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Begegnungen16_Glatzc

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:177–182.

FERENC GLATZ

Die Zukunft der kleinen Nationen in Mitteleuropa

Nationale Identitäten in Mitteleuropa (Eine Arbeitshypothese)

 

Das Europa Institut Budapest erhielt bei der Széchenyi-Ausschreibung den Auftrag zur Ausarbeitung obigen Themas. Die Ausarbeitung des Themas bedeutet die Organisierung von Konferenzen sowie die Ausarbeitung eines Studienbandes bzw. eines Handlungsprogramms. Unsere Fragestellung bei der Ausschreibung war folgende:

„Die Zukunft der kleinen Nationen in Mitteleuropa beschäftigt gleichermaßen die Philosophen und Politiker Europas. Wird Europa der Kontinent der großen europäischen Kulturen, der Kontinent der englischen, deutschen, französischen, russischen, spanischen Kultur oder finden auch die kleinen Nationen ihren Platz im neuen Europa? Wie können die Interessen dieser kleinen Nationen, vor allem die der kleinen Nationen in Ostmitteleuropa an der Jahrtausendwende zur Geltung gebracht werden? Welche sind die Inventare der Aufbewahrung der nationalen Kulturen? Welche Rolle können und müssen die staatliche Kulturpolitik, die Privatsphäre sowie die kulturellen-wissenschaftlichen Autonomien: die Zeitschriften, Lehrstühle, Forschungsinstitute und die Intelligenz in der Bewahrung dieser vielfarbigen ostmitteleuropäischen Kultur spielen? Die Wirkung der Intelligenz auf die öffentliche Meinung wird mit der Erweiterung des informatischen Inventars immer größer. Sie hat nämlich die Hochschulausbildung, das Fernsehen, Rundfunk, die Tageszeitungen und Zeitschriften in der Hand. Welche Auswirkungen kann die Erweiterung der Europäischen Union und der NATO auf die ethnischen Konflikte in Ostmitteleuropa haben? Wie können diese gelöst werden?”

Im Folgenden wird unsere Arbeitshypothese zur Diskussion gestellt.

 

I. Der Begriff der kleinen Nationen

Der Begriff der kleinen Nationen ist nicht geklärt, er wird deshalb in der internationalen Fachliteratur nur in Anführungszeichen gebraucht. Es gibt nur ein objektives Kriterium: die Gruppierung von Personen, die die gleiche Sprache sprechen. Manche bezeichnen die Nationen als „große Nationen”, die die von der UNO offiziell akzeptierten sechs Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Chinesisch, Russisch) sowie die zwei aus politischen Gründen unterlassenen zwei Sprachen (Deutsch, Japanisch) sprechen. Deshalb: solange wir über die Begründetheit der Thematik des Projektes überzeugt sind, halten wir den Annäherungsweg des Themas für bestreitbar. Es ist begründet „die Nation-Bestimmung” zu untersuchen, da die Zugehörigkeit zu einer Nation als „Bekenntnis” angesehen wird.

Auch der Begriff der Nation ist – wie bekannt – bestreitbar. Wir definieren die Nation als eine sprachliche-traditionelle, emotionale Gemeinschaft, zu der das Individuum auf Grund des Bekenntnisses gehört. So halten wir es für vorstellbar, dass das Individuum gleichzeitig zwei oder mehrere nationale Identitäten erlebt.

Wir bestimmen die ostmitteleuropäische Region traditionell nach der territorialen Verwaltungsordnung: danach gehören nördlich-südlich das Baltische Meer und die Adria und westlich-östlich das Gebiet zwischen Deutschland und der Ukraine. Folgende Nationen werden behandelt: die polnische, tschechische, slowakische, slowenische, ungarische, kroatische, serbische, rumänische sowie die in der Region keinen Staat bildende, jedoch als sogenannte staatnationale Minderheit bildende deutsche Nation.

Bei der Erörterung des Themas möchten wir festhalten: die Frage der nationalen Minderheiten wird als ein Unterthema behandelt, die durchaus zum Thema gehört.

 

II. Hypothesen über die Zukunft

1. Industriell-technische Revolution und Globalisation

Die ostmitteleuropäische Region befindet sich in de Epoche der weltweiten industriell-technischen Revolution und der damit einhergehenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Globalisation. Deren Auswirkung für das menschliche Kontaktsystem ist noch nicht voraussehbar. Ziel des Projektes ist eben, die mögliche Entwicklung des Bewusstseins der nationalen Zusammengehörigkeit sowie die Möglichkeiten „der Beeinflussung der Geschichte” zu diskutieren.

Wir betrachten die industriell-technische Revolution als eine kulturell-anthropologische Revolution: die mit den Chips angefangene Revolution in der Mikroelektronik und in der Massenkommunikation verändert die Kultur der alltäglichen menschlichen Kontakte und die neuen Möglichkeiten zur Kulturvermittlung verstärken neue Faktoren der Gemeinschaftsgestaltung.

2. Identitätspluralismus

Die Menschheit lebte während ihrer ganzen Geschichte in Identitätspluralismus. (1991) Unser Ausgangspunkt: die neue industriell-technische Revolution verstärkt in der Gesellschaft den Individualismus. Die neuen Mitteln der Kulturvermittlung ermöglichen, dass das Individuum seine Kenntnisse außerhalb der gemeinschaftlichen Formen des Kenntniserwerbs (Schulsystem) erwirbt und sein Verhältnis zu seiner menschlichen Umgebung bzw. seiner Umgebung in der Natur definiert. Der Mensch erlebte auch bisher verschiedene Identitäten: auf Grund seines Geschlechts, seiner Familie, des Lebensalters sowie eine soziale, fachliche, nationale, staatsbürgerliche, gemeinschaftliche und politische Identität. Diese Formen der Identität vermehren sich bereits und werden zu Kohäsionskräften der Gemeinschaft. (Zum Beispiel die Identitäten auf Grundlage des Naturschutzes, Hobbys, Sports usw.) Infolge des Individualismus formulieren die Menschen für sich selbst die Struktur der Identitäten (also die Einstufung nach der Relevanz) öfter als früher. In einem Lebensalter ist es möglich, dass die Identität nach dem Geschlecht oder Lebensalter und in einem anderen Lebensalter die nationale oder soziale bzw. die staatsbürgerliche oder sonstige Identitäten entscheidend sind. (Die verschiedenen Identitäten werden also anders eingestuft.)

Das 19.–20. Jahrhundert brachte das Übergewicht der staatsbürgerlichen und politischen Identitäten mit sich. Dies erklären die großen historischen Erlebnisse der vergangenen zwei Jahrhunderte, der Ausbau der modernen Verwaltungssysteme, der den Aufschwung der geistigen und materiellen Kräftenentfaltung der Menschheit verursachte. Unsere Hypothese: das 21. Jahrhundert wird infolge der oben erwähnten Faktoren diese Hegemonie der staatsbürgerlichen Identität sprengen. Unsere Hypothese ist sogar, dass das Individuum in der gleichen Zeit zu mehreren Nationen oder Staaten eine gleiche Identität aufweisen kann.

3. Nationale Identität–Kulturnation

Unsere Hypothese ist, dass die nationale Identität eine der grundsätzlichen Identitäten im 21. Jahrhundert sein wird. Das große Bestreben des 19.–20. Jahrhundert war (es wurde zuerst während der französischen Revolution formuliert), dass die staatsbürgerliche und nationale Identität auf die gleiche Grundlage gesetzt werden sollen. Das erste Kriterium der Nation wurde (ausgesprochen oder unausgesprochen), dass sie eine Verwaltungseinheit zu bilden und darin eine mehrheitliche Position annehmen kann. (Staatsnation) Nach unserer Auffassung muss man auf die Jahrhunderte vor der Staatsnation zurückgreifen, damit man erkennen kann: die verschiedenen Elemente der nationalen Identität (ethnisches Bewusstsein, sprachliche Identität, traditionelle Identität) waren seit Jahrtausenden Eigenartigkeiten des menschlichen Geschlechts. Diese Bewusstseins- und emotionalen Kräfte werden, obwohl noch nicht bekannt im welchen Maße, auch im 21. Jahrhundert präsent sein. Wir definieren die Nation in erster Linie auf kultureller Grundlage und verwenden deshalb für das 20.–21. Jahrhundert Herders Begriff der „Kulturnation” (1976). Wir unterschätzen die Rolle des Staates (bzw. des Verwaltungssystems) in der Bewahrung der nationalen Identitäten nicht, unseres Erachtens nach werden sich jedoch im 21. Jahrhundert die Verwaltungs- und sozial-kulturellen Leistungen des Staates verstärken und unter diesen wird auch die Pflege der nationalen Kultur präsent sein.

Die Kulturnation ist unabhängig von den Staatsgrenzen die Gemeinschaft der Personen, die sich zu der gleichen Nation bekennen.

4. Verwaltung und nationale Zugehörigkeit

Die neue industrielle-technische Revolution und die Globalisation erhöhen schnell den geistigen und den Bewegungsradius des Individuums. Unsere Hypothese: der Primat der Identität nach dem Wohnort (also nach der Verwaltungseinheit: Staat, Region, Gemeinschaft usw.) wird erhalten bleiben, vor allem wegen der Aufrechterhaltung der Steuerbezahlung und damit der Administration in der Verwaltung. Auch die Identitäten auf kultureller Grundlage werden sich jedoch verstärken, die sich aus dem Erkenntnis der Wichtigkeit von **?**Homo ludens**/?** ergeben.

In der untersuchten ostmitteleuropäischen Region verstärkten sich die anhand der Einteilung der Verwaltung entstandenen Identitäten im 20. Jahrhundert. Die staatsbürgerliche Identität konnte jedoch die kulturnationale Identität nicht dermaßen übersteigen wie in Westeuropa. Dessen Ursache ist: die Grenzen der Verwaltung passten sich in der Region nie an die Grenzen der ethnischen-nationalen Gebiete an. Die Versuche, dies zu erreichen mussten immer wieder scheitern (1918–20, 1938–41, 1945–47, 1991–92) oder brachten für die Gesellschaft der Region unendliches Leid. Die Behandlung der nationalen Frage hat deshalb bezüglich der „menschlichen Zukunft” der Region eine sehr große Relevanz.

5. Nationale Mehrheit und Minderheit

Am Schicksal der Minderheiten ist der Humanismus der gesellschaftlichen Einrichtung zu erkennen (egal ob es um nationale oder religiöse Minderheiten geht). Die Aufrechterhaltung der nationalen Minderheiten ist eine Bedingung der Vielfältigkeit der Region. Aber auch seine direkte Nützlichkeit ist stark: wenn sich die regionalen – von den Staatsgrenzen unabhängigen –, wirtschaftlichen-kulturellen Kontakte verstärken, dann kann die muttersprachliche Minderheitenbevölkerung auf der anderen Seite der Grenze der lokale Organisator der grenzübergreifenden Kontaktsysteme sein.

6. Die Pflege der nationalen Identitäten

Unsere Überzeugung: die Aufrechterhaltung der nationalen Kulturen ist auch eine menschliche-politische Entscheidung. Die Aufrechterhaltung der nationalen Identitäten ist zugleich eine Frage der Aufrechterhaltung der menschlichen Vielfältigkeit. Die Pflege der nationalen Identität muss deshalb aus dem Geld der Steuerzahler finanziert werden und gehört zu den sogenannten gemeinschaftlichen Aufgaben. Im Zeitalter der industriell-technischen Revolution verändert sich die ganze Kultur der Kontakte, so können die Träger der nationalen Identität (Sprache, Gewohnheitssystem, Tradition) auch nur weiterexistieren, wenn sie sich an die neuen gesellschaftlichen-technischen Umstände anpassen. Diese Anpassung ist teilweise ein spontaner Prozess, sie kann jedoch – unsere Meinung wiederholend–auch stark beeinflusst werden.

Es muss zur Diskussion gestellt werden, dass die Aufrechterhaltung der nationalen Identitäten durch folgende Faktoren beeinflusst werden:

– a) Die Zukunft der Sprachen und die Möglichkeit zu ihrer Modernisierung

– b) Die Kulturpolitik (die Kulturpolitik der staatlichen und der privaten Sphäre sowie die Medien inbegriffen)

– c) Die Bewegungen in der Verwaltung und der Wirtschaft der Region (europäische Integration, neuer Regionalismus, Wirtschaftsbündnisse in der Region usw.)

– d) Traditionelle Elemente des öffentlichen Denkens (das historische Bewusstsein)

 

III. Forschungsthematik

Die für 4 Jahre geplante Forschung verfolgt die Themen, die nach unserer Hypothese die Zukunft der Nationen beeinflussen werden.

1. Die Sprachen der ostmitteleuropäischen Region

Die englische Sprache und die regionalen **?**Linguae Francas**/?** in der Region. • Die deutsche Sprache und die russische Sprache als regionale **?**Linguae Francas**/?**. • Die Modernisierung der einzelnen kleinen nationalen Sprachen und die sprachlichen Programme der Region (Gesetz, Übersetzungsprogramm usw.) • Die muttersprachlichen Probleme der als nationale Minderheiten lebenden Volksgemeinschaften.

Die Statistik der nationalen Sprachen in der ostmitteleuropäischen Region.

2. Das Weiterleben und die Modernisierung der nationalen Tradition

Der Gesichtsunterricht in der Region mit besonderer Rücksicht auf das Verhältnis der kontinentalen, regionalen und nationalen Geschichte. • Die Untersuchung des Bildes von den Anderen in den Geschichtsbüchern. • Vorschlag zur Akzeptanz der regionalen Grundsätze im Geschichtsunterricht der Region.

