1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:68–72.

ISTVÁN SZABÓ

Berührung

Festvortrag

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bedanke mich für die ehrende Auszeichnung. Gestatten Sie mir jedoch, den durch meine Person wahren Ausgezeichneten beim Namen zu nennen: die ungarische Filmkunst, genauer gesagt jene mitteleuropäische Mentalität, welche Inspirator, geistige Basis und Nährmutter der ungarischen Filmkunst ist. Wir alle sind die Glieder einer besonders starken Kette, wobei auch ohne den räumlichen oder zeitlichen Kontakt sämtliche Glieder der Kette mit den anderen in Verbindung stehen – gebend, nehmend und erbend, wenn auch oftmals nur verborgene Energien, nicht unbedingt bewusst weitervererbend, auch dann, wenn dies abgestritten wird.

Was stellt diese Mentalität dar? Die Erfahrung des mitteleuropäischen Daseins: Varianten der Strategie des Überlebens, eine ganze Reihe – sämtliche Generationen der Geschichte betreffender – furchtbarer Herausforderungen, die Antworten des menschlichen Charakters während der verzweifelten Suche nach Möglichkeiten des Überlebens. Wenn dieser Kampf über Jahrhunderte hinweg geführt wird, seine Wenden sich von Zeit zu Zeit praktisch identisch wiederholen – dann werden die Antworten der Menschheit, die einander weiterergebenen Erfahrungen der Generationen zum Erbgut. Auf diese Weise gestaltete sich die sich ständig wandelnde Geschichte zu unserem determinierenden Grunderlebnis, ebenso die jener zu verdankende Unsicherheit, der Mangel an Sicherheitsgefühl, welcher oftmals in die Suche eines hysterisch auftauchenden Feindbildes flieht, um sich selbst Mut zu machen, um nicht den eigenen Schwächen ins Auge schauen zu müssen, und deshalb eher einer magischen Irrationalität verfallend. Unser eigen wurde aber auch auf diese Weise die Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Problemen. Die Macht, die wir zu überleben hatten, hat sich selbst immer mit seiner jeweiligen Klientur aufrechterhalten können. Und das wurde zur ewigen Quelle gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten. Das Schicksal des den hereinbrechenden Stürmen der Geschichte, der oftmals nur die Bekleidung wechselnden Klientur neuer und neuer Mächte ausgelieferten Volkes wurde vollkommen selbstverständlich zum Hauptthema des ungarischen Films: von den ersten Filmen eines Mihály Kertész zu Beginn des Jahrhunderts, über die Lustspielfilme des Gyula Kabos und Jancsó’s „Strolche”, Kovács’s „Kalte Tage” oder den Film „Liebe” von Károly Makk bis hin zu Fábris „Professor Hannibal” und Herskó oder später Gothár, Grünwalszky oder dem in der Regie von Sándor Simó im vergangenen Monat beendeten „Die Sonntage der Franciska” – die Filme eines ganzen Jahrhunderts handeln von diesem Ausgeliefertsein.

Einmal fragte mich jemand, warum ich keinen Film einfach nur so über die Liebe drehen würde. Ich stand verlegen da und konstatierte, dass wenn in irgendeinem Film an dem ich beteiligt war ein Liebespärchen umschlungen auf einer Bank saß, im Café oder im Kino, in jener Szene gewiss irgendwann Soldaten erschienen, höchstens jeweils anderen Nationen zugehörig oder in immer wieder anderen Uniformen. Diese zahlreichen, oftmals kaum verfolgbaren Veränderungen konnte man auf zweierlei Weise miterleben: zum einen auf tragische Weise, weshalb der Großteil mitteleuropäischer Filme die Geschichte von zumeist bedrückenden, verlorenen Angelegenheiten, von gefallenen Menschen, von Verlierern erzählt; zum anderen selbstironisch, über das erschreckte Stolpern des in seinem Ausgeliefertsein lächerlichen einfachen Menschen, in dem der Zuschauer sich selbst erkennt, seinen Schicksalsgenossen, und mit dem Gelächter schöpft er Kraft für ein paar folgende Stunden. Das mitteleuropäische Schicksal heißt: der Kampf ums Überleben inmitten stürmischer Wellen und Reflexionen – und das ist nicht allein das Schicksal Ungarns. Ähnlich gestaltet sich die Geschichte jeder polnischen, tschechischen, slowakischen, österreichischen, slowenischen oder kroatischen Familie, ebenso treffen wir dort auf Verfolgte und Verfolger, Ausgelieferte und Klienten, Täter und Opfer; und genauso wie bei uns ist in dieser Region die Herausforderung praktisch auf den Tag genau dieselbe. Nicht die Antwort sondern allein das Gewicht der Antwort wird schattiert von aus kulturellem Erbe und Mentalität hervorgehender Differenz. Es ist praktisch egal, wo eine mitteleuropäische Botschaft in einen Film umgesetzt wird – in Budapest mit Kabos in den 30er Jahren, mit Menzel in Prag in den 60er Jahren oder mit Lubitsch, Billy Wilder und Mihály Kertész in Hollywood – die Berührung, der Geist Mitteleuropas ist derselbe.

