos Porphyrogennetos gemäß haben die Ungarn ihren historisch ersten Fürsten „nach dem Brauch und Gesetz der Chazaren auf den Schild gehoben” und an ihre Spitze gestellt. Die Glaubwürdigkeit dieses Berichtes wird durch eine so zweifellos authentische Quelle wie den Basistext der Dschajhani-Tradition um 880 bestätigt, wonach die Ungarn damals tatsächlich in einer Herrschaftsorganisation chazarischen Musters, einem sakralen Doppelfürstentum lebten, in dem sogar der Name des höchsten Fürsten, Künde, von den Chazaren übernommen worden war. Die Chazaren verfügten also um 850 über Kraft und Entschlossenheit, die Ungarn als ihnen unterworfenes Marionettenfürstentum zu organisieren.

Bei den Ungarn gab es die inneren Voraussetzungen für dieses Fürstentum nicht, denn vordem hatten sie im System eines lockeren Stammesverbandes gelebt, nach Konstantin „hatten sie niemals einen eigenen oder fremden Fürsten über sich, sondern irgendwelche Woiwoden”, also Stammesführer. Mit der Rangerhöhung, der Schaffung des ungarischen Fürstentums, wollten die Chazaren erreichen, dass die immer mehr erstarkenden Ungarn im Chazarenreich verbleiben. Und dass sich ihr Plan kurzzeitig bewährt hat, wird dadurch belegt, dass um 860 eine ungarische Streitmacht als Bestandteil des chazarischen Militärkontingents auf der Krim kämpfte. Die chazarische Organisierung des ungarischen Fürstentums war also eine Vorsichtsmaßnahme im chazarischen Interesse. Und dass die Chazaren die Sorge um ein Ausscheiden der Ungarn nicht umsonst antrieb, zeigt sich daran, dass im Dschajhani-Text um 880 von chazarischer Abhängigkeit der Ungarn keine Rede mehr ist. Dabei blieb doch die weit aus dem Osten, von den innerasiatischen Türken (oder sogar noch früher von den Juanjuan oder sogar Sienpi) stammende nomadische Herrschaftsordnung bei den Ungarn auch nach dem Abwerfen der chazarischen Oberhoheit erhalten, wie ich annehme, in ihren Grundelementen bis ans Ende des 10. Jahrhunderts, auch wenn sie ihren Zenith überschritten hatte, allmählich verfiel und schwächer wurde und die wachsende Rolle einzelner Stämme die zentrale Lenkung ablöste.

Die andere ungarische Staatsgründung, deren Millennium wir dieses Jahr feiern, geschah auf ganz anderer Basis. Wir würden die Vorereignisse dieser zweiten, erneuten Staatlichkeit der Ungarn im 10. Jahrhundert vergeblich suchen. Wir würden sie nirgendwo finden, weil sie – ähnlich der Schaffung des Nomadenstaates chazarischen Typs – ebenfalls keine bedeutende Vorgeschichte hatte. Im größeren Teil des 10. Jahrhunderts führten die Ungarn Streifzüge, die nach dem Westen bis 955 und in den Südosten bis 970 dauerten. Dieser Umstand zeigt schon an sich, dass verschiedene ungarische Stämme bzw. Stammesgruppen selbständige Politik betrieben haben, unabhängig voneinander bzw. vom Zentrum. Die 895 mit ihrer Landnahme in neue geographische Umgebung gelangten Ungarn waren aus der Welt der unendlich scheinenden Steppe ausgebrochen und zu Bewohnern eines engen, durch Gewässer dicht geteilten Raumes, des Karpatenbeckens geworden, wo sie nicht mehr ständig nomadisieren, also ihre frühere Lebensweise beibehalten konnten. Zudem waren in diesem Raum grundsätzlich andere Macht- und Zivilisationstraditionen als in der osteuropäischen Steppe in Geltung. Bestimmende Bedeutung hatte der Einfluss der unter unterschiedlichen Namen fungierenden west- bzw. südosteuropäischen Großmächte – wenn auch zu allen Zeiten mit unterschiedlichem Gewicht.