3. Die Pflege der Kulturpolitik und der nationalen Identität

Die nationalen Gesichtspunkte der Kulturpolitik: Tradition und Modernisierung. • Kulturpolitik nach der Auflösung des Staatensystems der Proletardiktatur. • Staatliche und private Medien.

Minderheitenpolitik, Statuspolitik, Kulturpolitik. • Die nationalen Minderheiten der ostmitteleuropäischen Region und der Kodex der Minderheitenpolitik. • Die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern und in den Überseeländern. • Nicht-ungarische Minderheiten in Ungarn.

Die Europäische Union und die Faktoren der Bewahrung der nationalen Identität. • Die Europäische Union und der Schutz der Nationalitätenminderheiten.

Die Kulturpolitik der Zivilorganisationen. • Die Akademie und die Kulturvereine als mögliche Organisationen einer neuen Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert.

 

IV. Publikationen

1. Monographie

Die Publikation einer Monographie mit dem Titel **?**Die Zukunft der kleinen Nationen in Ostmitteleuropa**/?** in einem Umfang von 20 Bogen, in der die oben erwähnten Themenkreise je einen größeren Abschnitt bilden.

2. Handbüchern mit Datenbanken

a) Die statistischen Daten der kleinen Nationen in Ostmitteleuropa (Kreis der Datensammlung soll zur Diskussion gestellt werden).

b) Die historische Chronologie der Minderheiten in Ostmitteleuropa. 1920–2002.

c) Die Bibliographie der sich mit den kleinen Nationen in Ostmitteleuropa beschäftigenden historischen und politischen Fachliteratur.

3. Konferenzen

Die Veranstaltung von **?**brain stormings**/?** vor der Ausarbeitung der einzelnen Themenkreise sowie von internationalen Fachkonferenzen nach Abschluss der Ausarbeitung.

4. Sonstige Publikationen

Die Bücherreihe des Europa Instituts Budapest (**?**Begegnungen**/?**) veröffentlicht die Ergebnisse der Arbeiten regelmäßig auf Deutsch und Englisch. (**?**Begegnungen**/?** bzw. **?**Crossroads**/?**)

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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:11–14.

FERENC GLATZ

Im Interesse der kulturellen Diversität Europas

Ansprache anlässlich der Überreichung des Preises

 

Sehr geehrter Herr Staatspräsident,

Herr Vizekanzler,

geehrte Herren Botschafter,

verehrter Herr Batliner und Präsident Kosáry,

werte Freunde!

 

Eine der wunderbarsten Besonderheiten der europäischen Kultur ist ihre Vielfarbigkeit – die ethnische und konfessionelle Vielfalt. Biologen sprechen von einem Begriff der biologischen Diversität, d.h. davon, dass einer der bedeutendsten Schätze der Natur ihre Verschiedenheit ist. Und sie sprechen davon, dass es eine der wichtigsten Aufgaben des Umweltschutzes ist, die biologische Diversität zu wahren, zu verhindern, dass gewisse Tier- und Pflanzenarten aussterben. Werte Freunde, gern verwende ich nach dem Vorbild des Begriffes von der biologischen auch jenen der kulturellen Diversität. Die Wahrung der kulturellen Diversität, d.h. der kulturellen Vielfalt sollte eines der Ziele der Menschheit sein. Die Wahrung der einen ist eine ebenso wichtige Aufgabe, wie der Erhalt der anderen. Das 21. Jahrhundert wird jenes von Globalisierung und Integration sein, und das ist gut so. Das 21. Jahrhundert sollte keines der Uniformierung sein. Wir sollten alles daran setzen, die auf unserem Globus existierenden zahllosen Kulturen – die vielen Sprachen, Sitten und Verhaltensformen – auch im 21. Jahrhundert beizubehalten.

Meine Generation bemüht sich seit Jahrzehnten um die Wahrung, den Beibehalt der Vielfalt der europäischen Kultur. Zunächst durchlebten wir die Verkehrsrevolution, dann mit den Telefonen jene der Informatik. Parallel dazu waren wir Zeugen einer Explosion der Massenkommunikation, auf dem Gebiete von Rundfunk und Fernsehen. Und gegenwärtig sind wir Zeugen einer kulturellen Globalisierung, von der wir fürchten, dass sie für gewisse Bereiche die Uniformierung bedeutet. Von uns hängt ab, ob die Kulturen der kleinen Nationen im Rahmen der globalen Kultur bestehen und sich zu erneuern vermögen oder aber in Subkulturen versinken. Traurig müssen wir mit ansehen, wie die Verwaltung des französischen Nationalstaates anderweitige Kulturen auf dem Territorium seines Landes lebender vieler Millionen unterdrückt – denken wir doch nur an die der Okzitanen, Bretonen usw. Mit Bedauern sehen wir, wie mit dem Voranschreiten der Integration der Gebietsverwaltung in Großbritannien die Kultur von Wales z.B. im 18.–19. Jahrhundert auf das Niveau der Subkultur sinkt. Französische Bretonen und walisische Familien in England sprechen ihre Sprache ausschließlich im Gemeinde- und Verwandtenkreis. Somit werden praktisch jene in eine Subkultur gedrängt, die nicht in der Lage waren, sich die Staatssprache – das Englische oder Französische – vollkommen anzueignen. Jetzt haben sie, die kleinen Nationen, an der Schwelle des 20.–21. Jahrhunderts Angst davor, dass die Lingua franca und in erster Linie das Englische eine Konservierung der Sprachen dieser Kulturen zur Folge haben, da in kleinen Kulturen aufwachsende Menschen im Interesse ihres Vorankommens die Weltsprachen sprechen müssen. Wird dies nun tatsächlich die Zukunft sein – ein oder zwei Großkulturen ringen die kleinen Kulturen nieder? Denn dies liegt ja auch im Interesse von Wirtschaft, Handel und Wissenschaft, d.h. allem, was von Natur aus global ist.

Wir sind viele – und ständig mehr –, die es als ihre Aufgabe erachten, das 21. Jahrhundert zu einem multikulturellen zu gestalten, die gewisse kulturelle Diversität am Leben zu erhalten. Die das Europa Institut gründenden Persönlichkeiten, meine Freunde Herbert Batliner und Erhard Busek sowie ich haben das Europa Institut Budapest im Jahre 1989 von jener Zielsetzung geleitet geschaffen, die auf dem Kontinent Europa existierenden Kulturen miteinander bekannt zu machen, damit im Rahmen der europäischen Integration eine jede kleine Nation – und so auch die ungarische – ihren Platz finden kann. Im Mittelpunkt der bisherigen 10jährigen Tätigkeit des Europa Institutes stand immer der Erhalt der kulturellen Vielfalt Europas. Schon deshalb freut es mich, dass diesjähriger Preisträger des von Herrn Batliner gestifteten Corvinus-Preises Paul Lendvai sein wird, ein Kollege, der im Verlaufe der vergangenen 30 Jahre so viel für Bekanntmachung und Emanzipation der kleinen Nationen Mitteleuropas in Europa tat. Jetzt, an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhundert, werden wir uns dessen bewusst, dass die in der Region seit Jahrhunderten gemeinsam lebenden und so oft einander feindlich gegenüber stehenden kleinen Nationen mehr gemeinsame Interessen verbinden als widersprüchliche Interessen sie trennen würden. Das Europa Institut vergibt deshalb Stipendien an Forscher aus aller Welt und gibt den Stipendiaten aus Rumänien, Russland, China, Afrika, Amerika usw. eine gemeinsame Heimstatt, damit die Welt Kenntnis von der europäischen und mitteleuropäischen kulturellen Vielfalt erhält und sie schätzen lernt.

Der Corvinus-Preis wurde von Herrn Herbert Batliner gestiftet und der Stiftungsrat des Institutes verleiht ihn alle zwei Jahre. Er dient dem Ziel, Personen auszuzeichnen, die sich aktiv an der Knüpfung geistiger Beziehungen zwischen jenen kleinen Nationen und ihren Nachbarn bzw. zur ganzen Welt beteiligen. Erstmals erhielt diesen Preis 1997 der Regisseur István Szabó, dann 1999 Andrei Pleşu und in diesem Jahr nun bekommt ihn Paul Lendvai. Regisseur und Oscarpreisträger István Szabó hat im vergangenen Jahrzehnt vielleicht am meisten geleistet, um historische und gesellschaftliche Werte Ostmitteleuropas und Ungarns der Welt zu vermitteln. Neben herausragendem Intellekt und Talent hatte er das Glück, sich in jungen Jahren einer kenntnisvermittelnden Technik, dem Film, zuzuwenden, welcher sich inzwischen zum erstrangigen Mittel der Vermittlung von Kenntnissen in der Welt entwickelte. Andrei Pleşu war 1999 Außenminister Rumäniens, 1989 Kultusminister seines Landes – zur gleichen Zeit da Erhard Busek österreichischer und ich selbst ungarischer Kultusminister waren. Andrei Pleşu machte sich um die Bekanntmachung des rumänischen Volkes in Europa verdient, die Stärkung der rumänisch-ungarischen und rumänisch-slawischen Beziehungen, des Europagedankens aus Bukarester Sicht. Paul Lendvai, d.h. Lendvai Pál, Intendant des österreichischen Rundfunks und Fernsehens, ist der bekannteste Osteuropa-Experte auf dem Gebiet der gedruckten und elektronischen Medien. Wir müssen hinzufügen, dass er – egal ob in London, Amerika oder auf dem Balkan – die Interessen des Erhaltes der Kulturen kleiner Nationen Osteuropas mit außerordentlicher Empathie vertritt. (In Klammern sei noch angemerkt: zwar ist seit 1956 Österreich seine Heimat und in London bewegt er sich – teils seiner Gattin wegen – wie auf heimischem Terrain, doch betont er überall und immer wieder, dass er alle Sprachen mit Ausnahme des Ungarischen nur mit Akzent spreche – und zwar mit ungarischem Akzent.) Lendvai also personifiziert die Emanzipierung der Kultur kleiner Nationen. Kultur der kleinen Nation sowie Traditionswelt sprechen zwar unterschiedliche Sprachen, was aber nur soviel bedeutet, dass mit sich gebrachte Traditionen der Kultur kleiner Nationen ein globales Forum erhalten.

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ganz besonders freut mich, dass Herr Staatspräsident Ferenc Mádl unsere heutige Veranstaltung mit seiner Anwesenheit ehrt. Ferenc Mádl ist eines der Gründungsmitglieder des Europa Institutes, von Beginn an im Wissenschaftlichen Beirat vertreten. Das Institut wurde derzeit zu 100 % aus Privatgeldern finanziert und es war sein Ziel, der Intelligenz ein Zivilorgan sowie ein Zivilforum zu bieten. Herbert Batliner als Stifter und bisheriger Spiritus rektor des Institutes, Domokos Kosáry sowie wir, die Mitglieder der jüngeren Generation – Erhard Busek, Lajos Vékás, Károly Manherz – wünschten, ein solches Institut zu gründen, welches mittels Publikationstätigkeit und Erziehung von Jugendlichen zu einer Institution der Autonomie europäischer Intelligenzler zu werden vermag. Egal, wohin uns das Schicksal trieb – über einen kürzeren oder längeren Zeitraum hinweg waren wir in der staatlichen oder wirtschaftlichen Administration tätig: doch wir sind immer Intellektuelle geblieben, haben immer an die Gesellschaft auf der Basis des Wissens geglaubt, an die Werte vermittelnde Bildung – und so blieben wir auch bei der Ausübung von Amtshandlungen autonome geistige Intellektuelle. Dies trifft auch auf Ferenc Mádl zu, der 1990 zunächst in der Administration arbeitete, 1993–94 Minister war, nun Staatspräsident ist und Intelligenzler blieb. Schon aus diesem Grunde begrüßten die ungarischen Intellektuellen seine Wahl zum Staatspräsidenten. Die europäische Elite freut sich besonders, weil auch der Intelligenz ein Platz in der Politik zukommt, neben jenen Berufspolitikern, die sich gern als professionelle Politiker bezeichnen. Wir sind also glücklich darüber, dass die Intelligenz ebenfalls in der Politik vertreten ist, doch haben wir natürlich Angst, dass die Parteipolitik gleichfalls bei den Intelligenzlern Einzug hält. Auch das Europa Institut politisiert – nicht aber im parteipolitischen Sinne des Wortes. Uns interessiert die auf lange Frist zur Geltung kommende kulturelle und ökonomische Tätigkeit der auf dem europäischen Kontinent lebenden Gesellschaften. Wir wünschen, dem neuen europäischen öffentlichen Leben Geltung zu verschaffen. Wir möchten Intellektuelle erziehen, die als stolze Bürger bei der Gestaltung einer wettbewerbsfähigen europäischen Wirtschaft, Kultur und Politik mitwirken.

 

Geehrte Damen und Herren!

Die Gründer des Europa Institutes und seine gegenwärtigen Mitarbeiter möchten veranschaulichen, dass die klassische griechisch-römische Demokratie, die Selbstorganisation der Bürger und zivile Foren im 21. Jahrhundert eine Zukunft haben. Auch der Corvinus-Preis möchte diesen Optimismus kräftigen.

Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.

Begegnungen16_Busek

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:15–23.

ERHARD BUSEK

Laudatio

 

Sehr geehrter Herr Staatspräsident!