Welcher Art ist dieses Empfinden, abgesehen davon, dass es immer mehr erfasst, tiefer dringt als die Privatsphäre? Dieser mitteleuropäische Geist birgt ein Geheimnis, und das ist die andere Art und Weise der Erfahrungen, der Vermittlung von Wissen, und des Erzählens. Es handelt sich hierbei um eine spezifische, auf ursprünglichen und reinen Gefühlen aufbauende humane Sprache, die ihren Weg findet zu den Zuschauern unterschiedlichster Mentalität und Sprachkenntnis, die etwas Gemeinsames anrührt. Diese Sprache ist so etwas, wie jene irgendeines Dorfmarktes in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Wer einen Käufer finden wollte, um seine Äpfel, Tomaten oder Kartoffeln abzusetzen, der musste sich auch mit den Ungarn, Deutschen, Slowenen oder gar Bosniaken verständigen können. Und weil auf dem Dorfplatz neben katholischer und reformierter Kirche auch die Synagoge und orthodoxes Bethaus standen, musste jeder wissen, wer wann und weshalb sensibel war. Noch mehr traf dies auf die Lehrer der Dorfschulen, die Notare oder Ärzte zu. Welch ein Wissen, welch eine Offenheit, welch eine natürliche Toleranz hat ihr Leben erfolgreich gestaltet! Somit ist es kein Wunder, dass selbst die Gründer des amerikanischen Films – wenn man es so will: Hollywoods – diesen Dörfern und Kleinstädten der Monarchie entstammen. Adolf Cukor schuf Paramount, Vilmos Fuks 20th-Century Fox, doch auch eine ganze Reihe großer Regisseure des amerikanischen Films wie Kertész, Korda, Cukor, Wilder, W. Wyler, Zinnemann, Preminger, Lubitsch sind in die Schulen der Monarchie von Triest bis Krakow, von Temeschburg bis Bratislava, von Prag oder Budapest bis Wien gegangen. Und als die Welt aufgewühlt wurde und eine erneue Welle von Angst, irgendeine auftretende Hysterie eines erneuten Minderwertigkeitskomplexes sie vertrieb, haben sie nichts weiter mit sich genommen, als jenes Wissen: wie sind die Menschen anzusprechen, die anderen Geistes sind, anders denken, einer anderen Vergangenheit und anderen Wurzeln entstammen, andere Sprachen sprechen und an etwas anderes glauben. Sie haben nichts anderes getan, als ihre Geschichten so zu erzählen, wie es ihr Vater tat, der Dorfschullehrer der Monarchie in den Schulen mit ihrer nationalen Vielfalt, ihr Vater, der Dorfarzt oder Apotheker unter den Patienten der verschiedensten Muttersprachen; oder wie es ihr Großvater tat, der Kleinbauer, der seine Äpfel auf dem multinationalen Markt verkaufte. Dieser mitteleuropäische Geist, diese menschliche Berührung – oder wie die Amerikaner heute sagen: human touch – das ist das Geheimnis. Sie gingen dorthin und stellten fest, dass ihre Zuschauer sich nach den Empfindungen der Gemeinschaft und der Gleichheit sehnten, welches sie in den Gefühlen zu finden vermochten. Das Publikum erwartet Ermutigung von ihnen, und die kann ihnen mit dem moralischen Sieg des Helden geboten werden. Doch durchwoben waren ihre Geschichten immer von der Toleranz der mitteleuropäischen Kultur. Wahrscheinlich ist es das, dessen wir inzwischen verlustig gingen inmitten der zahlreichen historischen Hiebe und politischen Wandlungen, im Überlebenskampf nach Luft ringend, tief verzweifelt und enttäuscht den Triumph von Charakterlosigkeit, Egoismus und Hochmut in unserem Mitteleuropa erlebend.

