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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 14:21–38.

PETER HANS NELDE

Mehrsprachigkeit in Europa

Überlegungen zu einer neuen Sprachenpolitik

 

Auf eine perspektivische Einordnung von Mehrsprachigkeit folgt anhand von fünf Thesen eine Darstellung der Problematik einer europäischen Sprachenpolitik im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Integration und nationalstaatlichem Selbstverständnis, wobei auf die Forderung der vierten These – die Europäisierung der Sprachenpolitik – etwas ausführlicher eingegangen wird, um Strategien der Konfliktvermeidung zu diskutieren, die sich in mehrsprachigen Ländern bereits bewährt haben und als Ausgangspunkt einer Debatte zur europaweiten Konfliktneutralisierung stehen könnten. In den anschließenden Schlussfolgerungen und dem Versuch einer Neubewertung sprachpolitischer Faktoren werden Wege aufgezeigt, die Anregungen geben, inwieweit auch unsere Disziplin, die Kontaktlinguistik, zur sprachpolitischen Konfliktanalyse in einer erweiterten Union beitragen kann.

Es hieße Eulen nach Budapest tragen, wenn aus Brüsseler Perspektive versucht würde, zu Anfang des Millenniums ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit zu halten. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität begegnen uns hier im Alltag in unzähligen Situationen. Neu ist, dass auch die offizielle Sprachplanung der Europäischen Union in Brüssel die unausweichliche Interdependenz von Politik, Wirtschaft, Medienkultur und Sprache (erst) in den neunziger Jahren erkannt hat und sich mit der Gründung eines „Ministeriums” (der Generaldirektion XXII) ein Instrument der Sprachenpolitik geschaffen hat, das Brennpunkte dieser Thematik – teilweise sehr erfolgreich – zu bewältigen sucht. So gehören der grenzüberschreitende Akademikeraustausch (Sokrates, Erasmus, Tempus etc.) und die in historisch und sozioökonomisch bedingte Konflikte verwickelten bodenständigen Minderheiten (die in der EU-Diktion sogenannten „weniger verbreiteten Sprachen”) zum Aufgabenbereich dieser Amtsstelle. Eine längst fällige, gründliche Analyse dieser Minderheitssprachen zur „Produktion und Reproduktion der Minderheiten-Sprachgemeinschaften in der Europäischen Union” aus dem Jahr 1995 unter dem Titel „Euromosaic” bereicherte und ergänzte die kontaktlinguistische Forschung um wesentliche Aspekte. Damit haben Sprachplanung und Sprachpolitik – nunmehr auch nach außen sichtbar – Eingang in die Kulturplanung der Unionsmitglieder gefunden.

Neu dürften, zu Anfang dieses Jahrhunderts, zudem einige kontaktlinguistische Perspektiven sein, die sich auf die Mehrsprachigkeit des neuen Jahrhunderts auswirken könnten:

1. Mehrsprachigkeit ist nicht länger eine Ausnahmeregelung für sprachlich gemischte Staaten Europas, sondern wird – ähnlich wie in vielen Regionen Asiens und Afrikas – Allgemeingut und manchmal sogar bereits selbstverständlich.

2. Während man in der soziolinguistischen Literatur der Nachkriegszeit noch überwiegend von der Annahme ausging, dass Minderheiten, die zweisprachig (etwa durch Assimilation) werden, Gefahr laufen, ihre Muttersprache zu verlieren, dient Mehrsprachigkeit heute in sprachlichen Übergangs- und Minderheitsgebieten häufig als wirtschaftlicher und beruflicher Motor, um den Lebensstandard zu erhöhen (grenzüberschreitender Verkehr, die Rekrutierung von Translationsberufen in Sprachgrenzgebieten, supranationale Arbeitgeber).

3. Wirtschaftsfaktoren wie Globalisierung, die offensichtlich die großen Sprachen fördern, sind nicht denkbar ohne starke Regionalisierungsbestrebungen, die den kleinen und mittleren Sprachen in einem mehrsprachigen Kontext auf allen Ebenen zahlreiche neue Überlebenschancen vermitteln, weshalb des Weiteren auch der Begriff „Glokalisierung” (Globalisierung plus Lokalisierung bzw. Regionalisierung) verwendet wird.

4. Die jüngsten Entwicklungen haben von der jahrzehntealten Dauerdefensivhaltung kleiner und kleinster Sprachen zu einem neuen Argumentationsverständnis geführt, das die Vorteile des mehrsprachigen Minderheitssprechers hervorkehrt und im neuen europäischen Diskurs betont und damit in die Offensive geht: Der mehrsprachige Kleinstsprachensprecher muss seine Identität nicht mehr verleugnen und sich ausschließlich den Prestigesprachen anpassen, sondern sein Widerpart, der Einsprachige, hat häufig mehr Schwierigkeiten als in der Vergangenheit, in einem vielsprachigen und multikulturellen Europa seine Ansichten monodirektional, d.h. einsprachig durchzusetzen.

 

Erste These:
Kontaktlinguistische Modelle eignen sich in besonderer Weise zur Darstellung der Multidisziplinarität von Mehrsprachigkeitsphänomenen

Kontaktlinguistik ist per definitionem multidisziplinär, erfasst Sprachkontaktphänomene unterschiedlichster Art (sprachliche und außersprachliche) und trägt zur Konfliktanalyse und -lösung bei (H. Goebl, P. H. Nelde e.a., Kontaktlinguistik I, 1996).

Vier kontaktlinguistische Voraussetzungen scheinen uns bei der Behandlung von Sprachkonflikten und deren Neutralisierung von Bedeutung:

Es gibt keinen Kontakt zwischen Sprachen, sondern nur zwischen Sprechern und Sprachgemeinschaften (H. Haarmann 1980, E. Oksaar 1980). Dadurch wird die Vergleichbarkeit von ein und derselben Sprache in unterschiedlichen Kontexten (z. B. Italienisch in Slowenien und in der Schweiz) weitgehend eingeschränkt. Sicherlich tragen diese multikausalen Konflikte unterschiedlichste Formen – vom offenen Ausbruch von Feindseligkeiten (Kosovo 1998) bis zur Sublimierung subkutaner Konflikte in nach Harmonie strebenden sozialen Gruppen (Skandinavien). Eine der Hauptursachen für die Konfliktträchtigkeit aller Arten sprachlicher Gemeinschaften liegt in der Asymmetrie jeglicher Form von Mehrsprachigkeit. Es gibt auf dieser Welt keine kongruenten Sprachgemeinschaften, die die gleiche Zahl von Sprechern haben, deren Sprachen das gleiche Prestige aufweisen, deren Sozialprodukt identisch und deren Lebensqualität vergleichbar ist. Deshalb ist Kontakt ohne Konflikt nur schwer nachzuweisen.