Lieber Feri Glatz!

Verehrter Senator Batliner!

Vor allem lieber Paul Lendvai!

 

Zum dritten Mal vergibt das Europa Institut Budapest den Corvinus-Preis. Nach István Szabó, dem herausragenden Filmregisseur und Dokumentator des mitteleuropäischen Geschehens und Andrei Gabriel Pleşu, dem Schriftsteller und Literaten eines geistigen Europas zwischen Ost und West ist es heuer Paul Lendvai, dem dieser Preis zuerkannt wurde. Angesichts der Vielgestaltigkeit des Lebens des Geehrten ist es nicht ganz einfach, die Aufgabe des Laudators wahrzunehmen. Zunächst aber ein paar Worte zum Hintergrund dieses Preises: Über Anregung von Senator Dr. Dr. Herbert Batliner hat das Europa Institut unter tätiger Mitwirkung seines Direktors Präsident Prof. Ferenc Glatz diesen Preis geschaffen, um nicht nur das Andenken des großen Ungarns und mitteleuropäischen Herrschers Matthias Corvinus zu ehren, sondern damit auch jener Gemeinsamkeit Ausdruck zu geben, die zu seiner Zeit das Kennzeichen seines Reiches war. Die Mitte Europas wurde unter seiner Krone für kurze Zeit vereint, die kulturelle Vielfalt fand ihren Ausdruck in großen geistigen und künstlerischen Leistungen und nicht umsonst haben die Staaten in der Mitte Europas das Burgschloss Visegrad als ihr Symbol gewählt, wobei ich als Österreicher anmerken darf, dass wir eigentlich auch dazugehören, denn die Wiener haben Matthias Corvinus auch gehuldigt. Es ist nur konsequent, wenn das Europa Institut Budapest mit diesem Preis seine Tätigkeit dokumentiert, die seit mehr als zehn Jahren der aktiven Verständigung, der gemeinsamen Erforschung der Geschichte sowie der Bewahrung und Entwicklung der Vielfalt in der Mitte des Kontinents dient. Der Tätigkeitsbericht gibt darüber Auskunft was in der Zwischenzeit gelungen ist, um jenseits aller Erweiterungen und Beitrittsverhandlungen eine Erweiterung des Geistes und damit auch der Herzen vorzunehmen.

Gestatten Sie mir auch ein Wort des Dankes an den Benefaktor des Instituts und des Preises zu sagen, nämlich an meinen Freund Herbert Batliner. Ich habe die Auszeichnung, einiges an seinem Wirken verfolgen zu dürfen, wo eine Person zeigt, was sie jenseits aller Politik bewirken kann. Der herausragende Repräsentant eins Microstaates, des Fürstentums Liechtenstein, hat es auf eine systematische Weise verstanden, durch das Europa Institut Budapest, aber auch das Europa Institut Salzburg, durch die Stiftung des Kleinstaatenpreises, durch sein Wirken in den Stiftungen Propter Homines und Peter Kaiser sowie auf den verschiedensten Ebenen zu zeigen, was ein Mensch bewirken kann. Nun könnte mancher sagen, dass dies mit Geld leicht zu besorgen sei. Dem ist entgegenzuhalte, dass es viele gibt die auch über Mittel verfügen, sie aber nicht auf diese Weise anwenden, um einen Beitrag zur Humanisierung in Europa zu leisten, nicht im Zeitgeist, sondern im Geist in der Zeit einen Tribut zu zollen und Möglichkeiten zu schaffen. Es wird auch langsam an der Zeit, dieses Netzwerk an Taten zu dokumentieren, denn gerade in der jüngsten Vergangenheit war es leicht, an jemandem Kritik zu üben, um eventuell dem Finanzplatz Liechtenstein zu schaden, anstelle zu würdigen was hier im Dienste des Menschen, also „propter homines” geschehen ist. Herbert Batliner sei dafür Dank gesagt, wobei das Gelingen des Werkes sicher der größte Dank für ihn ist.

Meinem Freund Paul Lendvai die Laudatio zu halten, ist für mich eine große Auszeichnung, es war aber auch ein Anlass, ein Leben revue passieren zu lassen, das eigentlich alle Probleme, Schmerzen und Chancen des 20. Jahrhunderts wiederspiegelt und dem 21. Jahrhundert eine Perspektive gibt. Ich bitte davon absehen zu dürfen, ein chronologisches Bild des Lebenslaufes zu geben, allzu reich ist er und es wäre kaum möglich, differenzierende Facetten so präzise zu zeigen, um einer Persönlichkeit wie Paul Lendvai gerecht zu werden. Lassen Sie es mich daher in groben Strichen tun, denn das umfangreiche Werk von zehn Büchern, vor allem sein Buch „Auf schwarzen Listen – Erinnerungen eines Mitteleuropäers” geben genau Auskunft über sein Leben wie es auch sein letztes Werk über Ungarn hinsichtlich seiner Nation tut. Eine kleine Anmerkung: In Deutsch geschrieben wurde es vor kurzem ins Ungarische übersetzt und blickt einer Translation ins Rumänische entgegen, was unter den besonderen Umständen dieser Region von entscheidender Bedeutung ist.

Wie gehen jene Betrachter des Westens auf die heutige Situation zu, die Paul Lendvai in seinem medialen Wirken immer versucht sichtbar zu machen. Bewusst sei es wiederholt: 1989 hat nicht nur die Welt auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs verändert, sondern auch das westliche Europa tief beeinflusst. Sicher waren die Gründe, die zunächst, nach dem Zweiten Weltkrieg, zur europäischen Integration geführt haben, andere als die, die man heute ins Treffen führen kann. Bei Winston Churchills seherischer Rede an der Universität Zürich 1946, wo er die Vereinigten Staaten von Europa forderte, war es der Schock des Krieges und die Erkenntnis, nicht weiterhin in der Art und Weise Politik machen zu könne, wie das vom 19. Jahrhundert auf das 20. in Europa überkommen war. Bei Jean Monnet war es sicher der deutsch-französische Konflikt, der den Gedanken an die Montanunion aufkommen ließ und damit die Richtung zu den europäischen Gemeinschaften wies. Bei Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer war es wohl nicht zuletzt ein gemeinsamer christlicher Hintergrund, eine historische Vision, die aus der Vergangen- heit auf die Zukunft umgelegt wurde.

In Wahrheit aber war die Triebfeder in der Herausforderung durch den Sowjetblock zu sehen, in der Sehnsucht, diesem gegenüber politisch geeint, wirtschaftlich gefestigt und sozial gesichert eine Gemeinschaft darzustellen, die mit Rückendeckung der USA dem militärischen, wirtschaftlichen und politischen Ansturm des Kreml standhalten konnte. Die Aggressivität des Sowjetsystems ist heute vergessen, dabei hat erst Chruschtschow mit seiner These der Koexistenz andere Verhältnisse in Europa geschaffen. Man vergisst heute leicht, dass den Vorstellungen vom Endziel des Adolf Hitler die Ankündigung des Endsiegs des Sowjetsystems, des Stalinismus-Leninismus und die klassenlose Gesellschaft gefolgt sind.

Erst heute, mit Abstand, sehen wir, dass es die Erfahrung der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Herausforderung durch ein anderes ideologisches System gewesen sind, die die Politiker die Hürden zur Integration überwinden ließen. Dazu kam die Sehnsucht der damals jungen Generation, ein neues Europa zu haben, das nicht Grenzen kennt, sondern Grenzen abbaut. Zahlreiche europäische Bewegungen, Institutionen und Werke sind damals entstanden, die heute längst in die Jahre gekommen sind und ihren Schwung, meist aber auch ihre Begründung verloren haben. Darin ist gar keine Kritik zu sehen, sondern einfach das Faktum, dass so manches mit der Zeit veraltet, wobei auch angeführt werden darf, dass so manche Verheißung in Erfüllung gegangen ist. Mag sein, dass der Wohlstand, die Bequemlichkeit und die Sattheit unserer Zeit dazu geführt haben, dass sich niemand über die Fortführung der damaligen Ideen den Kopf zerbrochen hat.

Damit sind wir beim gegenwärtigen kritischen Punkt: Der Druck des Konflikts mit einem anderen System ist weggefallen, die Phantasie in der Politik hat abgenommen, die Ängste jedoch sind stärker geworden. Mehr denn je regredieren die Regierungen auf nationale Gesichtspunkte. Der englische Premier Tony Blair etwa hat trotz der im Vergleich zu seinem Vorgänger europafreundlicheren Optik klar erkennen lassen, dass es die englischen Interessen sind, die er vertritt. In allen Ländern machen sich politische Gruppierungen breit, die den nationalen Egoismus mit populistischen Standpunkten befördern und damit ihre Regierungen unter Zugzwang bringen. Offensichtlich wird nachgegeben, um das aufzufangen, wobei sich mehr und mehr die Frage stellt, wer Europa noch gegen diese Tendenzen vertritt? Die Europäische Kommission in Brüssel kann es nur als Verwaltungseinheit tun; gedanklich wäre es eigentlich eine Sache des europäischen Bürgers, sich seiner selbst und seiner Zukunft anzunehmen.

Warum diese grundsätzlichen Überlegungen? Weil wir mit Paul Lendvai jemanden anerkennen, der aus einem ganz anderen persönlichen Erleben zu eben diesem Europa gekommen ist. Hineingeboren in die Welt vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, die bereits von Nationalisten jeder Art beherrscht war, geprägt von dem Erleben einer Zeit, wovon in Ungarn nicht nur das politische System, das Admiral Horthy Miklós als Symbolfigur hatte, geprägt war, sondern natürlich auch von dem Einfluss des Großdeutschen Reiches später den Pfeilkreuzlern, die mit Hilfe Hitlers die Macht übernahmen und versuchten, den Nürnberger Rassengesetzen auch in Ungarn jene Geltung zu verschaffen, die zu den verheerenden Ausprägungen des Holocaust geführt haben. Unter diesem Eindruck geht der junge Paul Lendvai in die Welt der Linken, in den verschiedenen Schattierungen und in jene Unübersichtlichkeit, die Transformationszeiten um 1945 an sich hatten. In seinen Lebenserinnerungen beschönt Paul Lendvai nichts. Er bekennt sich zu seinen Haltungen, zu den Problemen und Irrtümern, zu den Mühseligkeiten, aber auch Hoffnungen, die es damals gegeben hat. Das ist der andere Bezug zu Europa, den ich damit anführen möchte, der aus einer Erfahrung gewonnen wurde, die auf der Seite des Westens auf der einen Hälfte des Kontinents erspart geblieben ist, ja sogar zur Triebfeder der Integration wurde. Schwer ist es, ein Urteil zu fällen, denn eigenes Erleben sieht immer anders aus.

Paul Lendvai hat sich die Gabe der Unterscheidung erhalten, die ihn von einem Journalisten in einem wenig überzeugenden System zu einem Überzeugungstäter der Demokratie und Freiheit medial gemacht hat. Unendlich spannend ist es, die Facetten seiner Entwicklung in Ungarn zu dieser Zeit zu verfolgen, bis es Lendvai gelang, über Warschau in den Westen bzw. nach Österreich zu kommen. Sein Weg führt ihn über verschiedene Korrespondententätigkeiten zur Financial Times, mit der er in der Außendarstellung Österreichs zweifellos gestaltend und stilprägend wurde, zum wichtigen Journalisten in der Ära Bruno Kreisky und schließlich von dort zum ORF und zu Gerd Bacher. Von da wieder entscheidende Taten zu setzen, wie es sein legendäres „Oststudio”, das „Europastudio” heute, seine Intendantentätigkeit bei Radio Österreich International und zahllose Berichte und Filme beweisen. Dass die Buchproduktion nicht zu kurz kam, wurde schon erwähnt, wobei sich Lendvai auch hier dem Phänomen des Jüdischen stellt, in dem Bewusstsein, dass man im Europa des 20. Jahrhunderts darüber nicht ruhig reden kann. Er ist ein Repräsentant jenes aus der jüdischen Tradition kommenden Talents des Unterscheidens und Abwägens, der talmudischen Überlegung und der Beurteilung der Phänomene der Zeit, die zu einer ungeheuren kulturellen Leistung des Judentums in der Mitte des Kontinents geführt haben, die wir unter Schmerzen vermissen und immer wieder feststellen müssen, dass es Anlässe zum Rückfall in den Ungeist vergangener Zeiten gibt. Diese Wachheit hat Paul Lendvai auch ins Gefängnis geführt und ist dafür verantwortlich, dass er von der östlichen Reichshälfte systematisch auf „schwarzen Listen” geführt wurde, was ihn in seiner beruflichen Tätigkeit naturgemäß behinderte und auch nicht spurlos an seiner Familie vorüberging. Um so mehr war es seine Tätigkeit in den elektronischen und Printmedien, aber auch in Büchern, auf diese Situation einzugehen. Er ist auf eine gewisse Weise stilprägend geworden, wobei die „Europäische Rundschau” eine Quartalsschrift, die umfassend das Zeitgeschehen der letzten Jahrzehnte dokumentiert hat, eine der Spitzenleistungen eines europäischen Journalismus darstellt, weil sie in eben dieser europäischen Rundschau jederzeit nachlesen können was zur jeweiligen Zeit die wirklichen Themen gewesen sind. Unvergessen sind die Diskussionssendungen die z. B. in Warschau oder Moskau in kommunistischen Zeiten durchgeführt wurden und auch in diesen Ländern unter Schwierigkeiten gesendet wurden.