Die Interessensphären des West- und des Oströmischen Reiches, danach des fränkischen und später des deutschen und des byzantinischen Staates stießen im Karpatenbecken oft aufeinander. Dass die Ungarn sich mit friedlichen Absichten erst in den 940er bis 960er Jahren anfangs ihren südöstlichen und dann etwas später den westlichen großen Nachbarn zuzuwenden begannen, zeigt die Kraft der nomadischen Bindung an die Steppe, die in den Jahrzehnten nach 895 die Ungarn beeinflusste. Noch eine auf mündliche Informationen zurückgehende schriftliche Quelle von 942 berichtet, die Ungarn seien „Nomaden wie die Beduinen. Sie haben weder Städte noch Häuser, sondern wohnen in Filzzelten an verstreuten Lagerplätzen.” Jedenfalls begann man sich seit Ende der 940er Jahre zuerst mehrfach nach Byzanz, um 962 nach dem Papsttum in Rom und dann 972 nach dem Deutschen Kaiserreich zu orientieren und Beziehungen aufzunehmen, zum Zeichen der Erkenntnis, dass sich die Ungarn in der neuen Umgebung neue politische Richtlinien erarbeiten mussten. Dies ist zugleich ein Anzeichen dessen, dass in der Mitte des 10. Jahrhunderts nicht mehr das Fürstenzentrum der treibende Faktor war, sondern dass die verschiedenen Stammesgruppierungen damals die gerade noch ausreichende Kraft verkörperten, auf der ihre Staaten aufbauen konnten.

Man darf dieses Vortasten in mehrere Richtungen, die Bedeutung der Versuche zur Kontaktaufnahme nicht überbewerten. Ihr Hauptertrag war die Annahme einer der Formen des Christentums – die des lateinischen oder des byzantinischen Ritus –, aber auch diese brachte nur sehr bescheidene Ergebnisse. Im Einklang mit der im gesamten Raum zu beobachtenden Praxis nahmen vor allem der Fürst und die Mitglieder des Hofes sowie die Vornehmen das Christentum an, es erstreckte sich demnach nur auf einen relativ engen Kreis. Die im Osten des Karpatenbeckens, im Land des Gyula, um 950 zu Einfluss gekommene byzantinische Kirche hatte es selbst noch nach 50 Jahren nicht vermocht, die Landesbevölkerung zum christlichen Glauben zu bekehren. Eine unvoreingenommene westeuropäische Quelle, die Hildesheimer Annalen, verzeichnen für das Jahr 1003, der ungarische König Stephan habe „das Land von König Gyula mit Gewalt zum christlichen Glauben gezwungen”. Das in Ostungarn seit etwa 950 wirkende griechische Missionsbistum war in einem halben Jahrhundert, bis 1003, noch nicht so weit gekommen, den größeren Teil der Bevölkerung zum Christentum zu bekehren. Dabei hätte die byzantinische Kirche, in der das System des Cäsaropapismus in Geltung war, auch die Kraft des byzantinischen Staates einsetzen können.

Eine auf griechischen Ursprung zurückgehende slawische Quelle deckt mit überraschender Offenheit die Gründe für die Erfolglosigkeit der griechischen Mission auf: Nachdem Gyula, der in der Taufe den Namen Stephan erhalten hatte, „im wahren christlichen Glauben” gestorben war, „stürmten von Osten, Norden und Süden zahlreiche Völker hervor, von da an brach viel Aufruhr und Verwüstung über das Reich der Griechen herein, so dass sie dieses Peonenvolk [die Ungarn] nicht sobald im christlichen Glauben bestärken konnten. (...) Als die Latiner die für sie günstige Schwächung der Griechen sahen, haben sie die Peonen, (...) aus Rom aufbrechend, (...) zu ihrem gottlosen Glauben gezwungen.” Also hatte Byzanz in den kritischen Jahrzehnten, in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, nicht die erforderliche staatliche Kraft aufbringen können, um der griechischen Mission im Karpatenbecken Nachdruck zu verleihen. Die historischen Umstände bestätigen vollinhaltlich diese Nachricht, denn die byzantinischen Kaiser dieser Periode führten ihre Kriege zumeist im Süden und Osten (in Kleinasien, Syrien, Palästina, Armenien und Abchasien), während im Norden all ihre Kräfte durch den jahrzehntelangen bulgarischen Krieg gebunden waren.