Auch wenn die Aussage, es gäbe keinen Sprachkontakt ohne Sprachkonflikt („Nelde’s Law”: K. de Bot, Recent Studies in Contact Linguistics, 1997) übertrieben erscheinen mag, so ist im Bereich der europäischen Sprachen gegenwärtig keine Kontaktsituation denkbar, die sich nicht auch als Sprachkonflikt beschreiben ließe. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch Mattheiers Aussage zu Sprachkonflikten unter monolingualen Sprechern (K. Mattheier 1984).

Die Kontaktlinguistik sieht Sprache gewöhnlich als wesentliches Sekundarsymbol für zugrundeliegende (primäre) Konfliktursachen sozioökonomischer, politischer, religiöser oder historischer Art. Hierdurch erscheint der Sprachkonflikt gewissermaßen als das „kleinere Übel”, da sich in vielen Fällen Sprachkonflikte offensichtlich leichter korrigieren und neutralisieren lassen als primär sozioökonomische, soziopolitische und andere, außersprachlich bestimmte Konflikte. Politisierung und Ideologisierung des Faktors Sprache führen zu zahlreichen Konflikten, bei denen Sprache oft als nebensächlich erscheint, jedoch leicht als Sekundarsymbol eingesetzt werden kann. Die Reihe der Beispiele im gegenwärtigen Ost- und Südosteuropa ist endlos: Bosnien-Herzegowina: Wird neben dem erst 1992 aufgegebenen Serbokroatisch und den Nachfolgesprachen Serbisch und Kroatisch eine Sprache „Bosnisch” oder – im gegenwärtigen Jugoslawien – „Montenegrinisch” entstehen? Moldawien: Ist die Einheit eines Staates aufrecht zu erhalten, wenn das Land durch die gleiche Sprache getrennt wird und zwar in unterschiedliche Alphabete (lateinisch und kyrillisch) und eine (noch) unterschiedliche Lexik? Weißrussland: Kann eine Sprache wie Weißrussisch in einem jungen Staat überleben, wenn nur noch 10 Prozent der Schuljugend auf Weißrussisch unterrichtet wird?

Die Kontaktlinguistik macht nicht nur deutlich, dass Konflikte nicht ausschließlich negativ beurteilt werden sollten, sondern weist zugleich nach, dass aus Konflikten neue Strukturen entstehen können, die – gerade im Falle der Minderheitssprecher – günstiger sein können als die vorhergehenden.

 

Zweite These:
Sprachkonflikte in Europa haben nicht nur historischen Charakter, sondern werden von europäischen Sprachpolitikern bereits für die Zukunft vorprogrammiert

Es gibt neben den traditionellen Sprachkonflikten mit historischen Bezügen die gegenwärtigen – häufig sozioökonomisch bestimmten – Konflikte zwischen Migranten und einheimischer Bevölkerung, zwischen Autochthonen und Allochthonen, die für oder gegen ihre Assimilation, Integration etc. kämpfen. Hier handelt es sich um „natürliche” Konflikte, die ich von den „künstlichen” und durch die Schaffung neuer (sprach)politischer Strukturen selbst erzeugten Konflikten unterscheiden möchte. Gerade letztere führen zu einem Vergleich des alten Babel mit dem modernen Brüssel: 4000 Übersetzer und Dolmetscher, die im Europa der Europäischen Union in – augenblicklich – elf Amts- und Arbeitssprachen arbeiten, häufig beeinflusst und bedrängt von ein paar Dutzend Minderheitssprachen, von denen viele verschwinden, aber auch neue entstehen werden (Tornedal, Kroatisch), die um ihr Überleben kämpfen. Fast ein Zahlenspiel: Wenn es zehn Möglichkeiten gibt, elf Sprachen zu verwenden, dann ergeben sich daraus 110 Kombinationen, eine Vielzahl, die der flämische Maler Pieter Breughel bei der Anfertigung seines berühmten Gemäldes „Der Turmbau zu Babel” (Wien, Kunsthistorisches Museum) wohl noch nicht berücksichtigen konnte, da sein Gebäude nicht die ausreichende Zahl von Simultandolmetscherkabinen (auf dem Gemälde als Fensterhöhlen dargestellt) enthält, die die gegenwärtige EU-Kommission bei der Berücksichtigung aller Amtssprachen benötigt. Es dürfte deutlich sein, dass auch die Schaffung eines einheitlichen Europas keine Lösung für natürlich gewachsene oder künstlich geschaffene Konflikte garantiert.

Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich demnach an, da Alternativen zurzeit kaum diskutiert werden?

Die Einführung einer Plansprache (Esperanto, Gebärdensprache) etc.,

– die Übernahme einer starken internationalen Verkehrssprache als Lingua franca (Englisch),

– die Bevorzugung von wenigen Hauptsprachen (z. B. Deutsch, Französisch und Englisch),

– die Beibehaltung des Status quo (11 Amts- und Arbeitssprachen).

Kann der gegenwärtige Zustand (Lösungsmöglichkeit 4), d.h. die Akzeptanz der Sprachenvielfalt weiter ausgebaut und fortgesetzt werden? Zur Vermeidung babylonischer Verhältnisse werden sicherlich Einschränkungen der Sprachenfreiheit im Blick auf die zu erwartende Ausdehnung gen Osten in Kauf genommen werden müssen. Die Erweiterung der EU wird das Schema der fast automatischen Anerkennung von Nationalsprachen als Gemeinschaftssprachen durchbrechen und statt der vierten Lösung die dritte oder eine weitere ins Gespräch bringen müssen.

Die Schwierigkeiten bei der Förderung und Betreuung von Minderheitssprachen durch die eingangs erwähnte Stelle der Europäischen Kommission, bei der Sprachenpolitik für die kleineren Sprachen und mit den europäischen Minderheiten bereits betrieben wird, zeigt, wie delikat und hindernisreich jegliches Engagement einer politischen Instanz sich gestaltet.

Es gibt weder eine Einigung über die Zahl der Minderheitssprachen und -sprecher in der Europäischen Union (40–50 Minderheiten in Abhängigkeit von unterschiedlichen kontaktlinguistischen Definitionen mit 20 bis 60 Millionen Sprechern bei 380 Millionen Einwohnern – Schätzungen und Berechnungen sprachpolitischer Instanzen der EU zufolge), noch über ihre Bezeichnung (etwas hilflos und künstlich klingt der Terminus lesser used languages), die allerdings im Französischen zu den terminologisch keineswegs deckungsgleichen langues moins répandues mutieren), noch über gemeinsame sprachpolitische Richtlinien dieser – wegen ihrer historisch gewachsenen Sozialstrukturen wohl unvergleichlichen – Sprachgemeinschaften. Ohne die beispielhafte Zurückhaltung der meisten Minderheitensprachpolitiker wären neue „künstliche” Konflikte kaum vermeidbar.