Aus welcher Grundhaltung unternimmt dies Paul Lendvai? In seiner autobiographischen Darstellung verweist er darauf, dass die Welt des kommunistischen Systems auch ihre Einflüsse aus dem Literarischen genommen hat, zum Beispiel durch Stefan Zweig. Dieser Hinweis hat mir für vieles an Paul Lendvai Erklärung gegeben, er ist quasi ein journalistischer Stefan Zweig unserer Zeit. Wir können gerade daraus unendlich viel lernen.

Wenn wir uns heute die Frage stellen, was den europäischen Bürger ausmacht, dann müssen wir an die Wurzeln gehen. Eine der Schwächen des gegenwärtigen Prozesses einer neuen Entstehung Europas besteht darin, dass wir ihn allzu einseitig ökonomisch sehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Gemeinsamkeiten klar: Nie wieder Krieg, Frieden, Stabilität und Wohlstand – und es war damals aus der Erfahrung der Kriegsgeneration geboren. Eine gemeinsame Währung erzeugt heute noch lange keine gemeinsamen Grundlagen, eine integrierte Gesetzgebung bedeutet nicht, dass wir den nächsten Generationen zu sagen wissen, was dieses Europa in Wirklichkeit bedeutet. Offen gesagt: Dafür kann auch keine Europäische Kommission oder gar der Ministerrat zuständig sein. Ich würde mich sogar davor fürchten, wenn nun die Regierungen daran gehen, quasi das geistige Europa zu beschließen, durch Werbeagenturen zu kreieren oder es durch eine europäische Verfassung zu erzeugen. Das ist vielmehr ein geistig-kultureller Prozess der in den Hirnen und Herzen der Bürger dieses Kontinents vor sich gehen muss. Dabei brauchen wir uns gar nicht einzubilden, dass es sich um etwas Neues handelt, denn dieses Europa, gemeinsam in den Wurzeln, vielfältig im Erscheinungsbild und dennoch von einem großen Rahmen umfasst, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Denken wir doch an die Universität, die in Wirklichkeit eine europäische Gründung gewesen ist und ursprünglich nicht Mobilitätsprogramme wie Erasmus und Sokrates gebraucht hat, um die Gemeinsamkeit des Kontinents und den Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses abzugeben.

Genauso war es in der Zeit, in der Stefan Zweig gelebt hat. Sie hatte vor dem Ersten Weltkrieg einen gemeinsamen Rahmen, ein geistiges Gerüst und die Kraft, ihre Vielfalt als eine Stärke zu verstehen. Den primitiven und brutalen Angriffen machtgieriger und dummer Menschen hat diese Welt nicht stand- gehalten. Stefan Zweig ist ein Hinweis darauf, was gedacht werden kann, die Realisierung heute aber so zu gestalten, dass sie in demokratischer Weise hohe kulturelle Qualität hat, Europa nicht von anderen abschließt, sondern öffnet und mehr und mehr zu einer Gemeinsamkeit des Denkens führt, das ist unsere heutige Aufgabe. Und Stefan Zweig hat uns viel dazu zu sagen!

Seinen großen Abschied, seine Vorwegnahme des Abganges durch den Freitod aus einer schrecklich gewordenen Welt, in dem beeindruckend bedrückenden Buch „Die Welt von gestern” hat der Autor mit „Erinnerungen eines Europäers” untertitelt. Mag sein, dass es die Verklärung des Rückblicks ist, die einem entgegenschlägt. Er beschreibt aber jenen Geist der europäischen Gemeinsamkeit, den auch die heutige Zeit unbedingt braucht. Seherisch klingt es, wenn Zweig berichtet: „Wir jauchzten in Wien, als Blériot den Ärmelkanal überflog, als wäre es ein Held unserer Heimat; als Stolz auf die sich stündlich überjagenden Triumphe unserer Technik, unserer Wissenschaft war zum ersten Mal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewusstsein im Werden. Wie sinnlos, sagten wir uns, diese Grenzen, wenn sie jedes Flugzeug spielhaft leicht überschwingt, wie provinziell, wie künstlich diese Zollschranken unserer Grenzwächter, wie widersprechend dem Sinn unserer Zeit, der sichtlich Bindung und Weltbrüderschaft begehrt!”

Wäre dieser Text nicht auch heute angebracht in einer Zeit, wo sich wieder die Erfindungen überschlagen, wo wir Grenzen als lächerlich empfinden, von Globalisierung reden und nicht in der Lage sind, den Kontinent so zu gestalten, dass es auch eine Freizügigkeit nicht nur der Touristen, sondern auch des Geistes gibt. Glänzend sind die Errungenschaften, die uns geschenkt sind, Telekommunikation ermöglicht heute quasi geistig an allen Orten der Welt gleichzeitig zu sein. Es kann gelingen, wenn wir die Faszination auch in die richtigen Wege leiten. Stefan Zweig warnt an anderer Stelle: „Herrlich war diese tonische Welt von Kraft, die von allen Küsten Europas gegen unsere Herzen schlug. Aber was unserer beglückte, war, ohne dass wir es ahnten, zugleich Gefahr. Der Sturm von Stolz und Zuversicht, der damals Europa überbrauste, trug auch Wolken mit sich. Der Aufstieg war vielleicht zu rasch gekommen, die Staaten, die Städte zu hastig mächtig geworden und immer verleitet das Gefühl von Kraft Menschen wie Staaten, sie zu gebrauchen oder zu missbrauchen.” Auch diese Sätze gelten heute, denn die insbesondere seit 1989 beschleunigte Entwicklung stellt uns vor große Fragen. Zu rasch ist sie gekommen, zu wenig waren wir darauf vorbereitet und wieder gilt für unsere heutige Situation, das was Stefan Zweig schreibt: „Und dann: was uns fehlte, war ein Organisator, der die in uns latenten Kräfte zielbewusst zusammenfasste. Wir hatten nur einen einzigen Mahner unter uns, einen einzigen weitvorausblickenden Erkenner, dass das Merkwürdige war, dass er mitten unter uns lebte und wir von ihm lange nichts wussten, von diesem uns vom Schicksal als Führer eingesetzten Mann.” Zweig meinte allerdings nicht mit dem Wort „Führer” jene erschreckende Figur, die uns Konsequenzen beschert hat, an denen wir heute noch laborieren, sondern für ihn war es Romain Roland. Es lässt aber in uns die Frage reifen, ob wir jene Leitfiguren kennen, die uns Orientierung in der erscheinenden Flucht geben. Kennen wir heute jene europäischen Figuren, die zweifellos nun einmal eine Landschaft wie die unsere braucht, um den Weg zur Zukunft zu finden?

Paul Lendvai ist längst ein solcher Europäer geworden. Bescheiden bezeichnet er sich als Mitteleuropäer, wobei ich darunter eher den Kosmos dieser Region verstehe, der in seiner Reichhaltigkeit unendlich viel enthält, das jeweils aus dem Westen oder Osten, Süden oder Norden genommen wurde und bei uns eine Rolle spielt. Es ist die Heimat seiner Geburt Ungarn, die Heimat seiner Wahl Österreich, aber schließlich jenes Europa, das wir herbeisehnen und versuchen Stück um Stück zu verwirklichen. Lendvai beschreibt sich selbst als Mitteleuropäer mit ungarischer Herkunft und österreichischem Heimatgefühl, ich würde meinen, er ist ein Europäer aus Ungarn – Österreich, weil sich doch die Priorität der Geburt in diesem Ausdruck widerspiegeln sollte. Dabei kommt die Liebe zu Österreich nicht zu kurz, wenn ich denke, was er z. B. über Altaussee geschrieben hat.

Paul Lendvai hat sein Leben den Medien, also den Mittlern der Information verschrieben, wobei für ihn immer noch die Richtigkeit der Fakten, die Genauigkeit der Information eine Rolle spielt. Er ist nicht einer jener Verpackungskünstler, die es heute in der Medienlandschaft so zahlreich gibt, wo der Text gegenüber dem Bild zurücktritt und die Schlagzeile allein schon die Information bedeutet. Er hat auf diesem Gebiet genügend erlebt, um sich die Sensibilität zu erhalten, die heute genauso angebracht ist.

Die Ereignisse rund um das tschechische Staatsfernsehen sowie die Verhaftungen, Eingriffe und Eigentumsverschiebungen, die in der Russischen Föderation im Medienbereich stattgefunden haben, signalisieren, dass es sich bei den Medien um eine Schlüsselfrage der europäischen Entwicklung handelt. Wir sind weit entfernt von einer medialen Öffentlichkeit der Union oder des Kontinents. Die „Euronews” sind zahmer Regierungsfunk, der kaum dazu dient, ein Mehr an Kenntnis und Problembewusstsein zu vermitteln. Die mediale Öffentlichkeit ist hier zweifellos am Anfang. Das mag verschmerzbar sein, solange entwickelte Medienlandschaften über Europa selbst berichten und es diskutieren. Dort wo Europa gleichzeitig mit der Demokratie im Werden ist, ist der Vorgang noch weitaus komplizierter.

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Zuletzt dominierte die Frage, wie über Konflikte berichtet wird, anhand des Beispiels Kosovo. Besonders interessant war die Tatsache, dass Vertreter des Hörfunks und des Fernsehens aus dieser Region, die sich an einem besonders kritischen Punkt der Transformation befinden, berichtet haben. Das war eine ganz intensive Erfahrung. Was ich dazu kritisch anmerken muss, ist, dass sich der freie Westen in seinem medialen Wirken gegenüber diesen Staaten nicht gerade ausgezeichnet hat, weder im Bereich elektronischer Medien noch auf dem Printsektor. Die neuen Fernsehstationen in diesen Regionen der Transformation waren rein kommerziell orientiert und haben alles Mögliche gebracht, von Konsumanreizen bis zur Pornographie, aber ganz sicher keinen Beitrag zur Demokratisierung geleistet. Natürlich bilden auch die eben genannten Elemente Facetten der Medienfreiheit, aber sie haben auf Grund der Situation in den Transformationsstaaten ihre besondere Problematik. Das muss ich ausdrücklich kritisch anmerken. Im Bereich der Printmedien verhält es sich so, dass westliche Konzerne kommunistische Zeitungen kaufen, um sie kommunistisch zu belassen – beim näheren Betrachten ist man überrascht, um welche Unternehmen es sich dabei handelt. Das sind Konzerne, die hier im Westen als Wahrer der Medienfreiheit und der Demokratie auftreten – noch dazu mit moralischem Anspruch. Hier fehlt eine kritische Untersuchung, um Bilanz ziehen zu können. Ich frage mich, warum sich die Kommunikationswissenschaften in Europa nicht zu Wort melden – sie sind mit diesem Thema so gut wie gar nicht präsent. Was hier medial passiert, das ist nach meiner Meinung ein ganz entscheidender Punkt.

Eine Fülle von Tagungen, Konferenzen und Symposien zu den Krisenherden Europas sind üblich geworden. Bei diesen Anlässen klopfen wir einander auf die Schultern und stellen regelmäßig fest, dass alles eine Erfolgsstory sei. Gegenwärtig sagt das jeder zu Jugoslawien, früher zu Bosnien, Albanien etc. Eigentlich müssten wir zugeben, dass uns dazu nicht zu viel einfällt. Dann sollten wir aber auf die Phrase verzichten und keine falschen Hoffnungen wecken. Oder wir sollten zugeben, dass wir hier zu wenig Phantasien entwickelt haben. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass diese Frage eine kardinale ist, da geht es nicht nur um Sanktionen. Ich habe selbst erlebt, dass Lendvai etwa bei der Bertelsmann-Stiftung diese Fragen stellt.

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Lendvai erlaubt sich immer die richtigen Fragen zu stellen. Das ist oft niemandem sehr angenehm, es ist aber dringend notwendig. Unsere Welt braucht jemanden, der immer Fragen stellt, damit wir gezwungen sind, nach den richtigen Antworten zu suchen. Das gilt auch für mein Heimatland Österreich, in dem Paul Lendvai dafür berühmt ist, dass er die richtigen Fragen stellt. Er hat das auch in der letzten Zeit getan. Mit jener Gabe der Unterscheidung, die nicht einer allgemeinen Mode anheimfällt, sondern daran denkt, dass man das Land, in dem man zu Hause ist, auf die richtige Weise verstehen und auch medial vertreten muss. Das hat ihm viele Missverständnisse eingetragen, ich persönlich bin ihm aber dankbar, weil es jene Gerechtigkeit in der Beurteilung ist, die aus einer längeren Lebenserfahrung gewonnen wird. Leichter wäre es gewesen, in das Geheul jener einzustimmen, die das Land verdammten, weil sie Probleme mit einer Regierungskonstellation hatten, verkennend, dass es für vieles Ursachen gibt, wo man an den Wirkungen dann messen kann, welche Veränderung im besten Sinne möglich ist. Ein Urteil kann nie abgeschlossen sein, bevor überhaupt die Handlung gesetzt wird.