Sich berufend auf die schönsten Gefühle unserer Zukunftsvision hat man hier gemordet, dann entweder an Heimatliebe und Patriotismus oder an die Solidarität gegenüber den Hinfälligen und in trostloser Lage Lebenden appellierend, mal unsere Sehnsucht nach der Gemeinschaft ausnutzend, mal sich auf die Freiheit auf ehrliche Anschaffung für unsere Familie berufend, unsere Illusionen zerstört, Millionen ermordet. Und aus diesem Grunde häuften sich in unseren Filmen die Geschichten der Verlierer, die Verbitterung der Verlierer, ihr Hass, all das, was noch weiter in den Abgrund reißt, der Geist des Untergangs, vor dem der Zuschauer flieht und sich fürchtet wie vor dem Abbild des Teufels und dann schon nichts mehr sehen will. Er möchte die leisesten Anzeichen eines Sieges sehen, die Hoffnung aufs Überleben, den Hauch von Sicherheitsgefühl spüren. Diesen Anspruch aus dem Innersten erwartet er von uns, ebenso, dass wir mit wahren menschlichen Gefühlen sein Interesse erwecken, ihn fühlen lassen, dass diese Geschichte von ihm handelt.

Solange ihm das von uns nicht geboten wird, solange wird er sich den amerikanischen Film anschauen – die Geschichten von Gewinnern. Doch ist das bereits ein anderer amerikanischer Film. Vom großen mitteleuropäischen Geist hat man allein die Sprache der einfachen Gefühle beibehalten – Kultur und Reichtum nicht. Die Simplifizierung entspricht dem Niveau des Teenager-Publikums, denn so wird es vom Weltmarkt diktiert. Der europäische Film findet nur dann Zuschauer, wenn er erneut die Menschen berührt, was ja typisch für ihn ist, wenn er sein Publikum mit offenen und ehrlichen Gefühlen anspricht, aber auch sein ursprüngliches spezifisches Gesicht zeigt, die eigenen Werte und heimatliches Flair. Weil jedes Obst den Geschmack jenes Bodens aufweist, auf dem es gedieh.

Neben der menschlichen Berührung erwartet das global werdende Zuschauerrund noch etwas anderes – und das ist der lokale Geist, die Mentalität jenes Ortes, von dem die Botschaft ausgeht. Dieser Unterschied zwischen Bouillabaisse und Fischsuppe, zwischen Minestrone und Gemüsesuppe ist eine spürbare Erfahrung hinsichtlich des Miteinanders des Reichtums lokaler Kulturen im Rahmen einer Europa-Kultur – so wie in einem Dorfe der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.

Für die Beibehaltung dieser Kultur sind Gelegenheiten erforderlich. Von den Herstellungskosten eines ungarischen, eines portugiesischen, dänischen oder österreichischen Filmes können innerhalb eines Landes selbst im Falle eines durchschlagenden Erfolges höchstens 20–25% eingespielt werden. Ohne gemeinschaftliche Subventionen existiert keine Kultur der kleinen Länder. Leider denken die gegenwärtigen Politiker Europas nicht auf diese Art und Weise. Pragmatische Anschauungen erleichtern den aufsteigenden Ballon um alles, was im Interesse eines raschen Aufstiegs zu schwer oder überflüssig zu sein scheint. Das Fehlen dieser Kultur aber wirkt später, wenn sich der Mangel bemerkbar macht, bereits als politische Kraft und stellt sich dem gemeinsamen Geist Europas entgegen. Immer hat irgendein Mangel die Welt vorangetrieben. Nach der Integration handelt es sich beim Schicksal der Kultur kleiner Nationen um eine Kardinalfrage.