 

Dritte These:
Das neue Millennium stellt erhöhte Anforderungen an die Sprecher, sich stärker als in der Vergangenheit in Richtung einer „neuen Mehrsprachigkeit” zu bewegen.

Das Experiment der Europäischen Union, elf Amts- und Arbeitssprachen anzuerkennen und einzusetzen ist in der Geschichte der Menschheit einmalig und hat bereits seit der Einführung dieser Elfsprachenstruktur 1995 Früchte abgetragen. Sprachliche und kulturelle Diskriminierung hat im Bereich der Union seither eher ab- als zugenommen.

Zu den fehlenden politischen Vorbildern eines neuen Europa kommt eine Reihe von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungstendenzen, die die Notwendigkeit einer „Neuen Mehrsprachigkeit” im Blick auf das kommende Jahrhundert noch unterstreichen:

1. Die Bedeutung der Nationalstaaten und die Souveränität ihrer Regierungen hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Nationalstaatliche Befugnisse in den meisten gesellschaftlichen Domänen wurden von Brüssel bzw. Straßburg oder Luxemburg übernommen, wodurch die Zuständigkeiten der EU-Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen reduziert wurden.

2. Neoliberalismus und Internationalisierung begünstigten Tendenzen der Globalisierung, die die spezifisch nationalen wirtschaftlichen und kulturellen gesetzgeberischen Möglichkeiten der Einzelstaaten weiterhin aushöhlten und ihre Wirksamkeit verringerten.

3.Dabei zeigt ein Blick auf die sprachlich-kulturelle Entwicklung in Asien und Afrika, dass sich dort aufgrund der schnelleren Verjüngung – im Vergleich zu Europa und den USA – der demographischen Bevölkerungspyramide, aber auch des hohen Grades der Selbstverständlichkeit des Mit- und Nebeneinanders mehrerer Sprachen und Kulturen die Mehrsprachigkeit weltweit als „Normalfall” darstellt und Einsprachigkeit zur Ausnahme wird.

Demnach lässt sich die Neue Mehrsprachigkeit unter 7 Stichworten zusammenfassen:

1. Internationalisierung (grenzübergreifend)

2. Telekommunikation/Neue Medien/Telematik (Chancen für kleine Sprachen)

3. Neoliberalismus (Firmensitze sind nationalstaatlich schwer zuzuordnen; das Mercedes-Benz-Fahrzeug Smart wird im zweisprachigen Lothringen, nicht mehr in Deutschland hergestellt; made by Siemens, made by Bosch etc. ersetzt das ehemalige Qualitätssignum made in Germany)

4. Glokalisierung (Multiidentität der Europäer: domänenhafte Zuordnung zu regionalen und überregionalen Identitäten – beispielsweise vom Wiener über den Niederösterreicher zum Österreicher und Europäer; Spannung zwischen regional- und suprastaatlichen Organisationen innerhalb der EU)

5. Bildungspolitik (Sprachpolitik als trennendes und Wirtschaftspolitik als vereinendes Element; Sprachpolitik entpuppt sich stets mehr als Bildungspolitik)

6. Subsidiaritätstendenz (sprachpolitische Entscheidungen auf der untersten möglichen politischen oder kulturellen Ebene)

7. Reduktion der nationalstaatlichen Macht durch Wirtschafts- und Politikzwänge (erhebliche Machteinbuße der Regierungsverantwortlichen in den EU-Ländern und Machtübertragung auf supranationale Instanzen wie die Europäische Kommission)

Die Neue Mehrsprachigkeit Europas lässt sich mithilfe einiger Fakten wie folgt einteilen: Gesamteuropa spricht mehr als 100 Sprachen (Europa I); in der Europäischen Union werden neben den elf Amts- und Arbeitssprachen noch ca. 45 Minderheitssprachen gesprochen, also insgesamt mindestens 56 autochthone Sprachen (Europa II); nach der voraussichtlichen Erweiterung in Richtung Osten und Südosten wird die EU vermutlich mehr als 70 autochthone Amts- und Minderheitssprachen umfassen (Europa III).

Wenn überhaupt, dann kann ein solch unübersichtliches Knäuel von Sprachen und Kulturen, bei dessen zahlenmäßiger Schätzung die millionenstarken allochthonen Gruppen für diesen Fall unberücksichtigt bleiben, nur von einer ausgereiften Sprachenplanung und Sprachenpolitik administrativ – stets im Einvernehmen mit dem europäischen Bürger – bewältigt werden. Zu diesem Zweck müssen jedoch erst einmal zwei sprach- und kulturpolitische Hindernisse beiseite geräumt werden, die sonst zu interkulturellen Missverständnissen führen könnten:

1. Terminologie

Das Englische unterscheidet zwischen language planning, language policy und language politics wie im übrigen auch einige andere europäische Sprachen (vgl. die Dreiteilung im Niederländischen taalplanning, taalbeleid und taalpolitiek), wobei der mittlere und für eine europäische Sprachenpolitik wohl entscheidende Begriff keine Entsprechung im Deutschen hat, das neben der Sprachplanung nur die Sprachpolitik kennt. Das Französische hat das hierarchische Element (planification linguistique) zur Seite geschoben und befleißigt sich eines überzeugenden Begriffes (l’aménagement linguistique), der in Anlehnung an moderne demokratische, aber auch ökolinguistische Ideen den sprachlichen Haushalt zum Inhalt hat. Da jedoch Englisch, Französisch und Deutsch innerhalb der EU-Mehrsprachigkeit primi inter pares und entscheidend für den Ausbau einer zukünftigen gemeinsamen Sprachenpolitik sind, fallen die Diskrepanzen in der Benennung unserer Thematik besonders ins Auge.

2. Konzeptualisierung

Die beiden ersten kontaktlinguistischen Analysen kleiner Sprachgemeinschaften in der EU (Euromosaic I, 1995; Euromosaic II, 1998; die sich noch im Planungsstadium befindliche Analyse Euromosaic III voraussichtlich 2001) haben uns deutlich vor Augen geführt, dass es bis heute kein gesamteuropäisches Konzept, nicht einmal eine gesamteuropäische Vision in Bezug auf das sprachlich-kulturelle Zusammenleben der 15 Unionsländer gibt, ja eigentlich auch nicht geben kann, da einer einheitlichen Sichtweise zwei unterschiedliche Konzeptualisierungen im Wege stehen, die sich nur schwer miteinander verbinden oder gar verschmelzen lassen: Während eine Gruppe von Staaten sprachpolitisch einem zentralistischen Konzept (Beispiel: Frankreich) zuzuordnen sind, haben sich einige föderal regierte Staaten für das Subsidiaritätsprinzip (Beispiel: Deutschland) entschieden, während wiederum andere Staaten (Beispiel: Großbritannien mit neuerdings einer Tendenz zur Subsidiarität) Mischformen beider Prinzipien kennen.