So dürfen wir Paul Lendvai zur Auszeichnung des Corvinus-Preises 2001 herzlichst gratulieren, wobei damit auch Erwartungen verbunden sind. Nämlich die, dass in jenem wachen Geist und der überzeugenden Sensibilität der so Ausgezeichnete weiter wirkt. Eigentlich zeichnet Paul Lendvai uns aus, indem er sich in den Dienst der Sache gestellt hat und es nie am Engagement fehlen ließ, selbst wenn er dafür gesundheitlich Preise zu zahlen hatte. Matthias Corvinus ist der Namensgeber eines Preises als Gestalter Mitteleuropas mit den Mitteln seiner Zeit. Paul Lendvai ist der Träger des Corvinus-Preises als ein medialer Mittler unserer Zeit, inmitten des geschichtlichen aktuellen und zukünftigen Geschehens, mit jener Vielfalt und Unruhe, mit jenem Witz und analytischer Schärfe, mit der Erfahrung eines facettenreichen Lebens und dem Mut zum Prinzipiellen, der aus den verschiedenen Wurzeln seiner verschiedenen Persönlichkeit kommt. Sei es aus dem Familiären, dem Ambiente seiner Jugend in Ungarn, dem Preis für das politische und mediale Engagement in einem geschlossenen politischen System, der Verantwortung zur Freiheit, die unter Schwierigkeiten errungen wurde und der steten weiteren Entwicklung bedarf. Nur weniges konnte ich von dem sichtbar machen was wir an Paul Lendvai haben. Umso mehr freut es mich, ihm zum Corvinus-Preis des Europa Instituts Budapest herzlich gratulieren zu können.

Begegnungen16_Brunner

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:183–196.

GEORG BRUNNER

Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union und die nationalstaatliche Gesetzgebung

 

I. Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union

Der Titel meines Vortrags suggeriert, dass die Europäische Union (EU) über eine Minderheitenpolitik verfügt. Davon bin ich allerdings nicht ganz überzeugt. Wenn sie aber eine hätte, müsste man diese unter zwei Gesichtspunkten untersuchen, die sehr unterschiedliche Bilder einer Minderheitenpolitik erkennen lässt. Ich denke an den Unterschied zwischen der Minderheiteninnenpolitik und der Minderheitenaußenpolitik der EU.

 

1. Die Minderheitenaußenpolitik der EU

Wenn ich mich nicht irre, waren die Mitgliedstaaten der EU noch vor Erreichung des Unionsstadiums, als Europäische Gemeinschaften gezwungen, sich zum ersten Mal eingehender mit Minderheitenfragen zu beschäftigen. Dies war vor rund zehn Jahren. Den tragischen Hintergrund dieses Zwanges stellte der im Sommer 1991 ausgebrochene Jugoslawienkrieg dar, der die Aufmerksamkeit der Westeuropäer anfangs eher auf die Rechte der serbischen Minderheit in Kroatien als auf die Rechtswidrigkeit der jugoslawisch-serbischen Aggression lenkte. Der auf der Friedenskonferenz in Den Haag am 11. November 1991 unterbreitete Vorschlag der EG hielt vor allem das Schicksal der serbischen Minderheit vor Augen, als er von den unterschiedlichen Mitteln des Minderheitenschutzes die territoriale Autonomie als Lösung für jene Gebiete empfahl, wo die Mehrheit der lokalen Bevölkerung von einer Minderheit gebildet wird. In den von den EG-Außenministern dann am 16. Dezember angenommenen Richtlinien zur Anerkennung der neuen Staaten Mitteleuropas und der Sowjetunion wurde die Erfüllung dieser Anforderung zur Voraussetzung für die Anerkennung der jugoslawischen Nachfolgestaaten gemacht. Dieser Anforderung war Kroatien schon am 4. Dezember dieses Jahres durch die Verabschiedung eines Verfassungsgesetzes über den Minderheitenschutz nachgekommen. Die für die serbische Minderheit hier vorgesehene kommunale Autonomie auf der Grundlage der Gemeinden fand aber vor dem Badinter-Ausschuss keine Gnade, so dass die kroatische Gesetzgebung gezwungen war, die territoriale Autonomie auf regionale Ebene zu heben. Der Umstand, dass in den fraglichen Gebieten der Krajina infolge der serbischen Okkupation gar keine kroatische Staatsgewalt existierte, scheint von keiner Seite für ein besonders störender Umstand gehalten worden zu sein. Als dann der kroatische Staat im Laufe des Jahres 1995 seine Gebietshoheit wieder herstellte, gab es infolge der Flucht der Serben aus diesem Gebiet hier keine serbische Minderheit mehr. In Ermangelung dieser Voraussetzung eines Minderheitenschutzes hat das kroatische Parlament (Sabor) die Regelungen über die Territorialautonomie zuerst ausgesetzt und später aufgehoben. Auf diese Art und Weise hatte das Vorgehen der Westeuropäer vielleicht eine interessante Lösung zum Gegenstand einer theoretischen Diskussion gemacht, doch führte dies zu keinem praktischen Ergebnis.

In der Folgezeit kam es zu keiner wiederholten Bekundung einer derartigen Hochschätzung der territorialen Minderheitenautonomie. Da die Westeuropäer z.B. im Zusammenhang mit den Problemen der ungarischen Minderheiten in der Slowakei und in Rumänien nicht auf diese Idee gekommen sind, kann deren vorübergehende und räumlich beschränkte Popularität wahrscheinlich mit dem außergewöhnlichen, den internationalen Frieden bedrohenden Charakter des Jugoslawienkrieges erklärt werden.

Zum Bestandteil einer für Friedenszeiten bestimmten, „normalen” EU-Außenpolitik ist die Zielsetzung des Minderheitenschutzes erst im Jahre 1993 im Zusammenhang mit der Osterweiterung geworden, die im Juni dieses Jahres auf dem Gipfel in Kopenhagen unter der Bezeichnung „Achtung und Schutz der Minderheiten” in den Katalog der Aufnahmekriterien gelangt ist. Ebenfalls in diesem Jahr war es Brauch geworden, die Präambeln der mit den Beitrittskandidaten abgeschlossenen Assoziierungsabkommen (Europa-Abkommen) mit der schmückenden Bemerkung zu versehen, dass der Übergang zu einer neuen Staats- und Wirtschaftsordnung, in der die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, zu denen auch die Minderheitenrechte gehören, geachtet werden, mit Hilfe der Gemeinschaft fortgeführt und abgeschlossen werden muss. In den mit der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn bereits im Dezember 1991 abgeschlossenen Assoziierungsabkommen war diese Feststellung noch nicht enthalten. Auf der anderen Seite gehen die mit den baltischen Staaten im Jahre 1995 abgeschlossenen Assoziierungsabkommen noch einen Schritt weiter, indem Artikel 77 oder 78 dieser Verträge, der sich mit der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Unterrichtswesens beschäftigt, unter den Schwerpunkten die Förderung des Sprachunterrichts erwähnt, mit besonderer Rücksicht auf die unter der Bevölkerung des Landes lebenden Minderheiten. Aus der Formulierung der Texte geht jedoch leider nicht hervor, ob z. B. im Falle der in Estland lebenden russischen Minderheit der Unterricht der russischen oder aber der estnischen Sprache gefördert werden sollte.

Die Beantwortung dieser Frage ist mit den traditionellen Methoden der Auslegung von Rechtsnormen genauso wenig möglich wie die Ermittlung dessen, was das Erfordernis des Minderheitenschutzes von Kopenhagen inhaltlich verlangt. Dieser Frage kann man nur empirisch näher kommen, indem man die seit 1998 vorgelegten Fortschrittsberichte der EU-Kommission über die auf dem Gebiet der Aufnahmekriterien erreichten Ergebnisse der Beitrittskandidaten systematisch studiert. In jedem Länderbericht befasst sich ein Kapitel mit dem Minderheitenschutz, und es wäre zu erwarten, dass die hier zu findenden Feststellungen sich nach einem Maßstab richten und dessen Quelle angeben. Was das letztere angeht, verkehrt sich die Erwartung nur allzu bald in eine Enttäuschung: Was auch von der EU-Kommission für gut oder schlecht gehalten wird, auf eine Rechtsgrundlage für die Bemerkung wird nirgends verwiesen. Es entsteht der Anschein, dass die Quelle der Werturteile das allgemeine Rechtsempfinden oder noch eher Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte sind. Unter solchen Umständen kann nur auf dem induktiven Wege einer Analyse der häufiger vorkommenden kritisierten Punkte der Versuch zur Rekonstruktion der Wertmaßstäbe der EU-Kommission unternommen werden. Wovon ist also am häufigsten in den Kapiteln über den Minderheitenschutz der Berichte der Kommission die Rede?

a) Die Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit in Estland und Lettland

Von Anfang an bildet die Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit ständig das Thema der Minderheitenkapitel über Estland und Lettland. Vor dem historischen Hintergrund des stalinistischen Völkermordes und der darauf folgenden Zwangsrussifizierung und unter Berücksichtigung der demographischen Situation – nach den Angaben der Volkszählung des Jahres 1989 machten die Esten 61,5 %, die Letten 52 % der Bevölkerung ihres Landes aus – könnte ein objektiver Beobachter den Eindruck gewinnen, dass die Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit sehr großzügig ist, ermöglicht sie doch fast allen zur Zeit der sowjetischen Tyrannei im Lande angesiedelten russischen und nicht-russischen Einwohnern den Erwerb der Staatsangehörigkeit ihrer neuen Heimat, wenn sie nicht unmittelbar an der Unterdrückung teilgenommen haben und wenn sie bereit sind, die neue Staatssprache, bis zu einem gewissen Grade zu erlernen. In der Vergangenheit war bisher noch keine befreite Kolonie den einstigen Kolonisatoren gegenüber so großzügig. Dennoch wurde die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung dieser beiden baltischen Länder von Westeuropa eher kritisch beurteilt, und diese kritische Einstellung ist auch in den Berichten der EU-Kommission zu spüren. Die Kritik hat in der Zwischenzeit Früchte getragen, und vor allem Lettland hat in seiner Gesetzgebung wesentliche Veränderungen zu Gunsten jener vorgenommen, die Ausländer sind und den Status eines Minderheitenangehörigen erhalten wollen. Nach einem allgemeinen Rechtsprinzip ist nämlich die Staatsangehörigkeit Voraussetzung für die Minderheitenstatus. Aufgrund der Kommissionberichte kann eindeutig fest- gestellt werden, dass das Ziel der EU die Erleichterung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit, d. h. die Integration der Ausländer auf dem Wege der Gewährung des Minderheitenstatus ist. Diese Zielsetzung ist in rechtlicher Sicht insofern interessant, als sie über keinerlei juristische Grundlage verfügt. Dem Völkerrecht zufolge kann jeder Staat souverän darüber entscheiden, wen er in seinen Staatsbürgerschaftsverband aufnehmen will, und es besteht keine Verpflichtung zur Verleihung der Staatsangehörigkeit. Der einzige rechtlich kritisierbare Punkt wäre der, wenn ein Staat den alteingesessenen Minderheiten den Minderheitenstatus verweigern würde. Über die Dauer des Zeitraumes, nach welchem von Alteingesessenheit gesprochen werden kann, kann man sich natürlich streiten. Die Festlegung der Dauer von einem Jahrhundert im ungarischen Minderheitengesetz scheint vernünftig zu sein. Im Baltikum kann die ungefähr 45 Jahre währende sowjetische Besatzung auf keinen Fall lang genug sein, um der jeweiligen Volksgruppe einen Anspruch auf Anerkennung als Minderheit zu vermitteln, so dass weder die Staatsbürgerschaftsgesetzgebung noch die Minderheitengesetzgebung der baltischen Staaten irgendeinen Anhaltspunkt für eine berechtigte Kritik bieten. Es hat den Anschein, dass die Grundlage für die EU-Kritik weder das Recht noch die Moral, sondern die politische Zweckmäßigkeit ist, d. h. die Würdigung der Interessen Russlands und die Vermeidung der ethnischen Spannungen.

Die Verhütung von Spannungen ethnischen Charakters ist auch der entscheidende Grund für die Kritik, die von der EU-Kommission in ihrem Bericht von 1998 an der tschechischen Staatsangehörigheitsgesetzgebung geübt wurde. Das tschechische Staatsangehörigkeitsgesetz von 1992 sicherte den slowakischen Staatsangehörigen ursprünglich unter der Voraussetzung eine Option auf die tschechische Staatsangehörigkeit zu, dass der ständige Wohnsitz der betreffenden Person seit zwei Jahren die Tschechische Republik sein muss und dass die betreffende Person in den letzten fünf Jahren keine vorsätzliche Straftat begangen hat. Ungefähr 100 aus der Slowakei stammenden Zigeunern fiel es offenbar schwer, die letztgenannte Voraussetzung zu erfüllen, aus welchem Umstand die westliche Kritik die Schlussfolgerung zog, dass das gesetzliche Erfordernis der Unbestraftheit eine auf die Diskriminierung der Sinti und Roma abzielende Maßnahme verkörperte. Demgegenüber wies das tschechische Verfassungsgericht in seinem Beschluss vom 13. 11. 1994 mit Recht darauf hin, dass die strafrechtliche Unbescholtenheit bis zu einem gewissen Grade zu den international üblichen Voraussetzungen der Einbürgerung gehöre und sich aus der Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Staatsangehörigen zu schützen, ergebe. Obzwar das tschechische Verfassungsgericht die fragliche Bestimmung des Staatsangehörigkeitsgesetzes mit dieser Begründung als verfassungskonform ansah, wurde diese Regelung unter dem Einfluss der westlichen Kritiker im Jahre 1999 vom Gesetzgeber geändert.

b) Fragen des Sprachgebrauchs

Einen recht großen Raum nimmt in den Berichten der Kommission die Frage des Sprachgebrauchs ein, und zwar in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit abweichenden Zielsetzungen.

