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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:283–288.

HARRIET NEMESKÜRTY

Gedanken beim Überfahrenwerden

 

I. Überfahren vom Bus

Am 21. November 2000 fand in der Pester Redoute die Premiere eines ungewöhnlichen Erich-Kästner-Abends statt unter dem Titel „Gedanken beim Überfahrenwerden”. Das Stück entstand auf Anregung des Europa Institutes, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf die deutsche Literatur zu lenken. So kam die Idee der Dramaturgie: keine Lesung, sondern eine Kette von zu Dialogen und Situationen verarbeiteten Gedichten – ein Theaterstück also, welches die Geschichte von vier Menschen erzählt; teilweise mit vertonten Kästner-Gedichten und Musik aus jener Zeit.

„Gedanken beim Überfahrenwerden” heißt der Titel eines Kästner-Gedichtes. Berlin in den zwanziger Jahren: Ein Mann spaziert, in Gedanken vertieft, durch die nassen Straßen von Berlin und wird plötzlich von einem Autobus überfahren: vor seinem Tode gehen ihm etliche Gedanken über seine Ehe durch den Kopf...

Doch es würde sich nicht um Erich Kästner handeln, wenn diese tragische Situation nicht mit dem für Kästner so typischen, eigenartigen sarkastischen Humor behandelt wäre. „Wer Kopfweh hat, nimmt Pyramidon. Wer an Magendrücken leidet, schluckt doppeltkohlensaures Natron. Bei Halsschmerzen gurgelt er mit Wasserstoffsuperoxyd. Und in dem Schränkchen, das Hausapotheke heißt, halten sich, dem Menschen zu helfen, überdies Baldrian, Leukoplast, Choleratropfen, Borsalbe, Pfefferminztee, Mullbinden, Jodtinktur und Sublimatlösung in Alarmbereitschaft. Aber manchmal helfen keine Pillen. Denn was soll einer einnehmen, den die trostlose Einsamkeit des möblierten Zimmers quält oder die nasskalten, nebelgrauen Herbstabende? Zu welchen Rezepten soll der greifen, den der Würgengel der Eifersucht gepackt hat? Womit soll ein Lebensüberdrüssiger gurgeln? Was nützen dem, dessen Ehe zerbricht, lauwarme Umschläge? Was soll er mit einem Heizkissen anfangen? Die Einsamkeit, die Enttäuschung und das übrige Herzeleid zu lindern, braucht es andere Medikamente. Einige davon heißen: Humor, Zorn, Gleichgültigkeit, Ironie, Kontemplation und Übertreibung. Es sind Antitoxine. Doch welcher Arzt verschriebe sie, und welcher Provisor könnte sie in Flaschen füllen? Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles sind bewährte Heilmethoden.” (Kästners Vorwort zu seinem Gedichtband „Erich Kästners Lyrische Hausapotheke” dtv München, 1988.)

Das Stück wurde vom Deutschsprachigen Theater in Budapest aufgeführt, die Regie führte András Frigyesi, es spielten Nikolaus Lechthaler aus Graz, Ildikó Iván, Mitglied der Budapester Oper, Klára Karsai, Mitglied des Theaters von Győr und Bálint Merán eine Neuentdeckung, er spielt zurzeit in Szekszárd, bei der Deutschen Bühne.

Die Aufführung hatte großen Erfolg und es gibt weitere Aufführungen in der Pester Redoute sowie am 19. März 2001 in Sopron, bzw. am 11. Mai in Berlin im Rahmen der Veranstaltungen der Europa-Woche.

Die „Lyrische Hausapotheke” sowie Kästners Gedanken über Liebe und Leben beim Überfahrenwerden mögen ihren Zweck erfüllen!

 

II. Überfahren von der Literaturwissenschaft?

Die Literatur- und Leserwelt feierte 1999 das 100-jährige Jubiläum der Geburt, bzw. den 25. Todestag von Erich Kästner. Wie gewohnt, erschienen zahlreiche biographische Werke, Analysen und Bewertungen von Literaturhistorikern und auch das Kästnersche Lebenswerk wurde wissenschaftlich neubearbeitet herausgegeben.