Diese unterschiedliche Konzeptualisierung ist von großer Bedeutung, weil sprachpolitische Entscheidungen bei Anwendung des zentralistischen Prinzips, – erstens – abhängig sind von der Existenz einer nationalen (Sprach-)Gesetzgebung, die – zweitens – hierarchisch, auf dem Verwaltungswege, von „oben” nach „unten” durchgeführt wird.

Beim Subsidiaritätsprinzip fehlt dagegen häufig die „obere” Gesetzgebungsebene (Beispiel: Deutschland und Belgien haben keine nationalen Kultusminister) und damit auch die entsprechenden nationalen Gesetze und Erlässe, stattdessen werden sprach- und kulturpolitische Entscheidungen auf der untersten möglichen Ebene getroffen (Gemeinde, Region, Land).

Aufgrund dieser beinahe gegenläufigen Konzeptualisierung ist eine zentrale Sprachenpolitik der EU aus Brüsseler Sicht, die die Besonderheiten der historisch begründeten und gewachsenen Strukturen nicht berücksichtigt, kaum denkbar.

 

Vierte These:
Erfolgreiche subsidiäre Sprachenpolitik in der Europäischen Union im Blick auf eine Konfliktneutralisierung muss „europäisiert” werden, das heißt integraler Teil einer europäischen Sprachenpolitik werden

Welche Konzepte haben mehrsprachige Staaten in Europa entwickelt und welche von ihnen haben in mehrsprachigen Sprachgemeinschaften zu einem friedlicheren Miteinander geführt? Trotz einer zum Teil völlig unterschiedlichen Ausgangslage lassen sich einige gemeinsame Konzepte herausarbeiten, zu denen Länder wie Belgien, Luxemburg aber auch die Schweiz und die in diesen Ländern verwendeten Konfliktvermeidungsstrategien in besonderer Weise beigetragen haben.

1. Das Territorialprinzip

Die Anwendung des Territorialprinzips (beispielsweise in der Schweiz und in Belgien) wurde von Ländern mit einer staatlich sanktionierten Nationalsprache gleichzeitig mit Ablehnung und Bewunderung aufgenommen, da dieses Prinzip offenbar kleinen mehrsprachigen Nationen das Überleben erleichtern konnte. Die Konsequenzen für den einzelnen Sprecher – so im Falle Belgiens – sind indes groß: während sozialer Aufstieg vor der Einführung dieses Konzeptes unabdingbar mit der Beherrschung zweier Sprachen (zumindest im Fall der flämischen und deutschen Bevölkerungsgruppen) verbunden war, kann das Alltagsleben heute in vielen Bereichen in einer Sprache verlaufen, nämlich der Sprache des jeweiligen Gebiets, ohne dass die Mehrsprachigkeit der Bürger aufgegeben werden müsste.

Der belgische Staat ist sehr sensibel, was die Beachtung der Rechte der einzelnen Sprachgruppen im Land angeht. Selbst sehr kleinen Minderheiten wird ein gleichberechtigter Status eingeräumt. Ein Teil der deutschsprachigen Minderheit in Ostbelgien, die weniger als 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, profitiert von der Sprachenregelung zwischen den beiden großen Landesteilen und wird ähnlich behandelt, wie die Niederländisch- und Französischsprachigen, was zur Folge hat, dass Deutsch zur dritten Nationalsprache landesweit aufgestiegen ist. So sind z. B. alle Hinweisschilder auf dem Brüsseler Flughafen viersprachig – die drei offiziellen Sprachen Niederländisch, Französisch, Deutsch und obendrein – als internationale Luftverkehrssprache – Englisch und zwar konsequent in dieser Reihenfolge, um jede Hintansetzung einer Sprachgemeinschaft zu vermeiden. Auch die belgische Autobahnpolizei berücksichtigt entsprechend alle drei nationalen Sprachen und wird bei der Verhängung einer Verkehrsstrafe dem Autofahrer zuerst die Möglichkeit geben, sich für eine der drei nationalen Sprachen zu entscheiden, um Widerspruch oder Zustimmung zu protokollieren.

Natürlich ist ein solches Vorgehen aufwendig, aber anscheinend im Rahmen von Sprachkonfliktvermeidungsstrategien doch sinnvoll. Wie viel andere Länder gestehen einer Sprache mit so wenigen Sprechern einen solchen Status zu? Ohne Zuerkennung eines solchen Status ergäben sich aus dieser sprachlichen Asymmetrie jedoch auf lange Sicht wohl noch größere Konflikte und zwar sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich. Die belgische Konfliktregelung kann mit einigen Einschränkungen somit in sprachplanerischer Hinsicht als vorbildlich für die Europäische Union gelten.

2. Entemotionalisierung

Ein anderes positives Ergebnis des Sprachenstreites in Belgien ist eine gewisse Entemotionalisierung der Sprachenfrage. Es ist jedoch nicht leicht, Sprach- und Kulturkonflikten die Emotionen zu „entziehen” und diese Konfliktthematik zu versachlichen. Mit der Einführung des Territorialprinzips hoffte der belgische Gesetzgeber, dass eine strenge Sprachenregelung in wenigen grundsätzlichen Lebensbereichen genug Raum für die größtmögliche Freiheit des Sprachgebrauchs auf anderen Gebieten lassen würde. Während die durch das Territorialprinzip geforderte Einsprachigkeit in den meisten mehrsprachigen Ländern mindestens zwei Domänen betrifft (das Bildungssystem und die öffentliche Verwaltung), kommt in Belgien die „Betriebssprachendomäne” hinzu. Wie bereits angedeutet, muss die Sprache des Territoriums in allen formellen Vereinbarungen und Verträgen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verwendet werden. Spannungen, die sich aus sozial determinierter Sprachwahl (wenn z. B. ein Manager eine andere Sprache als die Gewerkschaftsvertreter gebraucht) ergeben können, werden dadurch reduziert.