Keineswegs größeren Erfolg hatte auch die Bekehrungsaktion, die sich von Westen her (im lateinischen Ritus) auf den Stammesstaat der Arpaden im Westteil des Karpatenbeckens richtete. Dieser mit großem Schwung auf persönliche Anweisung Kaiser Ottos I. 972 begonnenen Unternehmung ging schon nach wenigen Jahren die Luft aus. Auch hier endeten die Entwicklungen damit, dass Fürst Geysa einen Missionsbischof erhielt, der ihn, die Mitglieder des Hofes und die Großen taufte, aber beim Volk ergebnislos blieb. Geysa war in der ersten Begeisterung aus politischer Berechnung zum eifrigen Anhänger des Christentums geworden. Als er aber sah, dass die Verhältnisse seinen Eifer keineswegs begründeten, liess dieser nach. Noch war sein Bischof bei ihm, als er sich schon wieder dem heidnischen Glauben zuwandte. Eine zeitgenössische Quelle, Thietmar von Merseburg, verzeichnete, Geysa habe „dem allmächtigen Gott, aber auch eitlen Gebilden [anderer] Gottheiten geopfert, und als ihm von seinem Prälaten deswegen Vorwürfe gemacht wurden, von sich behauptet: er sei reich und mächtig genug, dass er das tun könne”. Der Missionsbischof, seines Arbeitsfeldes verlustig gegangen, verließ Geysas Hof, und so nimmt es nicht wunder, dass man 985, erstmals seit Jahrzehnten, nun schon vom Stammesgebiet der Arpaden aus, ins Deutsche Reich einfiel, nämlich ins Gebiet jenes Passauer Bistums, aus dem um 972 ebenfalls Missionare ins Karpatenbecken gekommen waren. Wie wenig Ergebnisse die 972 begonnene westliche Mission erzielte, belegen zwei Umstände. Einerseits haben wir zwischen 974 und 996, also fast ein Vierteljahrhundert hindurch, keine einzige Angabe darüber, dass im Westteil des Karpatenbeckens eine lateinische Mission stattgefunden habe. Andererseits steht uns gleichsam als Kronzeuge Bruno von Querfurt zur Verfügung, der zwischen 1003 und 1008 jahrelang in Ungarn weilte und berichtet, in Westungarn habe unter Leitung Sarolts, der Ehefrau von Geysa und der Tochter des Gyula, „der christliche Glaube begonnen, aber die beschmutzte Religion vermischte sich mit Heidentum, und dieses untätige und schlaffe Christentum begann schlimmer zu werden als das Barbarentum”.

Demnach gab es am Beginn des 11. Jahrhunderts niemanden in Brunos dortiger Umgebung, der sich an die 972 begonnene, aber kurz danach steckengebliebene westliche Mission erinnerte. Darüber müssen wir uns auch nicht wundern, denn damals war keine einzige kirchliche Einrichtung entstanden, weder ein Bistum mit festem Sitz, noch eine Benediktinerabtei, während das Missionsbistum mit dem Fortgang des Bischofs erloschen war. Sarolt, Geysas Frau und zugleich die Tochter des in Konstantinopel zum orthodoxen Glauben bekehrten Gyula, begann in den 980er Jahren in Westungarn den Glauben im östlichen Ritus zu verbreiten, und die Erinnerung daran hatte sich schon deshalb bis zur Missionierung Brunos von Querfurt am Beginn des 11. Jahrhunderts nicht verflüchtigt, weil zumindest **?**eine**/?** kirchliche Institution, das griechische Nonnenkloster Wesprimtal, an Sarolts Aktion erinnerte. Natürlich konnte die in Ostungarn recht kraftlose Ostkirche in Westungarn ebenfalls keine nennenswerten Erfolge verbuchen. Sarolt selbst war ja auch eher noch eine Nomadenfürstin als eine nach christlichen Prinzipien lebende Gläubige. Thietmars Kenntnissen nach hat Sarolt unmäßig getrunken, ist wie ein Krieger geritten und hat auch getötet.