Die Ausführungen in Bezug auf Estland und Lettland ermöglichen es, die vorstehend gestellte Frage zu beantworten, der Unterricht welcher Sprache eigentlich den Gegenstand von Artikel 77 bzw. 78 der Assoziierungsverträge bildet. Die ersten Berichte erwecken den Eindruck, dass vom Unterricht der estnischen bzw. lettischen Staatssprache für die russischsprachigen Minderheiten die Rede ist, wobei gewisse Mängel zu bemerken sind. Die EU spricht sich also dafür aus, dass den Minderheiten unentgeltlich effiziente Möglichkeiten zur Aneignung der Staatsprache angeboten werden, damit sie die Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen können. Die Kritik verfolgt also eindeutig die Absicht der Integration. In den letzten Länderberichten erscheint die Kritik jedoch in einem neuen Gewand. Jetzt wird die perspektivisch geplante Zurückdrängung der russischen Sprache im Schulunterricht kritisiert. Diese Kritik ist zweifelsohne durch die Absicht des Minderheitenschutzes motiviert, dient aber zugleich der Segregation. Über den vorzugswürdigen Zweck der Minderheitenpolitik lässt sich natürlich diskutieren, doch wäre es richtig, wenn derjenige, der eine Kritik äußert, sich zuerst selbst klar machen würde, ob er die Integration oder die Segregation für die richtige Zielsetzung hält. Zweifelsohne ist aber die Kritik der EU-Kommission des lettischen Sprachengesetzes berechtigt, welche den obligatorisch vorgeschriebenen Gebrauch der lettischen Sprache in gewissen Sphären des Wirtschaftslebens betrifft. Hier ist zum größten Teil von der Privatsphäre die Rede, in der der freie Gebrauch der Sprache schon aus dem internationalen Schutz der allgemeinen Menschen- und Minderheitenrechte abgeleitet werden kann. Außerdem verweist die Kommission mit Recht darauf, dass die lettische Sprachregelung perspektivisch gesehen auch dem freien Verkehr des europäischen Gemeinschaftsrechtes und der Niederlassungsfreiheit widerspricht.

In den Berichten über die Slowakei und Rumänien ist ein ständiges zentrales Thema der Unterricht und der Gebrauch der ungarischen Sprache, und zwar mit der Zielsetzung des Minderheitenschutzes also der Segregation. Der Grundtenor der Berichte ist in Bezug auf die Slowakei eher kritisch, in Bezug auf Rumänien eher lobend, abgesehen von der sich auf die Verzögerung der geplanten Gründung der mehrsprachigen Petõfi-Schiller-Universität beziehenden Kritik. Was den Unterricht der türkischen Minderheitensprache in den bulgarischen Schulen anbelangt, halten die Berichte ihn für auf einem mittleren Niveau stehend. Die Situation habe sich gebessert, jedoch noch nicht ausreichend.

c) Die Situation der Zigeuner

Der größte Teil der kritischen Bemerkungen ist auf die Situation der Zigeuner gerichtet. Ausgangspunkt für ein jedes Land, wo ein Sinti-und-Roma-Ethnikum existiert, ist die nachteilige soziale Situation und die gesellschaftliche Diskriminierung der Zigeuner. Nur Slowenien erscheint in einem milderen Licht. Die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit der Sinti und Roma und ihr unterdurchschnittlicher Bildungsstand werden überall erwähnt; ihr höherer Anteil auf dem Gebiet der Kriminalität wird jedoch nirgendwo angesprochen. Offensichtlich begründet ist die Kritik, die gegen die in Einzelfällen vorkommenden Übergriffe der Polizei oder gegen die Unterlassung des Schutzes gegen die aus der Gesellschaft stammenden Angriffe gerichtet ist. Einer eingehenderen Analyse bedarf jene Kritik, nach der die von den betroffenen Ländern zur Beseitigung der nachteiligen gesellschaftlichen Situation der Sinti und Roma ergriffenen Maßnahmen nicht effizient genug sind. Da nicht geleugnet werden kann, dass in allen Beitrittskandidatenländern Programme zur Unterstützung der Sinti und Roma gestartet wurden und zu diesem Zweck aus dem Staatshaushalt größere Summen zur Verfügung gestellt werden als zur Unterstützung der anderen Minderheiten, müsste die Begründetheit der Kritik zuerst unter Berücksichtigung der jeweiligen finanziellen Möglichkeiten des Staates und des allgemeinen Rechtsprinzips der Verhältnismäßigkeit untersucht werden. Sofern die EU-Kritik die angeblich nicht ausreichende staatliche Unterstützung der Sinti und Roma als Diskriminierung bezeichnet, wird hiervon nachstehend noch in einem anderen Zusammenhang die Rede sein. An dieser Stelle möchte ich nur im Zusammenhang mit dem Minderheitenschutz die Bemerkung machen, dass es keine geltende völkerrechtliche Verpflichtung zur positiven finanziellen Unterstützung der Minderheiten gibt. Eine derartige Verpflichtung ergibt sich auf universeller und europäischer Ebene weder aus Artikel 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte noch aus der Europäischen Konvention über Menschenrechte, noch aus dem 1998 in Kraft getretenen Minderheitenrahmenabkommen. Die Kritik hat also keine völkerrechtliche Grundlage. Dies ist zwar bedauerlich, da in Fachkreisen allgemein anerkannt ist, dass die Wahrung und Pflege der Minderheitenidentität als Ziel des Minderheitenschutzes eine positive Förderung durch den Staat voraussetzt. Seltsam ist jedoch, dass die EU-Kommission mit dieser Kritik sich auch im Namen jener westeuropäischen Länder äußert, die auf dem internationalen Plan bisher leidenschaftlich gegen alle derartigen Bestrebungen des Minderheitenschutzes aufgetreten sind und diese erfolgreich behindert haben. Das niedrige Niveau des internationalen Minderheitenschutzes kann unter anderem auf die internationale Politik der Kritiker zurückgeführt werden.

d) Sonstige Gesichtspunkte

Nachstehend möchte ich kurz noch einige kritische Punkte von geringerer Bedeutung und besondere Punkte streifen.

Zweifelsohne begründet ist die Kritik an Artikel 11 Absatz 4 der bulgarischen Verfassung, nach dem es untersagt ist, politische Parteien auf ethnischer oder religiöser Grundlage zu gründen. Die Aktivitäten der die Interessen der türkischen Minderheiten vertretenden Bewegung für die Rechte und Freiheitsrechte, ihre ständige Vertretung im Parlament und der Umstand, dass sie aufgrund des Beschlusses des bulgarischen Verfassungsgerichts vom 21. April 1992 nicht verboten ist, beweist aber, dass ausnahmsweise auch die Rechtswirklichkeit besser sein kann als das geschriebene Recht. Das Verbot der Vereinigten Mazedonischen Organisation „Ilinda” im Sinne des Beschlusses des Verfassungsgerichts vom 29. Februar 2000 ist auf einer anderen, doch diskutierbaren Grundlage erfolgt.

Im Falle von Ungarn wird in den Berichten beanstandet, dass die Minderheiten nicht im Parlament vertreten sind. Obzwar in einigen Ländern eine derartige parlamentarische Minderheitenvertretung anzutreffen ist (in Rumänien, Slowenien, Kroatien und in Montenegro), ist dies ganz sicher nicht Bestandteil des internationalen oder europäischen Standards. Die Kritik könnte hier nur auf die internen Vorschriften der ungarischen Rechtsordnung gegründet werden. Auf die Details möchte ich hier nicht eingehen, doch möchte ich bemerken, dass die vermeidbare internationale Kritik durch ein ungeschicktes Verhalten aller ungarischen Verfassungsorgane ausgelöst worden ist.

In Estland hat der spezifische Justizkanzler durch eine Gesetzesänderung aus dem Jahre 1999 die Rechte eines Ombudsmanns für Menschenrechte erhalten. Außerdem ist die Schaffung eines Amtes des Ombudsmanns im nordöstlichen, von der russischsprachigen Minderheit bewohnten Gebiet geplant. Dieses ist aber noch nicht errichtet worden, was jetzt von der EU-Kommission kritisiert wird. Die Kritik hat keine völkerrechtliche Grundlage, und aus diesem Beispiel kann nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass man mit Versprechen vorsichtig sein soll, weil ein ohne Verpflichtung abgegebenes Versprechen sehr rasch zur Quelle der Kritik werden kann.

Schließlich möchte ich noch erwähnen, dass im Bericht für 2000 Polen deshalb kritisiert wurde, weil es das Europäische Rahmenabkommen über den Schutz der Nationalen Minderheiten, das – wie bereits erwähnt wurde, – international 1998 in Kraft getreten war, noch nicht ratifiziert hat. Die Ratifizierung durch Polen ist seitdem erfolgt, und das im Grunde genommen zu nichts verpflichtende und deshalb ohne Gefahr zu unterzeichnende Rahmenabkommen ist seit dem 1. April 2001 auch für Polen wirksam. Wenn die Anspornung der polnischen guten Absichten in Bezug auf den Minderheitenschutz durch die EU bei dieser symbolischen Äußerung mitgewirkt hat, ist dies zu begrüßen. Seltsam ist jedoch auch hier, dass von den 15 Mitgliedstaaten der EU bisher 5 das Rahmenabkommen noch nicht ratifiziert haben, und zwar Belgien, Frankreich, Griechenland, Luxemburg und Portugal.

 

2. Die Minderheiteninnenpolitik der EU

In den Grunddokumenten und im sekundären Rechtsmaterial der EU ist von Minderheitenschutz nicht die Rede. Der Minderheitenschutz kann auch nicht mittelbar aus Artikel 6 Absatz 2 des EU-Vertrages abgeleitet werden, wo von der Achtung unter zwei alternativen Voraussetzungen der Grundrechte die Rede ist. Die eine ist die Sicherstellung des fraglichen Grundrechts durch die Europäische Menschenrechtskonvention. In dieser Konvention ist der Minderheitenschutz nicht enthalten. Artikel 14 der Konvention enthält nur das Diskriminierungsverbot, unter anderem auf der Grundlage der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Die andere Voraussetzung ist die, dass das fragliche Grundrecht zu den gemeinsamen verfassungsmäßigen Überlieferungen der Mitgliedstaaten zu zählen und deshalb als Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts zu bezeichnen ist. Leider ist auch diese Voraussetzung nicht erfüllt, weil das innerstaatliche Minderheitenschutzrecht der 15 Mitgliedstaaten sehr verschieden ist. Es gibt unter den Mitgliedstaten auch solche, die die Existenz von Minderheiten trotz der offensichtlichen Fakten einfach abstreiten. Das beste Beispiel hierfür ist Frankreich, wo der Conseil constitutionnel in seinem Beschluss vom 9. Mai 1991 die Formulierung im Statut über die Verwaltungsautonomie Korsikas „le peuple corse, composante du peuple français” deshalb für verfassungswidrig erklärt hatte, weil sie dem verfassungsmäßigen Begriff von der Einheit des französischen Volkes widerspreche. Ähnlich ist auch die Einstellung Griechenlands, wo das Vorhandensein einer mohammedanischen (nicht türkischen!) Minderheit nur deshalb bekannt ist, weil diese im Friedensvertrag von Lausanne 1923 Griechenland aufgenötigt wurde.

Das europäische Gemeinschaftsrecht kennt also keinen Minderheitenschutz. Demgegenüber fixiert es das Prinzip das Nationalstaates, indem es in Artikel 6 Absatz 3 des EU-Vertrages heißt: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaten”.

Wenn es die Absicht der EU wäre, den Minderheitenschutz nicht nur außenpolitisch zu vertreten, sondern ihn auch in der Union anzuwenden, so hätte die im Dezember 2000 angenommene Charta der Grundrechte von Nizza die Möglichkeit geboten, dies zu verkünden. Obzwar es die Aufgabe dieser Charta wäre, die europäische Werteordnung zu widerspiegeln, sucht man in ihr den Minderheitenschutz vergeblich. Dies ist kein Zufall – als ob der Minderheitenschutz einfach vergessen worden wäre –, sondern Absicht. Im Laufe der Beratungen war vom Minderheitenschutz die Rede, und was als Ergebnis davon schließlich in Artikel 22 der Charta aufgenommen wurde, ist die positive Beurteilung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.