Zusammen mit der Sprachgesetzgebung wurde ein Plan zur Föderalisierung und Regionalisierung entwickelt, der eine zentralisierte Sprachplanung nach dem Vorbild Frankreichs verhindern sollte. Da solch regionalisierte Sprachplanung (in Belgien kommunalisiert genannt) innerhalb der verschiedenen Sprachgruppen nur in einigen wenigen, aber nichtsdestoweniger entscheidenden Lebensbereichen angewendet wird, verhält sich der Staat in den übrigen Domänen überwiegend permissiv und kompensiert Gesetzesstrenge im sprachlich-kulturellen Bereich mit Liberalität und Toleranz.

3. Sprachenzählungen

Statt dem Vorbild Nordamerikas und Russlands zu folgen, die ihre Einwohner in großangelegten Sprachenzählungen („Zensus”) den vorhandenen Mehr- und Minderheitensprachen zuordnen, hat Belgien in der zahlenmäßigen Erfassung von Minderheiten seinen eigenen Weg eingeschlagen, ausgehend von dem Prinzip, dass die Rechte und Pflichten einer Mehrheit oder Minderheit nicht ausschließlich von ihrer zahlenmäßigen Stärke abhängig seien. Dass die Größe einer Sprachgemeinschaft nicht länger mehr der entscheidende Faktor im Bereich der Sprachplanung ist, bedeutet, dass Überlegungen zum Schutz einer Sprachgemeinschaft von der Annahme ausgehen, dass eine numerische und sozioökonomisch benachteiligte Minderheit mehr Unterstützung als die mit ihr konfrontierte Mehrheit benötigt, um Gleichberechtigung zu erlangen. Demzufolge hat der belgische Staat die Sprachenzählung als Teil der Volkszählung abgeschafft und damit sicher auch beachtlich zu einer Entemotionalisierung beigetragen.

Da Belgien sich in dieser Hinsicht von den meisten anderen mehrsprachigen Nationen unterscheidet, wollen wir die besonders konfliktträchtige Frage der Sprachenzählung etwas genauer betrachten. Wir haben hervorgehoben, dass Zweisprachigkeit stets asymmetrisch ist, bilinguale Sprecher werden immer aus dem einen oder anderen Grund in Abhängigkeit von ihrem sozioökonomischen Status, der kulturellen Identität, etc. – eine Sprache bevorzugen. Deswegen kann die Datensammlung über Bi- oder Multilingualität in einer Region in Form einer zahlenmäßigen Erfassung der Sprecher kaum sozial zuverlässige Informationen liefern. So gaben in der Zählung von 1933 in Martelingen, einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen Luxemburg und Belgien, 93 Prozent der Einwohner an, deutschsprachig zu sein, und nur 7 Prozent behaupteten, sie seien frankophon (Nelde, 1979). 1947, bei der letzten amtlichen Volkszählung in Belgien, schien sich die Situation umgekehrt zu haben: 93 Prozent der Sprecher behaupteten, sie seien Frankophone, und nur 7 Prozent sahen sich selbst als Deutschsprachige. Der Grund für diesen Unterschied liegt auf der Hand: die meisten Dorfbewohner waren zu Zeiten beider Zählungen zweisprachig, jedoch wurde 1933 Deutsch aus weltanschaulicher Perspektive (Zeit des Faschismus) eher bevorzugt, während die gleiche Sprache 1947 – nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg – wenig beliebt war, und es folglich wünschenswert erschien, mehr Französisch zu sprechen. Deshalb sollten quantitative Daten einer Sprachenzählung in mehrsprachigen Konfliktsituationen mit Skepsis behandelt werden, da die Informationen, die sie über Mehrsprachigkeit zu geben scheinen, oft durch außersprachliche Faktoren verzerrt sind.

4. Positive Diskriminierung

Als logische Konsequenz aus den Vorüberlegungen zur Entemotionalisierung und zur Sprachenzählung soll die positive Diskriminierung von Sprachminderheiten in den Mittelpunkt gerückt werden, ein Aspekt, der von großem Nutzen für die sprachlichen Minderheiten im zukünftigen Europa sein könnte. Positive Diskriminierung heißt, dass die Minderheit mehr Rechte und Vorteile bekommt, als ihr zahlenmäßig nach dem Proporzsystem zustünde, um ein vergleichbares sprachliches Reproduktionspotential wie die Mehrheit entwickeln zu können.

Im Falle der hier besprochenen asymmetrischen und insbesondere der institutionalisierten Mehrsprachigkeit sollte, wenn nötig, die Struktur des Bildungssystems die Minorität explizit fördern, um zu entsprechenden Ergebnissen wie die Mehrheit zu gelangen. In der Praxis kann das z. B. bedeuten, im Schulunterricht kleinere Klassenstärken für kleinere Sprachgruppen zu akzeptieren, sowie für bessere Bezahlung der Lehrkräfte, an die besondere Anforderungen gestellt werden, zu sorgen. Minderheitsschüler sollten mehr Rechte und Vorteile haben, gerade weil sie vom Sozialprestige her und auch zahlenmäßig oft die schwächere Gruppe sind, damit sie auf lange Sicht die gleichen sozialen Aufstiegschancen haben.

Eine andere Form positiver Diskriminierung ist eine Belohnung aller derjenigen, die in einer zweisprachigen Situation ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. So könnte z. B. ein Briefträger in einer mehrsprachigen Stadt wegen des erhöhten Arbeitsaufwandes mehr verdienen als sein einsprachiger Arbeitskollege. Offensichtlich würde das – so jedenfalls zeigen Brüsseler Beispiele aus dem Dienstleistungsbereich der vergangenen Jahrzehnte – auch zu einer Hebung des Prestiges und des Status von Mehrsprachigen führen.

5. Marktwirtschaft und Sprache

Im Gefolge der Entemotionalisierung des Sprachendisputes in Belgien haben sich noch andere Wege zur Konfliktvermeidung und -lösung entwickelt. Heute kann die belgische multilinguale Situation als besonders liberal in Bezug auf die drei Landessprachen ebenso wie die wichtigsten Europa- und Nachbarsprachen charakterisiert werden. Es ist jetzt viel leichter für die einzelnen Sprecher, die Sprache zu wählen, die sie in Übereinstimmung mit ihren persönlichen und beruflichen Plänen benötigen. Individuelles Sprachverhalten und individueller Spracherwerb korrespondieren größtenteils mit dem freien Markt. Auf diesem Wege konnte sich die Mehrsprachigkeit im Lande, einmal von zahlreichen historischen und sozialen Vorurteilen, Stereotypen und Emotionen befreit, an Angebot und Nachfrage anpassen. Dazu kommt ein rein ökonomischer Gesichtspunkt: die Funktion der Hauptstadt Brüssel – faktisch Hauptstadt Europas – hat die Bereitschaft der Bevölkerung zum Mehrsprachenerwerb gefördert, da sich die Beherrschung weiterer Sprachen nachweislich auszahlt (F. Grin, 1996). Somit zeigt das belgische Beispiel, dass eine ökonomisch, durch Angebot und Nachfrage bestimmte Sprachwahl bei der Motivierung zur Mehrsprachigkeit erfolgreicher ist, als eine zentralisierte Sprachplanung, die – statisch und somit wenig flexibel – sich nur schwer dem sich ständig ändernden Sprachbedarf anpassen kann.