Ebenfalls nicht überbewerten dürfen wir die staatlichen Beziehungen, die zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Stammesstaat der Arpaden, also Geysa, bestanden oder eher bestanden haben sollen. Fakt ist, dass zu Ostern 973 zwölf ungarische Große am Quedlinburger Hof Ottos I. weilten, in Gesellschaft anderer mittel- und osteuropäischer Herrscher und ihrer Beauftragten. Worüber sie verhandelten und sich einigten, wissen wir nicht. Es ist auch nur eine Vermutung, dass dieses Dutzend ungarischer Vornehmer die Vertreter Geysas waren. Jedenfalls bildeten sie Anfang und Ende der Beziehungen in einem. Otto I. starb wenige Wochen nach dem Quedlinburger Reichstag, sein Sohn Otto II. zeigte sein Leben lang und sein Enkel Otto III. bis 996 keinerlei Interesse am Karpatenbecken. Ähnlich abweisend gegenüber dem Reich zeigten sich die Ungarn. Es ist bezeichnend, dass man bei den während der Kindheit Ottos III. von seiner Mutter Theophanu regelmäßig abgehaltenen Osterversammlungen in Quedlinburg kein einziges Mal Ungarn begegnet, obwohl dort auch Ausländer erschienen.

Anzeichen einer augenscheinlichen Änderung setzen 996 ein. Nach Jahrzehnten der Abschließung und Unbeweglichkeit begannen sich von da an die Ereignisse im Karpatenbecken zu überschlagen, und sie führten hin zur zweiten ungarischen Staatsgründung. Die Initiative ist dem Bischof von Prag, dem Hl. Adalbert, zuzuschreiben, der – wie wir von seinem Gesandten, Bruno von Querfurt wissen – „zuweilen Gesandte schickte, zuweilen aber selbst zu den in der Nähe befindlichen Ungarn ging und ihnen, nachdem er sie ein wenig von der Sünde fortgeführt hatte, das Zeichen des Christentums aufdrückte”. Demnach war Adalbert fast der einzige in der lateinisch-christlichen Welt, der sich schon vor 996 mit den Ungarn zu beschäftigen begann, was durch die geographische Nähe Prags zu Esztergom gefördert wurde. Bruno von Querfurt gesteht ehrlich ein, dass Adalbert als Missionar in Westungarn wenig Erfolg hatte, aber aus anderen Quellen wissen wir, dass ihm die Taufe von Geysas Sohn Vajk (dem späteren Stephan der Heilige) zu verdanken ist. Und während seiner Besuche in Esztergom hat Adalbert als zeitweiser Erzieher Stephans großen Einfluss auf diesen gehabt. Obwohl durch keine Quelle belegt, ist es eine starke Hypothese, dass Adalbert die 996 geschlossene Ehe Stephans mit der bayerischen Herzogin Gisela angeregt und zustande gebracht hat.

Mit Gisela traf ein großes Gefolge aus Bayern ein, bestehend aus Priestern und Rittern. Die Priester begannen in dem im Wesentlichen heidnischen Landesteil, dem Stammesstaat der Arpaden, mit der Bekehrung der Bevölkerung zum christlichen Glauben, während Stephan die Ritter binnen kurzer Zeit sehr nötig brauchte. Auf Giselas Initiative hin wurden die Grundlagen für das erste an einen Sitz gebundene lateinische Bistum im Karpatenbecken gelegt, für das Bistum Veszprém. Es könnte Adalbert gewesen sein, der Otto III. auf die Ungarn aufmerksam machte, ja überhaupt die Aufmerksamkeit des 996 zum Kaiser gekrönten Herrschers auf den mitteleuropäischen Raum lenkte. Zu dieser Zeit kamen viele von Adalberts Mitarbeitern und Schülern aus Böhmen nach Ungarn, sie gründeten ebenfalls 996 das Benediktinerkloster St. Martinsberg, die erste Ordensgemeinschaft im lateinischen Ritus in Ungarn. Als Fürst Geysa 997 starb und sich der heidnisch eingestellte Koppány gegen dessen designierten Nachfolger Stephan erhob, hatte Stephan bereits nicht mehr nur die schwerbewaffneten Ritter aus Giselas Gefolge zur Verfügung, sondern es gibt Anzeichen dafür, dass Otto III. reguläre deutsche Truppen Stephan zu Hilfe schickte. Während das Byzantinische Reich Gyula und dann seinem Sohn gleichen Namens und ebenfalls Fürst von Siebenbürgen keine wirksame Unterstützung gewährte, haben das Deutsche Reich und die westliche lateinische Welt Stephan nach 996 auf tausenderlei Weise ihre Hilfsbereitschaft zum Ausdruck gebracht.