Die Biographien, statt wie erwartet und üblich eine Neuanalyse der schriftstellerischen Leistung und Tätigkeit des Jubilanten zu geben, beschäftigen sich mit „nagelneuen Enthüllungen” über das Privatleben von Erich Kästner.

Was ist bloß einzuwenden gegen einen linksorientierten, konsequenten Antimilitaristen, einen tief humanistisch denkenden Schriftsteller, dessen Bücher 1933 verbrannt wurden und der zwischen 1939 und 1945 in Deutschland verboten war?

Das Kernproblem heißt: Erich Kästner blieb während des Zweiten Weltkriegs zu Hause, in seiner Heimat, in Deutschland – ausgenommen einer unfreiwilligen Reise nach Österreich, wegen der Verfolgung der Gestapo – und er emigrierte nicht, wie z.B. Thomas Mann oder Bertolt Brecht, ins Ausland. Dem folgend munkelt man bis heute, es sei von Kästner eine Art Kollaboration mit den Nazis gewesen, während des Dritten Reiches in Deutschland zu bleiben. Kästner selbst wusste über die Vorwürfe gegen ihn Bescheid und versuchte sie mehrfach zu bekämpfen – anscheinend bis heute vergeblich.

Erich Kästner schrieb darüber folgendes: „Alle Amerikaner, die sich amtlich mit mir abgeben mussten, haben mich gefragt, warum ich in Deutschland geblieben sei, obwohl ich doch nahezu zwölf Jahre verboten war. Und obwohl ich, wenn ich emigriert wäre, in London, Hollywood oder auch in Zürich ein viel ungefährlicheres und angenehmeres Leben hätte führen können. Und nicht alle der Amerikaner, die mich amtlich fragten, haben meine Antwort gebilligt und verstanden. Ich habe ihnen nämlich gesagt: »Ein Schriftsteller will und muss erleben, wie das Volk, zu dem er gehört, in schlimmen Zeiten sein Schicksal erträgt. Gerade dann ins Ausland zu gehen, rechtfertigt sich nur durch akute Lebensgefahr. Im Übrigen ist es seine Berufspflicht, jedes Risiko zu laufen, wenn er dadurch Augenzeuge bleiben und eines Tages schriftlich Zeugnis ablegen kann.« (Gescheit und trotzdem tapfer. IN: Erich Kästner: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Vermischte Beiträge. Verl. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1959. S. 23.)

Warum möchte die Literaturwissenschaft Kästners Selbstbekenntnisse nicht wahrnehmen und akzeptieren? Warum ist einer „unzuverlässig”, der bleibt, und warum ist der „zuverlässig”, der auswandert?

In der FAZ erschien am 20. Februar 1999. eine Gedenkschrift über Erich Kästner unter dem Titel „Gescheit und trotzdem tapfer”. Untertitel: „Muttersohn und Maskenspieler, Sänger zwischen den Stühlen – und am Ende doch ein großer Dichter.” Der Titel weist unverblümt darauf hin, dass man Erich Kästner für einen Opportunisten halte. Bei der Meinungsäußerung der FAZ gibt es aber mehrere grobe Verschiebungen: der „Sänger zwischen den Stühlen” weist auf einen Gedichtband „Gesang zwischen den Stühlen” von Kästner hin, welcher 1932 erschien, also Jahre vor dem Krieg; die Behauptung, er sei „gescheit, und trotzdem tapfer” bezieht sich auf einen Artikel von Kästner unter demselben Titel, der aber nach dem Krieg – „Pinguin“, Januar 1946 – erschien und sich mit dem Neuaufbau des Landes beschäftigt, wo er schreibt:

„Aber der Mensch ist ein denkendes Wesen. Er gehört zum Teil in die Naturkunde... Das meiste von dem, was er braucht, muss er sich durch Arbeit und Klugheit selber schaffen. Falls er nicht vorzieht, es durch Gewalt anderen zu entreißen. Wenn die anderen sich dann wehren, Hilfe erhalten und ihm, was er tat, heimzahlen, geht es ihm so, wie es in den letzten Jahren uns ergangen ist. Dann steht er, wie wir jetzt, zwischen Trümmern und Elend. Dann wird es hohe Zeit, wie bei uns, dass er sich besinnt. Dass er aus der Sackgasse, an deren Ende er angelangt ist, entschlossen herausstrebt. Dass er nicht, mit den Händen in den Hosentaschen, faul und achselzuckend herumsteht. Sondern dass er einen neuen Weg einschlägt. Mutig, und trotzdem vernünftig. Gescheit, und trotzdem tapfer.“ (Gescheit, und trotzdem tapfer. Ebenda, S. 22.)

Es wird also, um Kästners Verhalten im Dritten Reich zu charakterisieren, auf zwei seiner Werke hingewiesen, aber nur die Titel zitierend, die aus dem Kontext herausgehoben und entstellt worden sind. Die Frage bleibt aber immer noch offen: warum Exportartikel deutscher Literatur Nummer Eins auf dem Kinderbüchermarkt in den Schlamm ziehen?

Noch interessanter und unverständlicher sind aber die „Neuenthüllungen“ über die Privatsphäre, genauer über die Herkunft von Erich Kästner. Wie es aus seinem Lebenslauf – und aus seinen Kinderromanen – bekannt ist, stammt Kästner aus armen Verhältnissen. Über seine Mutter schreibt er sehr viel, über den Vater viel weniger. Die Mutter liebte er abgöttisch – bei Männern keine Rarität –, zum Vater dagegen hatte er eher einen korrekten Kontakt. Der Vater, Emil Kästner, war Sattlermeister, die Mutter arbeitete zu Hause, später versuchte sie sich als Friseuse – siehe: „Emil und die Detektive”.

Nun aber haben Forscher jetzt in Erfahrung gebracht, dass der Sattlermeister Emil Kästner doch nicht der leibliche Vater des Autors ist. Der Informationsgeber sei sein unehelicher Sohn, dem es unter vier Augen ein österreichischer Schauspieler, dem es unter vier Augen Erich Kästner persönlich erzählt haben soll.

„Erst 1982, acht Jahre nach Kästners Tod, wird der österreichische Kabarettist, Autor und Kästner-Schüler Werner Schneyder anlässlich einer kritischen Würdigung von Kästners Werk die Wahrheit über die Kästnersche Familiengeschichte aufdecken. Tatsächlich ist nicht der ungeliebte Emil Kästner der Vater des Jungen, sondern der langjährige Hausarzt der Familie, Sanitätsrat Dr. Zimmermann. So hat es die Mutter dem Sohn eines Tages gebeichtet; so hat Erich Kästner es beinahe sechzig Jahre später der Mutter seines Sohnes entdeckt. Hinzufügen ist, dass dr. Zimmermann Jude war.” (Klaus Kordon: Die Zeit ist kaputt. Die Lebensgeschichte des Erich Kästner. Beltz/Gelberg, 1994, Weinheim und Basel. S. 14. Hingewiesen auf: Werner Schneyder: Erich Kästner. Ein brauchbarer Autor. München, Kindler, 1982.)

Aus einer anderen, sich ebenfalls anlässlich des 100jährigen Jubiläums mit der schriftstellerischen Tätigkeit von Erich Kästner beschäftigenden Biographie erfahren wir, dass der jüdische Arzt, dr. Zimmermann, verheiratet gewesen wäre und auch eine Tochter gehabt hätte. Im FAZ-Artikel bekommen wir Folgendes zu lesen: „Und seine jüdische Abkunft war jetzt zu einem Geheimnis geworden, das aus ganz anderen Gründen gewahrt werden musste als zur familiären Vertuschung eines Ehebruchs.”