 

Fünfte These:
Der Anteil europäischer Sprachen an den gegenwärtigen Sprachkonflikten ist unterschiedlich.
Deutsch als größte EU-Sprache spielt hierbei eine Sonderrolle

Obwohl Deutsch mit 95–100 Millionen Sprechern in Europa sicherlich – neben Russisch – die größte Sprache ist, fällt ihre Zweit- und Drittrolle als Fremdsprache im Unterricht, als Originalsprache für Ausschreibungen und Erlässe der EU, als Verhandlungssprache in multinationalen Gipfelgesprächen, als Umgangssprache in den europäischen Institutionen, kurz als internationale Sprache besonders ins Auge. Dafür mag unter anderem das erhöhte Konfliktpotential des Deutschen ausschlaggebend sein. Dies sollen einige Beispiele erläutern:

Das Deutsche weist einen hohen Grad von Konfliktgefährdung auf, da seine Kontaktfrequenz höher ist als die anderer Staaten. Das heutige Deutschland grenzt an neun Nachbarstaaten; in den meisten Nachbarländern wird Deutsch (als Minderheits- oder Mehrheitssprache) gesprochen; in wenigstens fünfzehn Staaten (Europa I und II) wird deutsch gesprochen.

Deutschland kennt im Bereich der allochthonen Minderheiten eine besonders breite Konfliktdiversifizierung. Man möge sich nur einmal das Spektrum an Zuwanderern vor Augen führen, die sich in den letzten zwanzig Jahren um Aufnahme und Integration bemühten. Für den nicht Eingeweihten ist es sicherlich nicht ganz einfach, die Bezeichnungen für diese Zuwanderer zu unterscheiden und, falls sie bedeutungsgleich sind, den unterschiedlichen ideologischen Blickwinkel zu erkennen, der sich hinter dieser umfassenden Terminologie verbirgt: Fremdarbeiter, Gastarbeiter, ausländischer Arbeitnehmer, Arbeitsimmigrant, Arbeitsemigrant, Umsiedler, Aussiedler, Spätaussiedler, Rücksiedler, Asylant, Asylsucher, Wirtschaftsflüchtling, Migrant, Remigrant – um nur einige herauszugreifen. Für die interkulturelle Kommunikation innerhalb von Europa II kommt als weiteres Missverständnis bzw. als weiterer Konflikt die Tatsache hinzu, dass die anderen Mitgliedsländer (mit der Ausnahme Luxemburgs) keinen vergleichbaren Zuwandererschub kennen und deshalb in Ermangelung eines ähnlichen sachlichen und ideologischen Hintergrunds viele Begriffe in ihren eigenen sprachlichen Kontext nicht übertragen können.

Ideologien spielen beim Sprachkontakt mit dem Deutschen offensichtlich eine besondere Rolle. So kann die Vergangenheit Deutschlands – und hier vor allem das Dritte Reich mit dem Zweiten Weltkrieg – als Konflikthypothek gesehen werden. Die „Bildformung” – wie der ins Deutsche übertragene niederländische Terminus lautet – oder Stereotypbildung (R. Breitenstein, Der hässliche Deutsche, 1968) ist zur Genüge aus der medialen Unterhaltungsindustrie bekannt. Seit den fünfziger Jahren (!) erfolgreiche Fernsehserien und Sitcoms wie Hogan’s Hero’s/Ein Käfig voller Helden (USA, in Zentraleuropa 1999 werktags noch stets auf Kabel 1) oder jüngst Allo, allo (Großbritannien, 2001 auf verschiedenen westeuropäischen Sendern) sind hervorragende Beispiele einseitiger Schwarzweißdarstellungen, in denen die deutschen die „tumben Tore” abgeben – naive, plumpe Verbrecher, eingefangen mit einem Hauch folkloristisch untermauerter Sympathie: ein gefundenes Fressen für Attitüden- und Vorurteilsforscher. Die Folge dieser „Vergangenheitsbewältigung” ist – zumindest für Deutschlerner – ein Spracherwerb, der eine außersprachliche Hypothek mit einschließt und damit wohl den Zugang zum Deutschen erschwert.

Deutsch ist die größte Minderheitssprache in Europa I, II und III, wird mit völlig unterschiedlichen Staatsauffassungen und politischen Konzepten, Strukturen und somit Minderheitskonflikten konfrontiert. Weltanschauliche Symbiosen zwischen der Eigenkultur und der Gastlandkultur zu finden, zwischen früheren sozialistischen und auf der anderen Seite westlichen Demokratien, zwischen sozioökonomisch benachteiligten und am neoliberalen Aufschwung teilhabenden Staatsmehrheiten dürfte den Deutschen außerhalb der traditionell deutschsprachigen Staaten nicht immer leicht gefallen sein, wie ein Blick auf die Liste der wichtigsten Länder beweist, in denen Deutsch auch heute noch als Minderheitssprache gesprochen wird – Dänemark, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Italien, Slowenien, Kroatien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Ukraine, Russland, Polen.

Als Vorurteilskonflikt macht sich ein Lernkonflikt bemerkbar, der davon ausgeht, dass Deutsch eine besonders schwere Sprache sei. Argumentativ werden dabei objektive linguistische Kriterien und subjektive Kriterien vermischt, wie Herbert Christ (1980 und 1992) überzeugend nachgewiesen hat.

Obendrein werden sowohl der Erwerb wie die Beherrschung einer deutschen Standardsprache durch einen Plurizentrikkonflikt erschwert. Butcher (engl.) und boucher (frz.) haben eben nicht eine, sondern zahlreiche Entsprechungen, die von allen Deutschsprachigen offensichtlich verstanden werden, von denen aber nur jeweils eine Entsprechung zum jeweiligen – aktiv verwendeten – Ideolekt gehört (‘Schlachter’, ‘Schlächter’, ‘Fleischer’, ‘Metzger’ etc.).