Ein symbolträchtiges Zeichen dafür war die aus Gnade und auf Ermunterung Kaiser Ottos III. hin durch Papst Silvester II. an Stephan gesandte Krone. Den Zeitpunkt dieser Kronenübersendung legte die ungarische Tradition bereits im Mittelalter auf die Jahreswende 1000/1001, also nach heutigen Begriffen auf den Tag der Jahrtausendwende, aber im Spiegel der Quellen ist es eher wahrscheinlich, dass sie im Frühjahr 1001 geschah. Mit dem Erhalt der Krone gewann Stephan eine neue, christliche Legitimation seiner Macht; mit diesem Akt war das christliche Königreich Ungarn geboren. Zur Verwirklichung dessen, was wir als Staat verstehen, war es eigentlich mit der Krönung, also nach 1001 gekommen. Von da an befand sich Stephan in der Lage, mit Unterstützung durch seine Ehefrau, durch die ihm eng verbundenen Fremden, überwiegend Deutsche, und die kleine Zahl einheimischer Anhänger mit dem Ausbau des ihrem Willen entsprechenden Machtsystems zu beginnen, indem er Zwangsgewalt über große Menschengruppen anwendete.

Dies ging auf zwei Ebenen vor sich. Einerseits begann er in den von seinem Vater geerbten westungarischen Gebieten sofort mit dem Ausbau der neuen Ordnung. Hier schuf er 1001 das Erzbistum Esztergom (Gran) sowie das Bistum Gyõr (Raab). Das Christentum westlichen Ritus diente als Mittel zur ideellen Homogenisierung. Stephan begann mit der Organisierung der Verwaltung, womit er statt der Blutsbande das Territorium zum Organisationsprinzip der Gesellschaft machte. 1009 bestanden schon mindestens fünf Komitate in Transdanubien. Er schuf Gesetze, die er schriftlich festhalten ließ, wobei er nicht verhehlte, dass er darin frühere und neue Kaiser kopierte. Wie Untersuchungen des Textes ergaben, haben in diesem tatsächlich fränkische Gesetzgebungen und westliche Synodalbeschlüsse ihre Spuren hinterlassen. In seinem Gesetz erklärt er die Unverletzlichkeit des Privateigentums, die als Grundprinzip seiner neuen Staatseinrichtung diente. Er begann die Freien zu unterdrücken und die Untertanen zu besteuern. Er ließ Geld prägen, worin sich ein kräftiger deutscher Einfluss bemerkbar machte. 1002 stellte er seine erste Urkunde für das Benediktinerkloster St. Martinsberg aus, die ein deutscher kaiserlicher Schreiber verfasst hatte.

Andererseits begann er parallel damit seinen „langen Marsch”, um seine faktische Oberhoheit auf sämtliche Stämme auszudehnen, die das einstige Ungarische Fürstentum gebildet hatten. Diese Stämme und Stammesstaaten waren bis zur Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert praktisch völlig unabhängig vom König geworden. Paradoxerweise wurde Stephan gerade zu einer Zeit König, als er seine wirkliche Herrschaft nur in einem kleinen Teil des Karpatenbeckens ausüben konnte. Sein Königtum diente ihm als Instrument, seine Macht mittels Waffen oder friedlicher Verhandlungen auf das ganze Karpatenbecken auszudehnen. 1003 führte er Krieg gegen den siebenbürgischen „König” Gyula, danach gegen den südsiebenbürgischen Keán, 1008 gegen die schwarzen Ungarn in Südosttransdanubien und 1028 gegen Ajtony im Maroschgebiet (offensichtlich mit wirksamer deutscher Beteiligung), und mit den in der Mitte des Landes regierenden Samuel Aba und Vata schloss er Abkommen.