Was das Gemeinschaftsrecht enthält, ist der auf den ersten Blick ziemlich entlegene allgemeine Gleichheitssatz mit zwei ausdrücklich benannten Diskriminierungsverboten im EG-Vertrag: 1. das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit (Artikel 12) und 2. seit Amsterdam die Ermächtigung der Gemeinschaftsorgane, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen unter anderem wegen des Geschlechts, der Rasse und der ethnischen Herkunft zu bekämpfen (Artikel 13). Obzwar diese beiden Vorschriften anscheinend höchstens in einem mittelbaren Zusammenhang mit dem Minderheitenschutz stehen, haben in der Rechtspraxis der Gemeinschaft der allgemeine Gleichheitssatz und die besonderen Diskriminierungsverbote für unser Thema in zwei Richtungen Bedeutung erlangt, und zwar in einer Weise, die meiner Meinung nach bedenklich ist.

a) Diskriminierung der Zigeuner

Vom EU-Rat wurde am 29. Juni 2000 unter Nr. 2000/43/EG eine Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft erlassen. Das Ziel der Richtlinie ist der Kampf gegen die Diskriminierung, also gegen die benachteiligende Ungleichbehandlung, und zwar der Kampf gegen die direkte und die indirekte Diskriminierung. Als indirekte Diskriminierung gelten jene scheinbar neutralen Maßnahmen, die geeignet sind, zu einer Rasse oder zu einer ethnischen Gruppe gehörende Personen zu benachteiligen, es sei denn, dass diese Maßnahmen durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Demnach ist nicht die ratio legis, also das Ziel der Regelung maßgebend, sondern ihre tatsächliche, d. h. – da die tatsächlichen Wirkungen der Regelung in einem frühen Zeitpunkt der Kontrolle kaum feststellbar ist – die vermutete Wirkung. Die so umfassend festgelegte Diskriminierung ist sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich untersagt, in erster Linie auf dem Gebiet der Arbeitsverhältnisse, der Inanspruchnahme der sozialen Leistungen und des Unterrichtswesens. Die Mitgliedstaaten haben bis zum 19. Juni 2003 die erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie in das innerstaatliche Recht zu treffen. Hinsichtlich der Mittel haben sie bis zu einem gewissen Grad freie Hand, doch ist die Erzwingbarkeit der Beseitigung der angeblichen Diskriminierung auf gerichtlichem Wege obligatorisch. Die Ungleichbehandlung ist nur glaubhaft zu machen, und Aufgabe des Beklagten ist es, nachzuweisen, dass das Prinzip der Gleichbehandlung nicht verletzt worden ist.

Die Folgen der erwähnten Richtlinie haben eine große Tragweite. Auf dem Gebiet des Privatrechts führt sie zu empfindlichen Einschränkungen der Vertrags- und Unternehmensfreiheit und folglich zu einer Stärkung der gegen die Marktwirtschaft gerichteten Tendenzen. Von einem Arbeitsmarkt (Angebot, Nachfrage) kann noch weniger die Rede sein als bisher. Wenn eine Stelle z. B. über eine Ausschreibung zu besetzen ist, hat der Arbeitgeber nachzuweisen, weshalb der sich bewerbende Zigeuner (besonders wenn von einer Frau die Rede ist) ungeeigneter ist als der jenige, der die Ausschreibung gewonnen hat. Die auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zu erwartenden Folgen möchte ich an einem Beispiel illustrieren, das aus dem Bericht des Jahres 1999 des ungarischen Ombudsmanns für nationale und ethnische Minderheitenrechte stammt und sich auf das Schulwesen bezieht. Im Bericht wurde festgestellt, dass der Anteil der eine Sonderschule besuchenden, also geistig leicht behinderten Romakinder zwischen dem Schuljahr 1974/75 und 1992/93, d. h. im Verlaufe von 18 Jahren von 26,1 % auf 42,6 % gestiegen sei. Die Gründe hierfür hat der Ombudsmann gründlich untersucht und auch die Mängel von mehreren pädagogischen Auswahlmethoden dargestellt. Weshalb die Mängel der Methoden gerade die Romakinder benachteiligt hätten, ist für mich auch nach der Lektüre eine offene Frage. Der Ombudsmann gelangte zumindest zu folgender Feststellung: „Der im Vergleich zur Gesamtheit der Bevölkerung weit überdurchschnittliche Anteil der Romakinder im System der Sonderschulen verwirklicht – was das Ergebnis anbelangt – die negative Diskriminierung der Romakinder. Bei der Feststellung der Schulreife verwenden die Expertenausschüsse, die die Kinder untersuchen, nämlich nicht nur ausschließlich wertneutrale Tests, sondern behandeln als behindert auch wegen ihrer sozialen Umstände und ihrer kulturellen Andersartigkeit über gewisse Kenntnisse nicht verfügende Kinder".

Über die Richtigkeit dieser Feststellung kann man heute (noch) diskutieren, und man könnte z. B. – abgesehen von der Stichhaltigkeit der konkreten Untersuchung – zwei logische Gegenargumente vorbringen: 1. wenn die schlechtere Schulreife Folge der sozialen Umstände ist, ist dies uninteressant, weil die Unterscheidung auf ethnischer Grundlage erfolgt; 2. wenn die schlechtere Schulreife Folge der kulturellen Andersartigkeit ist, ist dies relevant. In diesem Fall könnte das Ergebnis der identischen Schulreife nur um den Preis der Verringerung der kulturellen Identität der Sinti und Roma erreicht werden. Hier taucht die Frage auf: Was ist wichtiger? Die Integration um den Preis der Assimilierung? Oder die Bewahrung der ethnischen Identität um den Preis der Segregation? Und wer entscheidet, was besser ist? Infolge seiner öffentlichen Macht der Staat oder aufgrund ihres persönlichen Selbstbestimmungsrechtes die betroffenen Roma?

Über die Fragen kann man, wie ich es erwähnt habe, heute noch diskutieren, im konkreten Fall auch vor Gericht. Ein derartiger gerichtlicher Streit wurde vor kurzem in Tschechien ausgetragen, wo der Anteil der Romakinder in den Sonderschulen 70 % ausmacht, also bedeutend höher ist als in Ungarn, aber noch immer niedriger als in der Slowakei, wo ungefähr 90 % der Schüler in den Sonderschulen Zigeuner sind. Die Organisation „Europäische Zentrale für die Rechte der Roma” mit Sitz in Budapest hat wegen Diskriminierung Klage gegen das tschechische Unterrichtsministerium und die Leiter der Sonderschulen erhoben. Die Klage wurde vom tschechischen Obersten Gericht im Oktober 1999 abgewiesen. Die Begründung des Urteils ist mir nicht bekannt, ich vermute aber, dass sie das Ergebnis des freien richterlichen Abwägens von verschiedenen Fakten und juristischen Gesichtspunkten enthält. Nach der Umsetzung der erwähnten EG-Richtlinie in das innerstaatliche Recht dürfte ein derartiges Urteil kaum mehr vorstellbar sein. Wenn sich die Eltern der Romakinder oder eine Interessenvertretungsorganisation unter der Geltung der Richtlinie auf die zitierte Feststellung des ungarischen Ombudsmanns beriefen, so würde das unter Berücksichtigung der Unparteilichkeit und des Ansehens des Ombudsmanns zweifelsohne ausreichen, um die Vermutung einer unzulässigen Diskriminierung zu begründen. Die Folge wäre eine Umkehr der Beweislast, d. h. das Unterrichtsministerium bzw. die Leiter der Schulen müssten beweisen, dass die geistige Zurückgebliebenheit auch dann bestehen würde, wenn die kulturelle Umgebung außer Betracht bliebe. Dies kann aber kaum bewiesen werden.

Die beiden Beispiele können auch miteinander gekoppelt werden, wie das der ungarische Minderheitenombudsmann auf Seite 223 seines Berichts des Jahres 1999 macht, wo Folgendes zu lesen ist:

„Zur gleichen Zeit weisen die im Unterrichtswesen auftretenden Probleme weit über die Rahmen des institutionellen Systems hinaus, machen sich doch die Auswirkungen des schulischen Misserfolgs der Zigeunerschüler später, auf dem Arbeitsmarkt, im Alltag bemerkbar.”

Wenn dies aber zutrifft, dann ist die schlechtere Eignung der Romabewerber bei der Stellensuche eine Folge der Diskriminierung im Schulwesen. Eine weitere Folge hiervon ist, dass der private Arbeitgeber bei seiner Entscheidung die schlechtere Eignung nicht berücksichtigen darf und im konkreten Fall einen weniger geeigneten Roma statt eines geeigneteren Nicht-Roma-Arbeits-suchenden einstellen muss.

b) Die Praxis des Europäischen Gerichtshofes bei der Beurteilung der nationalen Minderheitenschutzgesetze

Das Recht der Europäischen Gemeinschaften kennt zwar keinen ausgesprochenen Minderheitenschutz, doch hat der vom innerstaatlichen Recht gewährte Minderheitenschutz den Europäischen Gerichtshof schon mehrmals beschäftigt. Die Frage war die, inwiefern der Minderheitenschutz mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist. Der relevante Maßstab des Gemeinschaftsrechts war wiederum das Diskriminierungsverbot, und zwar sowohl in dem 1965 entschiedenen Fall Mutsch als auch in dem im Jahre 1998 entschiedenen Fall Bickel und Franz, in denen es um das Verbot der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit ging.

In beiden Fällen bildete der Gebrauch der deutschen Muttersprache als Gerichtssprache auf Antrag eines ausländischen Angeklagten den Streitgegenstand:

– im ersten Fall auf Antrag des Herrn Mutsch, eines luxemburgischen Staatsangehörigen deutscher Muttersprache, vor einem Gericht im deutschen Sprachgebiet in Belgien, wo den belgischen Staatsangehörigen der Gebrauch der Muttersprache der deutschen Minderheit gewährleistet ist;

– im zweiten Fall ging es um den Antrag des Österreichers Bickel und des Deutschen Franz vor einem Südtiroler italienischen Gericht, wo die italienischen Staatsangehörigen als Minderheitenangehörige ihre deutsche Muttersprache gebrauchen können.

Der Europäische Gerichtshof wollte eine benachteiligende Diskriminierung darin erblicken, dass in bestimmten Gebieten Belgiens und Italiens der Gebrauch der deutschen Muttersprache vor Gericht nur den Angehörigen einer Minderheit und nicht auch den Ausländern gewährleistet ist. Obzwar die beiden Urteile unter dem Vorbehalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stehen, also die Staaten nicht unbedingt zur gleichen Behandlung der Ausländer wie der Minderheitenangehörigen verpflichten, sind die Folgen für die Zukunft nur schwer überschaubar. Man kann nicht genau wissen, wann die Rechtspraxis die Bestimmungen des Minderheitenschutzes zu Ausländerschutzvorschriften umdeuten wird. Diese Frage ist jetzt in Westeuropa in erster Linie für die deutsche Sprache interessant. Nach der Osterweiterung der EU kann sie dem Gebrauch der ungarischen Sprache in Slowenien, der Slowakei und Rumänien einen erweiterten Anwendungsbereich sichern.

Diese anfängliche Praxis des Europäischen Gerichtshofes kann sehr leicht kontraproduktiv wirken. Sind doch die EU-Mitgliedstaaten weder aufgrund des Völkerrechts noch aufgrund des Gemeinschaftsrechts dazu verpflichtet, durch Gewährung von Vorrechten des Sprachgebrauchs für den Minderheitenschutz zu sorgen. Wenn sie dies aber großzügig dennoch tun, müssen sie mit dem Risiko rechnen, dass die Vorrechte auch von den Ausländern in Anspruch genommen werden. Ist es unter solchen Umständen nicht klüger, den Minderheitenschutz abzubauen, um Risiken zu vermeiden?

 

II. Die Minderheitengesetzgebung der Nationalstaaten

Zur entsprechenden Analyse der Minderheitengesetzgebung der Nationalstaaten steht hier nicht ausreichend Platz zur Verfügung. Die Beschreibung der Details würde den Anspruch einer Monographie erheben und kann deshalb hier nicht vorgenommen werden. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist es wichtiger, einige allgemeine Gesichtspunkte hervorzuheben und einige allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen.

Zuerst kann festgestellt werden, dass die Bestimmungen des Minderheitenschutzes im Völkerrecht und im Gemeinschaftsrecht so wenig umfangreich sind und nur einen so minimalen Standard sichern, dass die Erfüllung dieser Anforderungen sehr einfach ist. Das Minderheitenrecht der mittel- und osteuropäischen Länder entspricht diesen geringen Anforderungen ohne weiteres, was von einigen westeuropäischen Staaten nicht behauptet werden kann. Die entsprechende Ausgestaltung des Minderheitenrechts ist in erster Linie Aufgabe der einzelnen Nationalstaaten. Auf diesem Gebiet haben sie einen großen Abwägungsspielraum, und das Minderheitenrecht der einzelnen Staaten weist tatsächlich große Abweichungen auf. Aufgrund eines Vergleichs könnte man einzelne Staaten wegen ihrer Großzügigkeit loben und andere wegen Engherzigkeit kritisieren, doch würde uns das in das Reich der Details führen.