Schließlich stellt sich das Deutsche als eine potentielle europäische Konfliktsprache dar, da die qualitative und quantitative internationale Unterrepräsentierung (vgl. den Gebrauch des Deutschen bei internationalen Organisationen wie UNO, UNESCO, aber auch bei der EU) im Falle einer sozioökonomischen oder politischen Benachteiligung aufgrund des relativ eingeschränkten Mitspracherechts der Deutschen gegebenenfalls zu Spannungen führen kann. Allerdings legen die Deutschen zurzeit eine relativ große Disziplin an den Tag, das heißt, sie leiten aus der Förderung und Finanzierung internationaler Institutionen keine Machtansprüche ab und vermeiden alle aus einer sprachlichen Hintanstellung eventuell resultierenden Konflikte.

Es wäre wünschenswert, wenn die hier angedeutete „Deutsch im Konflikt"-Problematik einmal in einer multidisziplinären Gesamtdarstellung analysiert würde. Daraus ließen sich sicherlich Konfliktvermeidungsstrategien ableiten. Im europäischen Kontext, der durch zahlreiche Spannungen und Konflikte, in deren Mittelpunkt häufig unterdrückte, benachteiligte oder einfach kleine Sprachgemeinschaften (Minderheiten) stehen, soll nunmehr versucht werden, einige der Strategien, die zur Konfliktneutralisierung beigetragen haben, zu überprüfen.

Schlussfolgerungen

Nachdem wir die Lösungen diskutiert haben, die Europa, insbesondere auch Belgien zu einigen der Probleme gefunden hat, die sich aus der bestehenden Mehrsprachigkeitssituation ergeben, muss hervorgehoben werden, dass es demzufolge kein allgemeingültiges Mehrsprachigkeitsmodell gibt, das in allen Kulturen, Ländern und unter allen Umständen angewandt werden kann. Der spezifische Kontext einer jeden multilingualen Situation muss sich in der regionalen und der überregionalen Sprachpolitik eines jeden Landes widerspiegeln und maßgeschneidert auf die jeweilige Sprachgemeinschaft ausgerichtet sein, um mit den realen ökonomischen Bedürfnissen korrespondieren zu können. Unsere unterschiedlichen Beispiele zeigen deutlich, dass ein einziger sprachenpolitischer Plan zur Lösung der Sprachenprobleme im vereinten Europa nur fehlschlagen könnte. Es gibt keine verallgemeinernden und pauschalen Lösungen, sondern nur eine fallweise bestimmte, situativ und kontextuell definierte Sprachenpolitik.

Trotz der Tatsache, dass allochthone und autochthone Gruppen überwiegend ein relativ geringes Prestige ihrer Sprachen und Kulturen als gemeinsamen Nachteil gegenüber der dominanten Gruppe aufweisen, ist zu beobachten, dass es bis heute in Bezug auf die Einforderung von Sprachrechten in Europa nur wenig oder gar keine Kooperation zwischen diesen beiden Gruppen gibt. Diese Kooperation wäre jedoch naheliegend, da vergleichbare Benachteiligungen auch gemeinsame Lösungen erheischen. Ohne Zweifel haben sich die neuen, oft sozial definierten Minderheiten, wie die Migranten, Gastarbeiter, Rück-, Aus- und Umsiedler, Flüchtlinge, Emigranten, Remigranten und Transmigranten in den Vordergrund des europäischen politischen Geschehens geschoben. Alle diese Gruppen haben ein neues Bewusstsein unter den Mehrheitsbevölkerungen hervorgebracht, das statt einer Zurückdrängung der einheimischen Minderheiten eher ihre Förderung zum Ergebnis hatte. Auch sie wurden von den neuen Tendenzen, wie einer Renaissance der Dialekte und Minderheitensprachen, mitgetragen. Ein neues, an kleineren Einheiten orientiertes, regionales Bewusstsein – wie die „small is beautiful”-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre – hat in immer stärkerem Maße die Aufmerksamkeit von Forschung, Politik und Kultur auf Minderheiten gelenkt, deren soziokulturelle und jetzt auch wirtschaftspolitische Bedeutung in einem kulturell lebensfähigen Europa nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann.

Dennoch reagieren Mehrheitsgruppen in ihrer Einstellung zu Sprach- und Kulturminoritäten gegenüber allochthonen Gruppen bedeutend negativer als gegenüber autochthonen Minderheiten. Die Konfrontationen zwischen bodenständigen Minderheiten und den dominanten Mehrheiten einerseits und zugewanderten Migranten und den dominanten Mehrheiten andererseits finden auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen statt (sozial, politisch, ökonomisch, kulturell), obwohl die Formen der Diskriminierung seitens der Mehrheit oft die gleichen sind.

In der Kontaktlinguistik haben nur wenige Forscher beide Minderheitengruppen parallel untersucht, trotz des Nutzens, der sich aus einer gemeinsamen Vorgehensweise ergeben könnte. In den Niederlanden, der Schweiz und Frankreich werden autochthone und allochthone Gruppen aus wissenschaftsimmanenten oder ideologischen Gründen sehr unterschiedlich beschrieben und analysiert. Demgegenüber fehlen in Großbritannien wiederum die Kontakte zwischen den Linguisten einerseits, die sich mit den sogenannten „entkolonisierten" Sprachen beschäftigen, und den Forschern in Schottland und Wales andererseits, die sich mit keltischen Sprachen beschäftigen. Sicherlich sind die nur scheinbar grundverschiedenen Konfliktsituationen ein Grund für die fehlende Kooperation. So ist es nicht verwunderlich, wenn es kaum Vorschläge zur Konfliktlösung gibt, die versuchen, die vergleichbaren Sprachkonflikte beider Gruppen zu neutralisieren.

Neubewertung der Situation

Dieser Bereich der kontaktlinguistischen Forschung im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Integration und nationalstaatlichem Eigeninteresse wächst und verändert sich ständig. Die Gründe hierfür sind überdeutlich: Erstens lagen die dörflichen Gemeinschaften, die die Sprache und andere Identitätsmarker ihrer Minderheit konservierten, oft in der Peripherie der verschiedenen europäischen Staaten, und aus diesem Grunde wurden sie in der Vergangenheit häufig als marginal betrachtet. Wenn sie am Wohlstand und ökonomischen Fortschritt teilhaben wollten, mussten sie sich in den Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung integrieren. Sie verloren während dieses Prozesses in vielen Fällen ihre Besonderheiten, einschließlich ihrer Sprache. Nun finden sich eine Reihe dieser Gemeinschaften im Herzen des neuen Europa wieder, da sie entlang der Grenzen und damit in neuen Kontaktachsen liegen. Geographisch und geopolitisch sind sie somit nicht länger marginal. Weiterhin scheint sich abzuzeichnen, dass ein übernationales Europa Regionalismus eher toleriert als die früheren Nationalstaaten. Das bedeutet, dass sich diese Gemeinschaften in einem Umschichtungsprozess befinden. Es ist notwendig, diesen veränderten Diskurs zu analysieren. Um zu verstehen, was in einigen dieser Gemeinschaften bereits passiert ist und wie sie sich in Zukunft entwickeln werden, müssen wir uns vor allem mit den Sprechergruppen beschäftigen, denen es gelungen ist, ihre Sprache und Tradition zu erhalten. Minderheitsgruppen wie die Katalanen geben beispielsweise Aufschluss darüber, was zur Erhaltung und Förderung einer Minderheitengruppe beitragen kann. Hier verdient die lokale und regionale Entwicklung mehr Aufmerksamkeit.