Was Stephan in seinem Herrschaftsgebiet in Westungarn erprobt und gestaltet hatte, übertrug er auf die Gebiete der besiegten oder gewinnenden Stammesführer. So wurden dort die Bistumsorganisation, das als Verwaltungsrahmen dienende Komitat, die Verfügungen der Stephanschen Gesetze und die Münzen verschiedener Prägungen eingeführt. Den Prozess, der sich den schriftlichen Quellen der ungarischen Staatsgründung entnehmen lässt, kann das archäologische Material gerade dort nicht belegen, wo man dies bisher vermutete (z. B. mit der Verbreitung der zweischneidigen Schwerter). Dafür kann man ihn anhand all dessen darstellen, was zur bis heute nicht vergangenen dinglichen Hinterlassenschaft gehörte, also durch die Freilegung der als Zentren der Komitate dienenden Holz-Erd-Burgen sowie der aus Stein errichteten kirchlichen Institutionen (Kirchen, Klöster), durch Stephans Münzen usw.

Die Ungarn sind unter ihren Sprachverwandten das einzige Volk uralischer (finnougrischer) Sprache, das zu Reiternomaden wurde, und zugleich das einzige Volk auf der Welt, das unter den Steppennomaden unter Bewahrung seiner Sprache einen (Feudal-) Staat europäischen Typs errichtete. Diese Formulierung ist so allerdings ungenau, weil der Nomade – wie man im Besitz reicher historischer Erfahrungen behaupten kann – nur einen Nomadenstaat zustande bringen kann und keinen Staat europäischen Typs. Den Widerspruch können wir damit auflösen, dass wir erklären: Stephans Staat haben nicht die nomadischen oder ihr Nomadentum gerade aufgebenden Urenkel der landnehmenden Nomaden geschaffen. Das weltgeschichtliche Kuriosum der Ungarn konnte nur dadurch zustande kommen, dass die nomadische ungarische Führungsschicht bzw. einzelne ihrer Nachkommen dem Feudalismus europäischen Typs und den Vertretern des mit ihm Hand in Hand gehenden Christentums lateinischen Ritus begegnen mussten. Die Frucht der Hochzeit beider – im übertragenen Sinne der Ehe Stephans und Giselas – war der ungarische Staat europäischen Typs. Enorm stark darin waren die deutschen Einflüsse, ähnlich wie einst die chazarischen Impulse beim Zustandebringen des Ungarischen Fürstentums. Das war der ungarischen Tradition im Mittelalter auch bewusst, hat man doch, laut einer Stelle in der ungarischen Chronik, auf der Deutschen „Rat hin und mit ihrer Hilfe über die Ungarn einen König gesetzt, viele ungarische Adelige wurden in hässliche Knechtschaft gestoßen, die sich dem Stammesführer Koppány angeschlossen und die Taufe und den Glauben verweigert hatten”. Dabei vermochte der ungarische Staat seinen spezifisch ungarischen Charakter und abgesehen von ganz kurzen Perioden seine Unabhängigkeit zu bewahren.

Der hier gegebene Überblick mag als Beweis dafür dienen, dass der ungarische Staat nicht nach einer langen Austragezeit aus dem Schoß der Gesellschaft schlüpfte, sondern durch von oben ergangene – auf deutsche Anregung hin, von Deutschen und Ungarn befohlene – Maßnahmen geschaffen wurde. Dies erklärt, dass es im 10. Jahrhundert keine Vorereignisse des (feudalen) ungarischen Staates europäischen Typs gibt, da nicht die früheren Verhältnisse einen Staat zum Ergebnis hatten, sondern der Staat die von ihm für notwendig gehaltenen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ideologischen Verhältnisse selbst geschaffen hat. Dieser Umstand hat seinen Abdruck auch auf der späteren ungarischen historischen Entwicklung hinterlassen, denn die den Staat verkörpernde königliche Macht war im ganzen 11.–12. Jahrhundert selbst unter ostmitteleuropäischen Verhältnissen unerhört stark und übergewichtig, weswegen die feudale Aufgliederung (diese so spezifische Begleiterscheinung der feudalen Entwicklung) in Ungarn lange Zeit nicht wirklich zum Zuge kam und die Gesellschaft erst relativ spät damit beginnen konnte, sich selbst zu organisieren.