Es ist nicht schwer herauszufinden, was die Zeilen uns beibringen wollen: Erich Kästner sei jüdischer Abstammung, er hätte es aber geleugnet, weil er während des Dritten Reiches Angst gehabt hätte, sich zu seiner jüdischen Herkunft zu bekennen... (Ob die über alles geliebte und auch von den Literaturwissenschaftlern verehrte Mutter des Autors, Frau Ida Kästner damit einverstanden wäre nach ihrem Tode schlicht als Ehebrecherin hingestellt zu werden?)

Nun stellen sich zwei Fragen. Die erste: Warum beschäftigt sich die deutsche Literaturgeschichte anhand des Kästner-Jubiläums nicht, wie erwartet, mit seiner schriftstellerischen Leistung, sondern mit seinen unbewiesenen und ganz persönlichen Familienverhältnissen? Es ist interessant und sogar von Bedeutung, dass außer den Literaturhistorikern keiner aus Kästners Verwandtschaft sich zum Thema zu Wort meldete, weder Kästners Sohn, der angebliche „Verräter” des Familiengeheimnisses, noch die Familie des angeblichen Vaters, Dr. Zimmermann, obwohl Zimmermanns Familie, bloß des Urheberrechtes wegen, Anspruch auf Kästners literarischen Nachlass hätte. Warum meldet sich niemand? Umso schlimmer, eine Behauptung ohne Stellungnahme aller Beteiligten als Tatsache zu behandeln.

Zweitens: unfassbar, warum ein einfacher Sattlermeister der deutschen Literaturwissenschaft nicht gut genug ist. Denn Erich Kästner war ihr schon gut genug. Und wenn die Gerüchteküche doch mit Recht brodelt? Verändert das etwas? Hauptsache ist ja, und dies nicht nur im Falle eines weltbekannten und weltweit beliebten Schriftstellers, sondern jedes Mitmenschen von nebenan – der Vater ist, wen man als Vater anerkennt. Und Erich Kästner erkannte den einfachen Sattlermeister als seinen Vater an, vielleicht, weil er, der „ungeliebte“ Emil Kästner, trotz des eventuellen leiblichen Vaters den kleinen Kästner großzog, oder vielleicht, weil – Adieu, Sensation – bedauerlicherweise doch er der leibliche Vater ist. Erich Kästner schreibt allerdings mit zärtlicher Liebe über seinen Vater; keine Spur des Hasses oder vertuschten Ehebruchs. Sollte er vielleicht lügen, der Erich Kästner? Doch die Regel heißt: man vertraue dem Autor! Wessen Informationen soll man Glauben schenken: denen des Autors, der über seine eigenen Privatverhältnisse ja bestens informiert sein muss, oder den Kritikern und Literaturhistorikern, die in erster Linie die Informationen des Autors zur Kenntnis nehmen sollten und erst dadurch ihre Schlussfolgerungen zu ziehen haben; ist also der Primär- oder der Sekundärliteratur mehr zu glauben?! Der Leser aber soll selbst entscheiden, ob der Autor uns wirklich an der Nase herumführt!

„Fünfundvierzigmal hintereinander hab ich mit meinen Eltern zusammen die Kerzen am Christbaum brennen sehen... Diesmal werden meine Eltern am Heiligabend allein sein. Im Vorderzimmer werden sie sitzen und schweigend vor sich hinstarren. Das heißt, der Vater wird nicht sitzen, sondern am Ofen lehnen. Hoffentlich hat er eine Zigarre im Mund. Denn rauchen tut er für sein Leben gern. »Vater hält den Ofen, damit er nicht umfällt« sagte meine Mutter früher. Mit einem Male wird er »Gute Nacht« murmeln und klein und gebückt, denn er ist fast achtzig Jahre alt, in sein Schlafzimmer gehen.“ (Sechsundvierzig Heiligabende. Ebenda, S. 17.)