Zweitens ist die Mehrsprachigkeit in europäischen Großstädten ein relativ junges Phänomen. In einigen Fällen wurde sie bereits genauer – empirisch – unter die Lupe genommen, in anderen Fällen bleibt noch eine Menge zu tun, um die kontaktlinguistische Entwicklung besser zu verstehen. Es betrifft hier ein Gebiet, in dem sich Vorurteilsforschung und Linguistik oft berühren und wo sich Probleme und Konflikte aus multilingualem und multikulturellem Kontakt ergeben können. Diese erklären sich soziologisch aus Versuchen der dominanten Gruppe, sozialen Aufstieg für ihre Mitglieder zu sichern (oft gegenüber Allochthonen), aber auch aus einem Gefühl der Bedrohung (Autochthone), da sich durch den Zuzug anderer Gruppen die eigene Identität zu verwischen scheint.

Drittens bleibt das Problem der Sprachen in der Europäischen Union weitgehend undiskutiert und deshalb ungelöst. Was immer die Lösung sein wird – drei, vier, elf oder mehr Arbeitssprachen – das Europa der Zukunft wird nicht einsprachig sein. Der Beitritt der skandinavischen Nachbarn – Länder, die traditionell Englisch als Zweitsprache bevorzugen – und Österreichs zur Union konnte – so glaube ich – das bisherige sprachliche Machtgleichgewicht in Brüssel, Luxemburg und Straßburg infrage stellen und hat bereits die Debatte neu belebt (so Österreichs und Deutschlands Weigerung, an nicht-deutschen Konferenzen der EU teilzunehmen).

Viertens müssen wir uns mit den Sprachkonflikten entlang der Grenzen der EU mit den früheren Ostblockstaaten auseinandersetzen, wo Sprache mehr und mehr zu einem Symbol wiedererwachenden Nationalismus zu werden scheint. Hier muss zwischen Konflikten mit historischen Wurzeln und solchen, die künstlich – aus Gründen der Grenzverschiebung, der Staatsneugründung oder einfach aus ideologischen Motiven – entfacht wurden, unterschieden werden.

Mögliche Ursachen für Sprachkonflikte existieren demnach überall in der Welt wie auch in Europa, die sich häufig als polarisierende Tendenzen bemerkbar machen: Neben länderübergreifenden Zusammenschlüssen (NAFTA in Nord- und Mittelamerika, die Europäische Union) nehmen gleichzeitig Nationalismus und Regionalismus zu (Euregio, Alpen-Adria-Regio, Neugründungen wie Slowenien, Estland u.v.a.). Aus der Geschichte kennen wir die möglichen Konsequenzen der Unterdrückung von Konflikten. Deshalb sollten wir als Linguisten sinnvolle Beiträge zur Konfliktanalyse, Beschreibung und Kontrolle komplexer linguistischer Situationen leisten, wie sie sich vor den Augen des Forschers welt- und europaweit tagtäglich abspielen.

Eine breit angelegte und nicht durch modisch eingeengte Definitionswut erschlossene kontaktlinguistische Perspektive bewahrt den europäischen Linguisten einerseits vor nationalphilologischer und monolingualer Borniertheit, andererseits vor luftigen Theoriekonstruktionen fern jeder empirischen und historischen Fachkenntnis – womit die Kontaktlinguistik sich als eine der geeigneten Wissenschaftsdisziplinen erweist, die gerüstet ist, der zunehmenden Bedeutung von Sprache im zukünftigen Europa Rechnung zu tragen.

Und Ungarn? Gilt das hier Gesagte nicht auch in besonderem Maße für die sprachpolitische Zukunft Ungarns? Ein kleines Land wie Kuwait rückte einst in den Mittelpunkt des Weltgeschehens wegen seiner Erdölreserven, einer natürlichen Wirtschaftsressource. Ungarn verfügt keineswegs über ausreichende Bodenschätze, die das Land für die übrige Welt ökonomisch interessant machen könnten. Allerdings verfügt Ungarn für sich selbst und für Europa über andere natürliche Ressourcen, die noch nicht in vollem Maße genutzt werden, nämlich über Sprachen, die von zahlreichen Minderheiten, die alle auch gleichzeitig in genügendem Maße des Ungarischen als Staatssprache mächtig sind, als Nachbarsprachen (so Slowakisch, Slowenisch, Kroatisch, Rumänisch) und als Weltsprache (Deutsch) muttersprachlich erlernt und in Ungarn seit langem beheimatet sind.

Inzwischen gehört die jüngst verabschiedete Minderheitengesetzgebung der Ungarn zu einer der fortschrittlichsten weltweit und steht der noch stets nicht von allen EU-Mitgliedern ratifizierten Minderheitencharta kaum nach. Ihre konsequente Umsetzung in die alltägliche Sprachpraxis bei gleichzeitiger Förderung wichtiger internationaler Sprachen aus West und Ost im Bildungssystem würde Ungarn vermutlich im friedlichen Wettkampf mit den übrigen „Erweiterungskandidaten” der EU einen Vorsprung gewähren, dessen Folgen sich nicht nur im kulturellen, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich positiv bemerkbar machen würden.

Die Ergebnisse der Forschung von „Ökonolinguisten” und Sprachplanern wie Grin und Vaillancourt lassen sich in mancher Hinsicht auf Ungarn übertragen. Das hieße, dass sich wohl auch für die Ungarn jeglicher Muttersprache Mehrsprachigkeit auf der Basis dieser nationalen Sprachen lohnen und bezahlt machen würde. In Abwandlung einer weisen Voraussage des Reformers Gorbatschows – wer zu spät mehrsprachig wird, den bestraft der Sprachenmarkt – wird sich in einem europäischen Partnerland Ungarn die bislang so gehegte, weltanschaulich und historisch begreifliche Einsprachigkeit in einem neuen Verständnis der Interdependenz von Sprache, Kultur, Wirtschaft und politischen Einfluss endgültig verabschieden.

 

Literatur

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