Die Gründe für die große Vielfalt der Minderheitenrechtssysteme sind nicht nur in der unterschiedlichen Bereitschaft der einzelnen Staaten zum Minderheitenschutz, sondern auch in der Vielfalt der einzelnen Minderheitensituationen zu suchen. Jede einzelne Minderheitensituation ist individuell, und dieser Umstand erschwert die Formulierung von allgemeinen Empfehlungen. Deshalb möchte ich nur kurz den meiner Meinung nach richtigen Ausgangspunkt umreißen. Ich gehe davon aus, dass ein recht großes Einvernehmen darüber besteht, dass das Wesentliche des Minderheitenschutzes die Gewährleistung der Möglichkeit ist, dass die in einer Minderheitensituation befindliche Volksgruppe ihre kulturelle Identität bewahren und pflegen kann. Ist dieser Gesichtspunkt als Ausgangspunkt akzeptierbar, dann folgt hieraus, dass der richtige Minderheitenschutz in erster Linie als Möglichkeit ausgestaltet werden muss. Ob die Volksgruppe und deren Angehörige von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, muss ihrer eigenen Entscheidung überlassen bleiben, wie sich dies auch aus der Idee des individuellen und kollektiven Selbstbestimmungsrechts ergibt. Der Staat hat also vor allem ein gesetzgeberisches Angebot vorzulegen und muss es im Übrigen den Minderheiten selbst überlassen, ob sie dieses Angebot annehmen oder nicht. Unter diesem Gesichtspunkt scheint die vom estnischen Minderheitengesetz gebotene Personalautonomie vorbildlich zu sein. Macht die russische Minderheit von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, so kann man diese Haltung nur so deuten, dass sie das nicht braucht. Diese liberale Regelungskonzeption bedeutet zugleich auch, dass in erster Linie die betroffene Minderheit selbst zur Entscheidung darüber berufen ist, ob ihre weitere Entwicklung eher in die Richtung der Integration oder der Segregation oder auf dem Mittelweg einer doppelten Identität verlaufen soll. Im Vergleich hierzu können die Zielsetzungen der Minderheitenpolitik des Staates nur sekundärer Natur sein, sie müssen durch konstitutionelle Werte gerechtfertigt werden. So ist es vorstellbar, dass eine auf Integration abzielende Minderheitenpolitik des Staates mit dem Ziel der Vermeidung gesellschaftlicher Spannungen und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden kann. Im Falle der Roma könnte man an das aus dem Sozialstaatsprinzip ableitbare Ziel der Beseitigung der Chancenungleichheit denken. Gegen ihren Willen kann aber kein liberaler Staat eine Minderheit zu etwas zwingen. Der mögliche Minderheitenschutz und die zulässige Minderheitenpolitik sind übrigens von zwei Seiten her begrenzt: die eine ist das Verbot der Zwangsassimilation, die die Grenze jedweder Integrationspolitik bedeutet; die andere ist das Erfordernis der staatsbürgerlichen Treue, die für die Realisierung der Segregationsmöglichkeiten ein endgültiges Hindernis darstellt.

Was die Rolle der Europäischen Union auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes anbelangt, befürchte ich, dass grundsätzlich keine positiven, anregenden Wirkungen zu erwarten sind. Die EU erhebt zwar den nationalstaatlichen Beitrittskandidaten gegenüber Forderungen des Minderheitenschutzes, doch sind die Anforderungen zufällig, in Bezug auf ihre Begründung und Ziele unklar, sie sind Produkte tagespolitischer Opportunitätserwägungen und nicht einer durchdachten Konzeption. Die wichtigste Zielsetzung ist wahrscheinlich die Aufrechterhaltung der jeweils vorhandenen Ruhe gegenüber jenen Gefahren, die von der EU als solche bezeichnet werden. Das unglückliche Agieren der EU in den unterschiedlichen Phasen der Jugoslawienkrise und auch bei anderen Gelegenheiten lässt jedoch darauf schließen, dass die Urteilsfähigkeit der EU bei der Beurteilung von Gefahrensituationen gelegentlich nur mangelhaft ist. Im Zusammenhang mit dem Erweiterungsprozess sind die von der EU-Kommission erhobenen Forderungen des Minderheitenschutzes zum Teil zu begrüßen, zum Teil nicht. Da ihre Adressaten, für die diese bestimmt sind, nur die außenstehenden Beitrittskandidaten und nicht die „beati possidentes” sind, tragen sie auf jeden Fall das Odium der Einseitigkeit und der Scheinheiligkeit.

Die von der EU erhobenen Forderungen können jedoch nur bis zum Zeitpunkt des Beitritts erhoben werden. Dann kommt die Innenpolitik zur Geltung, in der der Minderheitenschutz unmittelbar keine Rolle mehr spielt. Mittelbar muss aber befürchtet werden, dass der Minderheitenschutz auch bei den gutwilligen Nationalstaaten in den Hintergrund rücken wird. Einerseits deshalb, weil sich die meisten osteuropäischen Staaten in höherem Maße und auf noch höhere Budgetmittel fordernde Art und Weise mit den sozialen Problemen der Sinti und Roma befassen müssen, also mit solchen sozialen Problemen, die kaum etwas mit dem Wesen des Minderheitenschutzes, mit der Bewahrung und Pflege der kulturellen Identität zu tun haben. Darüber hinaus wird sich die EU natürlich nicht gegen jene Bestrebungen einzelner Mitgliedstaaten wenden, die ihren Minderheiten geschützte rechtliche Positionen sichern wollen. Diese wohlgesinnten Mitgliedstaaten werden aber intensiver darüber nachzudenken haben, ob der Preis für den Minderheitenschutz nicht zu hoch sein wird, wenn alle Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaten daraus Nutzen ziehen wollen. Die anrufenden Diskriminierungsverbote in der Gemeinschaft werden voraussichtlich nicht nur auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes große Schwierigkeiten verursachen.

Das Gesamtbild ist letzten Endes nicht allzu rosig. Damit aber nicht nur Dornen in ihm enthalten sind, möchte ich meinen Vortrag mit etwas Positivem schließen. Ich glaube, es kann mit Gewissheit vorausgesagt werden, dass die Abschaffung oder die Lockerung der Grenzen in Bezug auf die EU-Mitgliedstaaten die Pflege der Beziehungen zwischen den nationalen Minderheiten und ihrem Mutterland erleichtern wird. Diese Entwicklung wird wahrscheinlich dazu beitragen, dass das Problem des Minderheitenschutzes allmählich an Bedeutung verlieren wird.

Begegnungen16_Berghahn

Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:37–40.

VOLKER BERGHAHN

European–American Cultural Relations in a Historical Perspective

 

I feel very honoured to be able to present to you some thoughts on the European-American relationship that, I hope, will generate a critical response from my commentators and a lively discussion with all of you. I am grateful that you have come to this presentation and will be even more grateful to receive your thoughts on a subject that has become even more important since the events of September 11, i.e. the trans-Atlantic dialogue and cooperation between Europe and the United States. It is this dialogue that my remarks try to put into historical perspective.

In examining the history of this relationship, you will be particularly conscious of two developments that determined the lives of all Europeans between 1945 and 1989: 1) the Cold War, and 2) the emergence of the United States as one of two super-powers and as the hegemonic power of the West.

As to the Cold War, it is now clear that it led to what the German historian Wilfried Loth has called “the division of the world” into two hostile camps. This conflict profoundly shaped all our lives, and yours here in Hungary no doubt more deeply than the lives of those who grew up in Western Europe or the United States. But it is also quite widely accepted today that, as far as Western Europe is concerned, the Cold War merely accelerated certain developments; it did not constitute them.

The reason for this is that the United States had decided during World War II to involve itself firmly in European and international politics and the economy and to shape the future in line with ideas that America’s political and economic elites had developed during the interwar period. In this respect they had learned their lesson from the mistakes that their predecessors had made after World War I: this time there would be no withdrawal from war-ravaged Europe; no retreat into isolationism that had left the Europeans to sort out for themselves the enormous mess that the war had left behind.

It should be added that, unlike the American public, the business community and men like Ch. G. Dawes recognized in the early 1920s that the United States could not, even in the short-term, withdraw from the world. This is why they appeared in Europe again in 1924 to sort out the reparations problem that had poisoned international relations so far and to help reconstruct and modernize European industry through loans and direct investments.

Sadly, there was not enough time to complete the job. In 1929 the effort was destroyed by the Great Depression, followed by the rise of fascism and another world war in which the U.S. played, as in the previous conflict, a decisive role in securing victory against the Axis powers and the terrifying “New Order” that Hitler and his associates had been trying to establish – a system and society based on looting and mass murder.

When the Americans therefore appeared in Europe as liberators from fascism, the Europeans were prepared to accept Washington’s role as the hegemonic power of the West in economic and security terms. They knew that they did not have the resources to reconstruct and recast their economies on their own. Although there was some resistance to some of the liberal-capitalist principles that the Americans wanted to introduce in line with their vision of a multilateral Open Door trading system, they were glad to accept Washington’s aid and advice.

The Europeans also knew that they could not defend themselves against the perceived military threat that the Soviet Union posed as the Cold War escalated in the late 1940s. Consequently, they also joined, more or less happily, the protective umbrella provided by NATO, the American-led military alliance.

While all this proceeded more or less smoothly, the United States had great difficulties being recognized as the cultural hegemony of the West. The difficulties that they encountered in Europe in this particular field were initially covered up by the intellectual and cultural challenge that the Soviet Union had issued in the early post-war years. It is often forgotten – though I am sure not by this audience – that the Cold War was a comprehensive struggle between East and West. It was not just about economic-technological or power-political superiority of the one side or the other; it was also a competition about the quality of intellectual life, artistic production and the sciences, and in the late 1940s the Soviet model still exerted considerable attraction for intellectuals and academics in East and West, as the successful Writers’ Congresses, organized by the communists, demonstrated.

But by the mid-1950s, the Stalinist dogmas of “socialist realism” and Lysenkoism were much less alluring to Eastern Europeans than they had been before. The dictator had died in 1953. The regime lost some of its terroristic grip on society and its cultural producers.

These developments, which I can only allude to here, were – and this is the crucial point for my analysis – soon registered in the West. It seemed that the Cold War against the Soviet Bloc was being won in cultural terms. Accordingly, it seemed no longer necessary to spend millions of dollars on countering Stalin’s programs – his congresses, art exhibitions, journals and propaganda. The events in Hungary – whose 45th anniversary you have been commemorating here in Budapest in the past days – merely confirmed the impression that Western styles in the arts and Western ideas about social or scientific research were immensely more attractive than the stultifying prescriptions of even the post-Stalinist era.

Yet, despite these developments that were favourable to the West, the Americans continued to spend large sums of money on cultural programs, though much less in Eastern Europe than in the countries of the Western alliance. It is this puzzle and phenomenon that I would like to turn to now and try to explain.

I believe that this shift in resources had little, and certainly less and less, to do with the Cold War against the East, but everything with another culture war that had been going on for much longer.

When the Americans appeared on the international stage after World War I, if not before, and began to export not just manufactured goods and financial services but also their music (jazz in particular), their films and other products of mass culture, the response of Europe’s educated elites was one of horror. To many of them American popular culture and Hollywood were primitive, vulgar and cheap. By contrast, they saw European (high) culture as sophisticated and refined. In short, there was only one culture; America in this vision was an Unkultur.

It is this “superiority complex” of the Europeans that survived even the compromising horrors of World War II. However battered the Europeans felt in material terms in 1945, their sense of disdain for America’s cultural products was undiminished, at least among the older generation. Indeed, it was reinforced when Hollywood, jazz, and rock’n’roll appeared in Europe in the 1950s. To be sure, there were many young people who responded with enthusiasm and rioted at rock concerts. But in the eyes of their elders, this was even more appalling.

There is no need for me, I believe, to go into the details of these European elite perceptions of the U.S. as a cultural system. Many of the arguments advanced against American society and its unbecoming features are around to this day – and not just among French intellectuals.

It is difficult to exaggerate how embittering it was to many educated people in America who knew Europe and its cultural life but also their own, to be faced with what to them were prejudices born from ignorance and malevolence. They had been educated in the Ivy League universities; they had enjoyed the nation’s orchestras, dance and opera companies and art collections. They had seen New York’s or Chicago’s skyscrapers. In their view the centres of modern culture had moved from Paris, London or Berlin to the cities of the United States.

Some of these American intellectuals who were upset by European prejudice began to write in defence of American culture in which they even included popular culture. They pointed to its diversity, richness, vivaciousness. Jazz was to them a prime example, also because it highlighted the contribution of America’s minorities to Western music and other creative arts. Indeed, these writers also challenged the European differentiation between “high” culture which was refined and “low” culture that was uncouth. Their definition of culture was broad and included also the sciences.

What therefore propelled the continued American cultural offerings to Europe in the 1950s was to put across to its intellectuals and educated elites who were cultural anti-Americanists a different image of the United States. There was one difficulty though: when the Republicans came to power in 1953, President Eisenhower had a different agenda of public spending. He wanted to save money to be able to reduce taxes.

It was at this point that the “private sector” stepped into the breach in the shape of the big philanthropic foundations. The Ford Foundation, which had emerged as the largest foundation in the world, in particular invested huge sums in cultural and academic ventures. Ford funded lecture tours of eminent American scholars and writers, art exhibitions, ballet companies. It established American Studies programs at European universities and funded research centres such as the “Maison des Sciences de l’Homme” in Paris. It subsidized intellectual journals like “Encounter”, “Preuves”, “Der Monat”, and “Tempo Presente” which purveyed an Atlanticist vision of modern culture.

The Congress for Cultural Freedom became a major vehicle for these efforts, but its work, ironically, ultimately undermined the work of the big foundations. The problem here was that the CCF was also funded by a government organization that was the only one to continue its support of culture in a major way: the Central Intelligence Agency under Allen Dulles.

After rumours about the CCF’s secret finances had circulated in the early 1960s, the cover was finally blown in 1966/67. The revelations of its links with the CIA destroyed the CCF, but also led to the gradual withdrawal of the big foundations from trying to convince European intellectuals and academics that America was also a “cultured” nation.

But let me end on a positive note: Looking back on my topic from the vantage point of the new century, I believe that the once “hard-line” attitudes of Europe’s elites have softened. Knowledge and understanding of the hegemonic power across the Atlantic has vastly improved. There may still be ambivalences that we feel when we look at America. But Europe’s cultural anti-Americanism is much weaker and much less one-sided than it was in the early post-war period. This at least is the historical verdict that I would like to discuss with you. Thank you.

 

*The following essay represents a digest of remarks made at the Europa Institute Budapest on November 9, 2001, by Volker R. Berghan, Seth Low Professor of History at Columbia University in New York. In recent years, he has worked on the European-American relationship during the post-war decades. His book entitles “America and the Intellectual Cold Wars in Europe” was published by Princeton University Press in the Spring of 2001.