„Als ich wieder einmal die Eltern besuchte – es ist lange her, und mein Vater mag damals Siebzig gewesen sein –, meinte die Mama: Er tut seit Wochen so geheimnisvoll. Jede Minute steckt er im Keller. ... Hier brachte er das ramponierte Lederzeug der Nachbarn wieder ins Geschick... Meist kannte die Kundschaft ihren Kram kaum wieder, so prächtig war er hergerichtet. Und man zahlte statt mit Geld mit guten Zigarren. Denn Zigarettenrauchen war (und ist heute noch) »Vater Kästners« große Leidenschaft. Früher einmal hatte er die Werkstatt in der Küche aufgeschlagen gehabt, noch dazu vor dem einzigen Fenster. Bis die Mama kategorisch erklärt hatte, Leimgeruch vertrage sich nicht mit den sonstigen Küchendüften; und so war er, ein wenig in seiner Berufsehre gekränkt, samt dem Handwerkzeug in den Keller umgezogen... Warum habe ich die kleine Geschichte erzählt?... Ich wollte von jenen großen alten Männern sprechen, die heute achtzig Jahre und älter sind, übermütig, heiter, vital, genußfroh, zäh wie Sohlenleder und in ihren Berufen wie auch ihren Steckenpferden so sattelfest, dass man sie beneiden könnte. Da kam mir das Pferd des kleinen Handwerkers, der mein Vater ist, sehr zupasse... Wie werden wir ausschauen, wenn wir so alt sind? Man könnte die alten Herren beneiden. Doch ich finde, wir sollten sie bewundern. Es macht mehr Freude.“ (Das lebensgroße Steckenpferd. Ebenda, S. 199.)

„In diesen Septembertagen war ich, seit Weihnachten 1944, zum ersten Male wieder daheim. Ich käme am Sonnabend, schrieb ich, wisse nicht genau, wann, und bäte sie deshalb, zu Hause auf mich zu warten. Als ich schließlich gegen Abend klingelte, öffnete mir eine freundliche alte Frau. Ich kannte sie nicht. Es war die den Eltern zugewiesene Untermieterin. Ja, die beiden stünden seit dem frühen Morgen am Neustädter Bahnhof. Die Mutter hab sich nicht halten lassen. Wir hätten uns gewiss verfehlt... Ich sah die Eltern schon von weitem. Sie kamen die Straße, die den Bahndamm entlangführt, so müde daher, so enttäuscht, so klein und gebückt. Der letzte Zug, mit dem ich hätte eintreffen können, war vorüber. Wieder einmal hatten sie umsonst gewartet... Da begann ich zu rufen. Zu winken. Zu rennen. Und plötzlich, nach einer Sekunde fast tödlichen Erstarrens, beginnen auch meine kleinen, müden, gebückten Eltern zu rufen, zu winken und zu rennen.“ (Und dann fuhr ich nach Dresden. Ebenda, S. 82.)

Die Frage ist und bleibt doch unbeantwortet: warum Erich Kästner, seine Familie und seine literarische Tätigkeit mit einem Fragezeichen zu versehen? Warum einen der besten und weltweit berühmtesten Dichter der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts mit Beschuldigungen zu „überfahren“? Wobei er in seinen Werken eben das Gegenteil beweist! Ist er doch ein verdammt guter Schauspieler, dieser Erich Kästner, der uns ins Gesicht lacht? Oder sollte man die Fähigkeit der Gestapo wirklich so herunterspielen, dass man es wahrhaftig glaube, sie hätte das bestgehütete Geheimnis der Familie Kästner, also Kästners jüdische Herkunft – wobei die Gestapo ihn kaum aus den Augen ließ – nicht im Nu herausbekommen? Und ihn auf freiem Fuß herumlaufen lassen? Und dass Erich Kästner, über seine eigene Herkunft wohl wissend, die über alles geliebte Mutter nicht versucht hätte, in Sicherheit zu bringen? Und selbst doch lieber nicht emigriert wäre, da er schon so ein feiger Mensch war, laut der Literaturwissenschaft?

Wie dem auch sei: zum Glück zählen in erster Linie die Werke eines Künstlers, so auch bei Erich Kästner. Und in dem Sinne hat er nichts zu verbergen: seine Werke samt seiner „kleinen moralischen Anatomie“ lassen sich von niemandem überfahren. Sie sprechen Bände für sich – und für ihn.