Die Tragödie des ungarischen Films ist eine traurige Sache. Während der vorangegangenen Jahrzehnte hat man den ungarischen Film den liberalisierenden Bestrebungen entsprechend als wichtig erachtet und die Kulturpolitik bedachte ihn mit Vorrechten. Und diese Vorrechte wünschte die die Repräsentation des ungarischen Films als ihre Aufgabe betrachtende Schicht um jeden Preis in jener neuen Epoche beizubehalten, da der Film in Gesellschaft und Politik bereits seiner vorrangigen Rolle verlustig ging. Im Interesse der Beibehaltung der Flughöhe stieß man also die Expertengarde der Filmbranche aus dem Ballon, Planierraupen ebneten das Terrain eines Filmstudios für den Bau einer Tankstelle ein, das ungarische Vertriebssystem und die Filmfabrik gingen zugrunde.

Das gleiche Schicksal ereilte vor 20 Jahren das Wiener Filmstudio Rosenhügel. Jetzt, da sein Fehlen unerträglich war, hat man es zurückerworben und für Milliarden neu aufgebaut. In Prag war man klüger. Man hat in Barrandov investiert, welches sich innerhalb von zwei Jahren zu einem der modernsten Studios Europas entwickelte und seither ständig ausgebucht ist. In Babelsberg wird zur Zeit eines der modernsten Computersysteme der Welt installiert. Bei uns wird daran gearbeitet, wie der bisher vom Institut des Kultusministeriums mit den Millionen der Steuerzahler erhaltene und erneuerte, einen nationalen Wert verkörpernde Filmbestand, eine Dokumentation des Jahrhunderts, durch Privatisierung erworben und dann umgehend geschickt zu Geld gemacht werden könnte. Ja, so leben wir: auf der Basis kurzfristiger Überlebensstrategien von der Türkenherrschaft an bis in die Gegenwart. Schon möglich, dass auch dies ein Bestandteil des mitteleuropäischen Geistes ist, denn wie es Menyhért Lengyel schrieb und wir es in „Ninotschka” sahen, haben im Paris der 30er Jahre drei Parteifunktionäre den russischen Kronschmuck verkauft.

Wenn ich aber konsequent bleiben will, kann ich hier nicht den Schlussstrich ziehen. Ich muss den leisesten Funken der Möglichkeit eines Sieges aufzeigen, die Hoffnung auf das Überleben.

Der Film, der erstmals in der Geschichte der Menschheit in einem lebendigen Antlitz all das festhielt, was in diesem Jahrhundert geschah, ist unwiderruflich Kunst geworden, weil er etwas zu tun vermag, wozu keine andere Kunst fähig ist: die vor unseren Augen geborenen und sich wandelnden Gefühlsregungen und Gedanken auf dem Antlitz des lebendigen Menschen zu zeigen, im veränderlichen Licht des Anblicks. Dazu ist einzig und allein der Film in der Lage. Darüber hinaus enthüllt er Leere, Routine, Lüge, weil das Publikum in Tonfall und im nicht offenen Blick den Betrug bemerkt. Wie oft haben wir während des Fernsehens das Gefühl: der Sprecher verschweigt etwas, verdreht die Angelegenheit.

Da können neue Techniken kommen, interaktive Geschichten, zur Selbstbedienung vorbereitete Wenden in der Geschichte – menschliche Eifersucht, Neid, Liebe und Hass bleiben so, wie sie sind. Den Menschen interessiert allein, wie man in seiner Zeit damit leben kann. Mit anderen Worten, wie wir leben sollten. Darüber kann nur in einfachen und klaren Geschichten berichtet werden. Stellen Sie sich vor, dass der Zuschauer in einer interaktiven Welt zu entscheiden hat, wie die biblische Geschichte heute fortzusetzen sei: wer soll heute der Mörder sein – Kain oder Abel? Soll Abraham Isaac opfern oder aufgrund der Abstimmung der Zuschauer Isaac den Abraham?...